: Aufhebung von Teil-Einspruchsentscheiden mit einkommensteuerlichen Vorläufigkeitsvermerken
Niedersächsisches Finanzgericht
Urteil
vom
12.12.2007
Az.: 7 K 249/07
Orientierungssatz: | Einkommensteuer 2005 |
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Revision zugelassen, Az. des BFH liegt noch nicht vor. |
Tatbestand
Streitig ist insbesondere, ob der Erlass eines Teil-Einspruchsbescheids ermessensfehlerfrei und sachdienlich ist sowie ob in diesem Zusammenhang Grund und Umfang der Vorläufigkeit einer Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2005 hinreichend deutlich angegeben worden sind und ob die Ablehnung des vollumfänglichen Ruhen des Einspruchsverfahrens rechtmäßig ist.
Der Kläger legte gegen den Einkommensteuerbescheid 2005 vom 26. April 2007 wegen des Vorläufigkeitsvermerks mit Schreiben vom 15. Mai 2007 Einspruch ein und bat darum, das Verfahren wegen der Vielzahl anhängiger Gerichtsverfahren ruhen zu lassen. Der angefochtene Einkommensteuerbescheid enthält zur Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung folgende Textpassagen:
Auf Seite 1: „Der Bescheid ist nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufig, soweit dies im Erläuterungsteil ausgeführt ist."
Auf Seite 2: „Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich
- - der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG)
- - der Anwendung der durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 vom 29. Dezember 2003 (BGBl. I S. 3076, 2004 I S. 69) geänderten Vorschriften
- - der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in der Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages
Die Festsetzung des Solidaritätszuschlags ist gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlagsgesetzes 1995.
Die Vorläufigkeitserklärung erfasst nur die Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind. Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt aus verfahrenstechnischen Gründen und ist nicht dahin zu verstehen, dass die Regelungen als verfassungswidrig oder als gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht verstoßend angesehen werden. Änderungen dieser Regelungen werden von Amts wegen berücksichtigt; ein Einspruch ist insoweit nicht erforderlich."
Im Einspruchsverfahren führte der Kläger im Wesentlichen Folgendes aus:
Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31. Mai 2006 (BStBl. II 2006, 858 ff., 861) sei der Steuerpflichtige gehalten, zur Klärung der Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks Einspruch einzulegen. Die Einspruchseinlegung sei hier geboten gewesen, weil die Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks unklar sei. Denn der Vorläufigkeitsvermerk beziehe sich auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Steuerfestsetzung am Europäischen Gerichtshof (EuGH), am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder einem obersten Bundesgericht anhängigen Verfahren. Im Vorläufigkeitsvermerk werde aber nicht erwähnt, um welche konkreten Verfahren und um welche konkreten Rechtsfragen es sich handele. Oft sei unklar, ob die in einem anhängigen Verfahren angesprochene Rechtsfrage vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst werde und ob es bei den in den anhängigen Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen um die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht gehe oder um einfach-gesetzliche Auslegungsfragen. Zu diesen Punkten bestünden unterschiedliche Auffassungen. Selbst bei großem Zeitaufwand sei es nicht möglich, eindeutig und sicher festzustellen, auf welche anhängigen Gerichtsverfahren und konkreten Rechtsfragen sich die einzelnen Punkte des Vorläufigkeitsvermerks im angefochtenen Einkommensteuerbescheid bezögen. Deshalb werde mit dem Einspruch geltend gemacht, dem Einspruchsführer (Kläger) die vom Vorläufigkeitsvermerk des angefochtenen Bescheids erfassten Gerichtsverfahren und Rechtsfragen mitzuteilen, damit die Reichweite des Vorläufigkeitsvermerks klar und eindeutig feststehe. In diesem Zusammenhang sei auch zu bedenken, dass die Entscheidung eines Gerichtes niemals mit Sicherheit vorhergesehen werden könne. Auch wenn zunächst davon ausgegangen werden könne, dass es in einem bestimmten am obersten Bundesgericht anhängigen Verfahren um die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht gehen werde, so dass dieses Verfahren zunächst vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst sei, könne das Gericht später durch bloße Auslegung der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmung zu einer verfassungskonformen Entscheidung kommen, so dass es auf die Frage der Verfassungswidrigkeit der Norm nicht mehr ankomme. Es sei davon auszugehen, dass die obersten Gerichte bei den dort anhängigen Verfahren, die vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst seien, in ihren Entscheidungen nicht auf eine Unvereinbarkeit des Steuergesetzes mit höherrangigem Recht abstellen würden, sondern dass es zu einer Entscheidung zugunsten der Steuerpflichtigen durch verfassungskonforme, einfach-gesetzliche Auslegung der Norm kommen werde. Dies deshalb, weil eine Norm nur im Ausnahmefall verfassungswidrig sei, und zwar dann, wenn nicht in irgendeiner Weise eine verfassungskonforme Auslegung erfolgen könne.
Auch im Hinblick auf das BFH-Verfahren mit dem Az. X R 9/07 (zur Abzugsfähigkeit der Rentenversicherungsbeiträge als beschränkt abzugsfähige Sonderausgaben oder als unbeschränkt abzugsfähige vorweggenommene Werbungskosten) habe das Einspruchs-verfahren zu ruhen.
Bei den Verfahren an den obersten Gerichten, die dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde lägen, handele es sich um Musterverfahren. Üblicherweise lege ein Steuerpflichtiger, wenn ein Musterverfahren bereits bei Gericht anhängig sei, Einspruch gegen den ihn betreffenden Bescheid ein. Das Finanzamt ordne dann das Ruhen des Verfahrens an bis zur Entscheidung des Musterverfahrens, weil es ineffektiv sei, in zahlreichen Parallelverfahren das Einspruchs- und Klageverfahren durchzuführen. Da in den Fällen von Musterverfahren Masseneinsprüche und der damit verbundene Arbeitsaufwand bei der Finanzverwaltung vermieden werden sollten, würden in die Steuerbescheide Vorläufigkeitsvermerke aufgenommen. Diese Vorläufigkeitsvermerke böten dem Steuerpflichtigen jedoch nicht den gleichen Rechtsschutz wie ein Einspruch. Denn solange ein Einspruchsverfahren laufe, sei der Steuerbescheid offen und der Steuerpflichtige könne sich beispielsweise auf alle in dieser Zeit verkündeten Urteile, die für ihn günstig seien, berufen. Dagegen halte der Vorläufigkeitsvermerk den Steuerbescheid nur sehr eingeschränkt offen, eben nur für Fälle des gerichtlich festgestellten Verstoßes einer Norm gegen höherrangiges Recht. Der Vorläufigkeitsvermerk böte also erheblich schlechteren Rechtsschutz als ein Einspruch. Es liege kein nachvollziehbarer Grund vor, Steuerpflichtigen, die sich auf Musterverfahren an obersten Gerichten beriefen, bei denen Masseneinsprüche drohten oder erfolgten, einen geringeren Rechtsschutz zu gewähren als Steuerpflichtigen, die sich auf ein Musterverfahren beriefen, bei dem keine Masseneinsprüche zu erwarten seien. Kein Grund für eine Ungleichbehandlung sei, dass Masseneinspruchsverfahren zu einem großen Arbeitsaufwand in der Finanzverwaltung führten, der vermieden werden müsse. Wenn beispielsweise der Steuerpflichtige bereits im Steuerbescheid darauf hingewiesen werde, dass dieser bis zur Entscheidung bestimmter oberster Gerichte offen sei, entstünde kein größerer Verwaltungsaufwand als durch die Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken in Steuerbescheide und alle Steuerpflichtigen würden gleich behandelt. Da es nicht in den Verantwortungsbereich der Steuerpflichtigen falle, dass immer mehr Steuergesetze erlassen würden, die verfassungswidrig seien oder die nur aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung bestehen bleiben könnten, sei es nicht gerechtfertigt, die Rechte der Steuerpflichtigen deshalb einzuschränken, weil sie immer häufiger Einspruch einlegten. Ergänzend berufe man sich auf alle dem Vorläufigkeitsvermerk zugrunde liegenden Musterverfahren und verlange insoweit das Ruhen des Verfahrens. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, regelmäßig das Verfahren ruhen zu lassen, wenn Musterverfahren bei Gericht anhängig seien, die nur eine geringe Anzahl von Steuerpflichtigen beträfen, aber ein Ruhen des Verfahrens abzulehnen, wenn es sich um Verfahren an obersten Gerichten handele, deren Ausgang für eine Vielzahl von Steuerpflichtigen von Bedeutung sei.
Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos. Es wurde mit einer Teil-Einspruchsentscheidung vom 12. Juli 2007 einstweilen abgeschlossen. Auf Seite 1 des Teil-Einspruchsbescheids (unter „Entscheidung") steht:
„Der Einspruch wird, soweit hierdurch über ihn entschieden wird, als unbegründet zurückgewiesen.
Über folgenden Teil des Einspruchs wird nicht entschieden: Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG; beim BFH anhängiges Verfahren X R 9/07.
Der Bescheid ist weiterhin vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 AO, soweit dies im Erläuterungstext des angefochtenen Bescheids ausgeführt ist."
Auf Seite 6 des Teil-Einspruchsbescheids (am Ende) steht:
„Soweit die Steuerfestsetzung auf dem nicht entschiedenen Teil beruht, ruht das Verfahren weiterhin gemäß § 363 Abs. 2 AO. Nur insoweit tritt durch diese Entscheidung keine Bestandskraft ein (§ 367 Abs. 2a Satz 2 AO)."
Das beklagte Finanzamt begründete seinen Teil-Einspruchsbescheid im Wesentlichen wie folgt:
Wegen der (angeblich) ungeklärten Reichweite der in dem angefochtenen Steuerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerke sei der Einspruch entscheidungsreif, damit sei eine Teil-Einspruchsentscheidung im Sinne des § 367 Abs. 2a AO gerechtfertigt. Der rechtliche und zeitliche Umfang eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO sei seit dem Urteil des BFH vom 31. Mai 2006 (X R 9/05, BStBl. II 2006, 858) geklärt. Danach sei allein die Nennung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO ausreichend. Genau diesen Hinweis enthalte der Vorläufigkeitsvermerk in dem angefochtenen Bescheid. Die Vorläufigkeit beschränke sich laut BFH-Urteil vom 31. Mai 2006 (a.a.O.) nur dann auf solche Verfahren, die bereits im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung beim EuGH, beim BVerfG, beim BFH oder bei einem anderen obersten Bundesgericht anhängig seien, wenn die Steuer „im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren" vorläufig festgesetzt worden sei. Der angefochtene Bescheid enthalte eine solche Einschränkung der Vorläufigkeit nicht. Der Einwand des Verstoßes gegen die Begründungspflicht, weil die Vorläufigkeitsvermerke nicht in eine sachliche und rechtliche Verbindung zu genau bezeichneten Verfahren im Sinne des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gebracht würden, gehe damit ins Leere. Der Vorläufigkeitsvermerk entspreche den Grundsätzen des BFH-Urteils vom 31. Mai 2006 (a.a.O.). Die Reichweite einer Vorläufigkeit sei dem dafür im Bescheid angeführten Grund zu entnehmen oder aus sonstigen Umständen im Wege der Auslegung zu ermitteln. Nach diesen Grundsätzen seien die Vorläufigkeitsvermerke in dem angefochtenen Bescheid nicht zu beanstanden, denn sowohl Grund als auch Umfang der Vorläufigkeit seien in den Erläuterungen zum Bescheid angegeben. Für ein Ruhen des Verfahrens aus - hier allein in Betracht kommenden - Zweckmäßigkeitsgründen (§ 363 Abs. 2 Satz 1 AO) bestehe bei dieser klaren Rechtslage keine Veranlassung.
Der Kläger erhebt Klage, vertieft sein Vorbringen und trägt zusätzlich vor:
Der Umfang der Vorläufigkeitsvermerke sei unklar, deshalb seien die Vorläufigkeitsvermerke nichtig. Die Unklarheit der Vorläufigkeitsvermerke bestehe bereits darin, dass Uneinigkeit zwischen den Prozessparteien darüber bestehe, ob lediglich die bereits bei allen obersten Gerichten anhängigen Verfahren von den Vorläufigkeitsvermerken erfasst würden oder auch später dort anhängig gemachte Verfahren. Da die Finanzverwaltung möglichst rasch zu bestandskräftigen Bescheiden kommen wolle, sei es unwahrscheinlich, dass das Bundesministerium der Finanzen (BMF) über die bereits bei Erlass des Bescheids an den obersten Gerichten anhängigen Verfahren hinaus den Ausgang weiterer Verfahren abwarten wolle. Das BMF werde eher der Auffassung sein, dass der Vorläufigkeitsvermerk in einem Bescheid keine Wirkung entfalte, wenn in den dem Vermerk zugrunde liegenden bereits anhängigen Verfahren an den obersten Gerichten keine Verfassungswidrigkeit von Gesetzen festgestellt werde, weil wahrscheinlich nur diese Verfahren den Vorläufigkeitsvermerk „rechtfertigen" würden.
Aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks sei der Bescheid nur dann offen, wenn das oberste Bundesgericht seine Entscheidung tatsächlich mit der Verfassungswidrigkeit einer Norm begründe, nicht aber, wenn es beispielsweise durch einfach-gesetzliche Auslegung zugunsten des Steuerpflichtigen entscheide. Der Umfang eines Vorläufigkeitsvermerks sei also von einem Umstand abhängig, der bei der Prüfung des Bescheides von niemandem vorhersehbar sei, nämlich davon, wie das oberste Bundesgericht seine Entscheidung begründen werde. Ein nichtiger Vorläufigkeitsvermerk entfalte keine Wirkung. Bei einem nichtigem Vorläufigkeitsvermerk werde ein Offenhalten des Bescheids nur durch das Ruhenlassen des Verfahrens aufgrund des eingelegten Einspruchs erreicht.
Wegen der Nichtigkeit der Vorläufigkeitsvermerke sei auch von der Nichtigkeit des Steuerbescheids auszugehen. Denn die Vorläufigkeitsvermerke dienten dazu, Masseneinspruchsverfahren zu vermeiden und das beklagte Finanzamt hätte den Steuerbescheid ohne Vorläufigkeitsvermerk nicht erlassen, weil es nicht nur eine Steuer hätte festsetzen, sondern auch einen Einspruch wegen bestimmter ungeklärter Rechtsfragen gegen diese Steuerfestsetzung hätte vermeiden wollen. Wie wesentlich die Vorläufigkeitsvermerke seien, zeige sich daran, dass diese in nahezu allen Steuerbescheiden enthalten seien. Dass der Vorläufigkeitsvermerk für die Finanzverwaltung von größter Bedeutung sei, zeige sich auch an dem Verwaltungsaufwand, den sie im Zusammenhang mit diesen Vermerken betreibe. Immer wieder erfolgten Abstimmungen der obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder, neue Vorläufigkeitskataloge mit Erläuterungen für die Finanzverwaltung würden herausgegeben und es erfolgten Stellungnahmen gegenüber Dritten, wie beispielsweise der Bundessteuerberaterkammer. Klägerseits bestehe der Eindruck, dass eine Vielzahl von Bediensteten in der Finanzverwaltung nur mit Abstimmungsarbeiten, Erläuterungen und Stellungnahmen befasst seien.
Es sei auch noch Folgendes zu bedenken: Wenn zusätzlich zu einem Vorläufigkeitsvermerk eine Einspruchseinlegung erforderlich sei, um Rechtsschutz für den Fall der einfach-gesetzlichen verfassungskonformen Auslegung zu haben, sei der Vorläufigkeitsvermerk überflüssig, weil gleich Einspruch eingelegt werden könne. Die Steuerpflichtigen, die keinen Einspruch einlegten, die also darauf vertrauten, dass der Vorläufigkeitsvermerk sinnvoll sei und tatsächlich den Einspruch ersetze, würden nicht erkennen, dass der Vorläufigkeitsvermerk nur begrenzten Rechtsschutz gebe. Diesen Steuerpflichtigen könne nicht vorgeworfen werden, dass sie sich hinsichtlich des Umfangs des Vorläufigkeitsvermerks hätten kundig machen können und müssen, weil es sich um steuerliche Laien handele, die nicht auf den Gedanken kämen, dass der Vorläufigkeitsvermerk zwar Masseneinsprüche vermeiden solle, aber eine Einspruchseinlegung nicht entbehrlich mache, er also letztlich nur dazu diene, sie von der notwendigen Einspruchseinlegung abzuhalten.
Außerdem trete Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO ein, wenn wegen Rechtsfragen Verfahren an den obersten Gerichten anhängig seien und der Einspruch hierauf gestützt werde. Bereits aus dem Wortlaut der Vorläufigkeitsvermerke ergebe sich, dass der Kläger, wenn er an der Entscheidung eines obersten Gerichtes teilhaben wolle, die nicht mit der Verfassungswidrigkeit einer Norm begründet werde, Einspruch einlegen müsse, um auch insoweit den Bescheid offen zu halten. So sei es beispielsweise möglich, § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages durch einfach-gesetzliche Auslegung analog auf alle Steuerpflichtigen auszudehnen, weil eine Analogie zugunsten der Steuerpflichtigen gestattet sei. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, weshalb der Kläger nur dann an der Entscheidung eines obersten Bundesgerichtes teilhaben solle, wenn dieses seine Entscheidung mit der Verfassungswidrigkeit einer Norm begründe, nicht aber dann, wenn es mit einer anderen Begründung zum selben Ergebnis komme. Der Einspruchsbescheid sei nach § 363 Abs. 3 AO rechtswidrig, wenn ein Antrag auf Ruhen des Verfahrens abgelehnt werde. Dies müsse erst recht für den vorliegenden Fall gelten, in dem die gesetzlich angeordnete Zwangsruhe vom beklagten Finanzamt nicht beachtet worden sei.
Im Übrigen wird von der Klägerseite ergänzend vorgetragen, dass das Jahressteuergesetz 2007, das die neuen gesetzlichen Regelungen zur Teil-Einspruchsentscheidung enthält, verfassungswidrig sei, weil das Gesetzgebungsverfahren nicht ordnungsgemäß abgelaufen sei. Daneben werden Vorschläge zur Abwicklung von Masseneinspruchsverfahren gemacht.
In der mündlichen Verhandlung betonen die Vertreter des Klägers: Die Masseneinspruchs-verfahren würden die Steuerberater ungleich mehr als die Finanzverwaltung belasten. Es müssten nicht nur die Einsprüche eingelegt und begründet werden, sondern zuvor müssten auch Gespräche mit den Mandanten erfolgen, da diese entsprechende Vollmachten erteilen müssten. Es sei mühsam, den Steuerpflichtigen zu erklären, dass auch bei einem Vorläufigkeitsvermerk im Einkommensteuerbescheid die Rechte nicht umfassend gewahrt seien. Man müsse zeitaufwändig erklären, dass man nicht aus Gebührenschinderei Einspruch einlegen wolle. Vielmehr geschähe dies auch aus Haftungsgründen. Insgesamt führe das Ganze zu einem Verlustgeschäft.
Der Kläger beantragt,
1. die Nichtigkeit des Bescheides über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Kalenderjahr 2005 vom 26. April 2007 und des Teil-Einspruchsbescheides vom 12. Juli 2007 festzustellen,
hilfsweise,
2. den Bescheid über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Kalenderjahr 2005 vom 26. April 2007 in der Gestalt des Teil-Einspruchsbescheides vom 12. Juli 2007 aufzuheben,
weiter hilfsweise,
3. den Teil-Einspruchsbescheid vom 12. Juli 2007 aufzuheben.
Das beklagte Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält an seiner Rechtsauffassung fest. Daneben bekundet es nachhaltig Interesse, Masseneinspruchsverfahren möglichst zu vermeiden bzw. rasch zu beenden. Man sei auch durch die Teil-Einspruchsentscheidungen überlastet. Hinsichtlich der Frage des ordnungsgemäßen Zustandekommens des Jahressteuergesetzes 2007 einschließlich der Neuregelung des § 367 Abs. 2a AO weist es auf §§ 81, 84 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags hin.
Wegen des weitergehenden Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll vom 12. Dezember 2007.
Das Gericht hat die Akte des ähnlich gelagerten Klageverfahrens mit dem Aktenzeichen 2 K 322/07 des Niedersächsischen Finanzgerichts (NFG) zum Verfahren beigezogen. Dem Gericht haben zudem die für den Kläger bei dem beklagten Finanzamt geführten Einkommensteuerakten unter der Steuernummer XX/XXX/XXXXX vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat teilweise Erfolg.
Denn der angefochtene Teil-Einspruchsbescheid ist aus mehreren Gründen aufzuheben (dazu 1.). Im Übrigen ist die Reichweite der einzelnen Punkte des Vorläufigkeitsvermerks im angefochtenen Bescheid über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Kalenderjahr 2005 nicht hinreichend bestimmt; entsprechend ist der angefochtene Steuerbescheid bezüglich der Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks zu ändern (dazu 2.). Allerdings ist der Bescheid über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag 2005 nicht nichtig (dazu 3.).
- 1. Teil-Einspruchsbescheid ist rechtswidrig und wird aufgehoben
a) Wird - wie hier - mit dem Teil-Einspruchsbescheid ein vorgerichtlicher Antrag auf (uneingeschränktes) Ruhen des Verfahrens abgelehnt, kann die Rechtswidrigkeit der Ablehnung nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden (vgl. § 363 Abs. 3 AO).
Nach dem durch das Jahressteuergesetz 2007 (vgl. BGBl. I 2006, 2903) eingeführten Absatz 2a des § 367 AO kann die Finanzbehörde vorab über Teile des Einspruchs entscheiden, wenn dies sachdienlich ist; sie hat in dieser Entscheidung zu bestimmen, hinsichtlich welcher Teile Bestandskraft nicht eintreten soll.
Diese Neuregelung wird in den Gesetzesmaterialien wie folgt begründet (vgl. Bundestags-Drucksache vom 9. November 2006, Nr. 16/3368, 25):
„Der neue Absatz 2a soll es den Finanzbehörden ermöglichen, in einem förmlichen Einspruchsverfahren zunächst nur über Teile des Einspruchs zu befinden. Dies ist insbesondere sinnvoll, wenn ein Teil des Einspruchs entscheidungsreif ist, während über einen anderen Teil des Einspruchs zunächst nicht entschieden werden sollte, weil beispielsweise eine vom Einspruchsführer aufgeworfene Rechtsfrage Gegenstand eines beim Bundesfinanzhof anhängigen Verfahrens ist und nach einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs eine einvernehmliche Erledigung des Rechtsstreits erwartet werden kann. Die Regelung ermöglicht es, dass der Steuerpflichtige hinsichtlich des entscheidungsreifen Teils seines Einspruchsbegehrens ggf. schnelleren gerichtlichen Rechtsschutz erlangen kann. Es liegt sowohl im Interesse des Steuerpflichtigen als auch im Interesse der Finanzverwaltung, wenn über entscheidungsreife Teile zeitnah entschieden wird und nicht ggf. erst nach Ablauf mehrerer Jahre, wenn möglicherweise längst überholte rechtliche Vorschriften anzuwenden wären und erforderliche Nachweise ggf. nicht mehr beigebracht werden können. Durch eine Verpflichtung der Finanzbehörde, in der Teil-Einspruchsentscheidung ausdrücklich zu bestimmen, hinsichtlich welcher Teile Bestandskraft nicht eintreten soll, wird Klarheit darüber geschaffen, inwieweit der Steuerfall ‚offen‘ bleibt.
Ob die Finanzbehörde von der Möglichkeit einer Teil-Einspruchsentscheidung Gebrauch macht, steht in Ihrem Ermessen. Der Erlass einer Teil-Einspruchsentscheidung muss aber sachdienlich sein.
Der Erlass einer Teil-Einspruchsentscheidung hat nicht zur Folge, dass stets noch eine förmliche End-Einspruchsentscheidung ergehen muss. Das Einspruchsverfahren kann beispielsweise auch dadurch abgeschlossen werden, dass die Finanzbehörde dem Einspruch hinsichtlich der zunächst ‚offen‘ gebliebenen Frage abhilft, der Steuerpflichtige seinen Einspruch zurücknimmt oder eine Allgemeinverfügung nach dem neuen Absatz 2b ergeht.
Wird die wirksam ergangene Teil-Einspruchsentscheidung bestandskräftig, kann im weiteren Verfahren über den noch ‚offenen‘ Teil der angefochtenen Steuerfestsetzung nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, die in der Teil-Einspruchsentscheidung vertretene Rechtsauffassung entspreche nicht dem Gesetz. Dies ist auch in einem eventuellen Klageverfahren gegen eine End-Einspruchsendscheidung zu beachten."
Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 367 Abs. 2a AO will der Gesetzgeber den effektiven Rechtsschutz des Steuerbürgers, der nach Art. 19 Abs. 4 GG garantiert ist (dazu BVerfG-Beschluss vom 29. Oktober 1975 2 BvR 630/73, BVerfGE 40, 272; BStBl. II 1976, 271) nicht mindern, sondern ausdrücklich fördern („schnellerer gerichtlicher Rechtschutz"). Zwar hat der Steuerpflichtige, der einen Einspruch eingelegt hat, grundsätzlich keinen Rechtsanspruch darauf, dass möglichst lange nicht über seinen Einspruch entschieden wird, um dann eventuell von vielen Entwicklungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung profitieren zu können. Ist allerdings wegen der Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm oder wegen einer Rechtsfrage ein Verfahren beim EuGH, beim BVerfG oder bei einem obersten Bundesgericht anhängig und wird der Einspruch hierauf gestützt, ruht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO das Einspruchsverfahren insoweit (gesetzliche Verfahrensruhe; sogenannte Zwangsruhe). Die Zwangsruhe gilt nur dann (ggf. ausschnittsweise) nicht, „soweit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO die Steuer vorläufig festgesetzt wurde" (so § 363 Abs. 2 Satz 2 am Ende AO).
Das BMF schreibt mit seiner Änderung des Anwendungserlasses zur AO vom 12. Juli 2007 (BStBl. I 2007, 530) zur Teil-Einspruchsentscheidung unter Punkt 6.2 Folgendes vor: „Um neuen Masseneinsprüchen entgegenzuwirken, soll daher in Fällen, in denen mit dem Einspruch ausschließlich das Ziel verfolgt wird, im Hinblick auf anhängige Gerichtsverfahren mit Breitenwirkung den angefochtenen Verwaltungsakt nicht bestandskräftig werden zu lassen, möglichst zeitnah von der Möglichkeit der Teil-Einspruchsentscheidung Gebrauch gemacht werden, soweit nicht durch die Beifügung eines Vorläufigkeitsvermerks gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Einspruch erledigt werden kann."
Der erkennende Senat interpretiert dagegen den neuen § 367 Abs. 2a AO und die einschlägigen Gesetzesmaterialien so, dass Teil-Einspruchsbescheide nicht eingesetzt werden dürfen, um zu verhindern, dass Steuerpflichtige in Einspruchsverfahren womöglich weitere Rechtsschutzbegehren nachträglich vortragen. Er dient vielmehr - entsprechend dem aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleiteten Gebot rechtsschutzgewährender Auslegung von Verfahrensvorschriften (vgl. BFH-Urteil vom 18. April 2007 XI R 47/05, BFHE 217, 18, BStBl. II 2007, 736, 737; BVerfG-Beschluss vom 29. Oktober 1975 2 BvR 630/73, BVerfGE 40, 272, BStBl. II 1976, 271) - dazu, (nur) über den entscheidungsreifen Teil des Einspruchs zu entscheiden und dies auch nur dann, wenn es sachdienlich ist. Dies hat trotz des steten Anstiegs der Rechtsbehelfsverfahren (etwa 3,5 Millionen Einsprüche im Jahr 2004, rund 5,9 Millionen Einsprüche im Jahr 2006 - vgl. Hagen, NWB Nr. 44 vom 29. Oktober 2007, 3859, 3858) zu gelten. Denn die Kompliziertheit und Streitanfälligkeit des Steuerrechts liegt nicht im Verantwortungsbereich des Steuerpflichtigen, sondern des Gesetzgebers (dazu Tipke in Brandt (Hrsg.), Deutscher Finanzgerichtstag 2007: Mitverantwortung von Bürger und Staat für ein gerechtes Steuerrecht, 21, 36 f.; ferner Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuer-Wirrwarr!?, Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik, mit dem Kapitel: "Über die Durchsetzung der Steuerrechtsordnung mit Hilfe der Gerichte", 2006, 192 ff.).
b) Nach den dargestellten Rechtsgrundsätzen ist der angefochtene Teil-Einspruchsbescheid - eine Ermessensentscheidung des beklagten Finanzamts - aus mehreren Gründen aufzuheben. Der Teil-Einspruchsbescheid genügt insgesamt nicht den in § 5 AO normierten allgemeinen Anforderungen, das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten.
Soweit die Finanzverwaltung ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu entscheiden, überprüfen die Steuergerichte, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. § 102 FGO). Sind - wie hier von der Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover - Ermessensvorgaben in Form von in den Steuerbescheiden ständig verwendeten Textbausteinen an die Finanzämter herausgegeben worden, überprüfen die Steuergerichte, ob sich die Behörde an die Vorgabe gehalten hat, ob die herausgegebenen Ermessensvorgaben die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten und ob damit von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wird. Denn die Verwaltung ist in geeigneten Fällen zwar zum Erlass von Verwaltungsvorschriften berechtigt, die das Ermessen der nachgeordneten Behörden lenken und binden (dazu BFH-Urteil vom 11. April 2006 VI R 64/02, BFHE 213, 268, BStBl. II 2006, 642 mit weiteren Nachweisen). Dabei können die Finanzbehörden in ihren Ermessensvorgaben auch Voraussetzungen aufnehmen, die im Gesetz selbst nicht genannt sind. Diese zusätzlichen Voraussetzungen müssen allerdings einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen. Denn auch die Vorgaben müssen sich in den Grenzen halten, die das Grundgesetz und die einfachen Gesetze der Ausübung des Ermessens setzen (ausführlich dazu BFH-Urteil vom 11. April 2006, a.a.O.).
Das beklagte Finanzamt hat sich mit seinem Teil-Einspruchsbescheid offensichtlich an die Vorgaben der OFD Hannover gehalten. Die Vorgaben der OFD Hannover selbst halten hingegen die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht ein und machen von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch.
aa) Es ist nicht sachdienlich im Sinne des § 367 Abs. 2a AO, wenn die Finanzverwaltung über einen Einspruch, der insgesamt die vorläufige Steuerfestsetzung betrifft, zum Teil endgültig entscheiden will. Die Finanzverwaltung handelt dem Gesetzeszweck des § 367 Abs. 2a AO zuwider. Denn die Gesetzesbegründung zur Regelung über die Teil-Einspruchsentscheidung geht von der Teilbarkeit des Einspruchs aus. Sie stellt nämlich ausdrücklich dem „entscheidungsreifen" Teil des Einspruchs, also dem Teil des Einspruchs, bei dem eine Teil-Entscheidung sachdienlich wäre (beispielsweise Streit über den hinreichenden Nachweis von Werbungskosten oder Betriebsausgaben; weitere Beispiele bei Schneider, SteuerConsultant 12/2007, 29, 30), den nicht entscheidungsreifen Teil des Einspruchs gegenüber, bei dem zunächst eine hochrangige gerichtliche Entscheidung, etwa eine des BFH, abgewartet werden soll (ähnliche Konstellation wie beim Teil-Urteil, vgl. § 98 FGO). Ein abtrennbarer (entscheidungsreifer) Teil des Einspruchs, bei dem es im Interesse der Klägerseite liegen könnte, „schnelleren gerichtlichen Rechtsschutz" im Sinne des Gesetzeszweckes zu erlangen, liegt hier nicht vor. Denn der Kläger hat vorgerichtlich geltend gemacht, dass der durch den Vorläufigkeitsvermerk begrenzte Rechtsschutz nicht ausreiche und der Einspruch im Hinblick auf die denkbare einfach-gesetzliche verfassungskonforme Auslegung eingelegt wurde. Das beklagte Finanzamt hat keine erkennbaren Ermessenserwägungen dahingehend angestellt bzw. dargelegt, warum das mit der denkbaren verfassungskonformen Auslegung begründete Einspruchsvorbringen entscheidungsreif sei und warum es sachdienlich sei, das Verfahren nicht ruhen zu lassen (vgl. auch Bergan/Martin, DStR 2007, 1384, 1387 f.).
Zum besseren Verständnis weist der erkennende Senat auf zwei einfach-rechtliche Falllösungen durch Bundesgerichte hin, die nicht von einem bloßen Vorläufigkeitsvermerk erfasst waren. So hat das BVerfG am 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, ZSteu 2005, R-415) zum Abzug der Sozialversicherungsbeiträge bei der Grenzbetragsberechnung des Kindergeldes entgegen überwiegend bestehender Erwartungen § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht für verfassungswidrig (oder für verfassungsgemäß) erklärt, sondern im Rahmen einer verfassungskonformen (= einfach-rechtlichen) Auslegung entschieden, dass die Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen sind. Durch diese höchstrichterliche Rechtsprechung wurden nur die Bürger begünstigt, die ihre Kindergeld- und/oder Einkommensteuerfestsetzungsverfahren durch Einspruch offen gehalten hatten (dazu Kanzler, FamRZ 2003, 1886; Geckle/Schneider, INF 2005, 495; Hidien/Anzinger, FR 2005, 1016; Seer/Wendt, NJW 2006, 1). Ebenso führte die geänderte Rechtsprechung des BFH zur Kürzung des Sonderausgaben-Vorwegabzugs bei Gesellschafter-Geschäftsführern nicht zur Änderung anderer Einkommensteuerbescheide trotz bestehender Vorläufigkeit hinsichtlich des Vorwegabzuges, denn: „Eine vorläufige Festsetzung hinsichtlich ungeklärter Rechtsfragen des einfachen Rechts sieht § 165 Abs. 1 AO 1977 nicht vor. Die - mittlerweile vom erkennenden Senat im vorläufigen Verfahren entschiedene (vgl. Beschluss vom 14. April 2003 XI B 226/02, BFHE 202, 294, BStBl. II 2003, 708) - Rechtsfrage, ob bei einer Zusammenveranlagung auch der von einem Gesellschafter-Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung bezogene Arbeitslohn zur Kürzung des Vorwegabzugs führt, wenn dieser weder der gesetzlichen Sozialversicherungspflicht unterliegt noch anderweitig Anwartschaftsrechte auf eine Pension erwirbt (§ 10c Abs. 3 Nr. 1 und 2 EStG), betrifft die Anwendung und Auslegung einfachen Rechts", so BFH-Urteil vom 26. Februar 2004 XI R 50/03, BFH/NV 2004, 1064, 1065.
bb) Unter Beachtung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, der im Einzelfall wegen anhängiger (auch wegen einfach-rechtlicher) hochrangiger gerichtlicher Verfahren das Ruhen des Einspruchsverfahrens gebietet (Zwangsruhe), träte das Gegenteil von effektivem Steuer-Rechtsschutz ein, wenn die Finanzverwaltung durch die Herausgabe von Teil-Einspruchsbescheiden einfach-rechtliche Einwendungen, nur weil diese auch in vielen anderen Verfahren vorgetragen werden, abschneiden dürfte. Zwar hat der Kläger vorgerichtlich allein bei den Rentenversicherungsbeiträgen ausdrücklich auch einfach-rechtliche Einwendungen (Beiträge als vollabzugsfähige Werbungskosten) geltend gemacht, dem das beklagte Finanzamt durch das „Ruhen des Einspruchsverfahrens insoweit" nachgekommen ist. Der Kläger hat aber bezüglich der anderen Punkte des Vorläufigkeitsvermerks neben verfassungsrechtlichen Einwendungen konkludent geltend gemacht, dass ihm auch einfach-rechtlich (etwa durch eine verfassungskonforme Gesetzesauslegung durch das BVerfG) höhere Abzugsbeträge zustehen könnten. Ein entscheidungsreifer Teil des Einspruchs, hinsichtlich dessen es im Interesse des Steuerpflichtigen sachdienlich sein konnte, über den Einspruch zu entscheiden, lag somit nicht vor.
Dem entspricht es, dass die Einspruchsentscheidung nicht positiv benennt, über welchen entscheidungsreifen Teil des Einspruchs (aus welchen sachdienlichen Gründen), über welchen konkreten Betrag (vgl. § 157 Abs. 2 AO), entschieden wird, sondern nur negativ formuliert, über welchen Teil nicht entschieden wurde. Bereits die Formulierung des Tenors im Teil-Einspruchsbescheid zeigt, dass diese Entscheidung nicht dem Gesetzeszweck entspricht.
cc) Das beklagte Finanzamt handelt auch deshalb ermessensfehlerhaft, weil es das vorgerichtliche Argument des Klägers, in „normalen" Streitigkeiten lasse es das Einspruchsverfahren im Hinblick auf anhängige Verfahren beim BFH ruhen, nur hier im Massenverfahren nicht und dadurch sei der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt, in der Begründung des Teil-Einspruchsbescheids nicht aufgreift und würdigt.
Der Senat merkt an, dass die in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Arbeitsüberlastung nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (zu Fristwahrungen, zur Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand bei steuerlicher Beratung), keinen hinreichender Grund darstellt, Verpflichtungen nicht nachzukommen. Dies gilt - aus Gründen des fairen Verfahrens - ebenso bei einem Begründungsdefizit wegen möglicher Arbeitsüberlastung auf Seiten der Finanzverwaltung.
dd) Die hier vorliegende Praxis der Finanzverwaltung, nicht benannte Einwendungen gegen die Steuerfestsetzung für die Zukunft auszuschließen, entspricht nicht der Rechtsprechung des Großen BFH-Senats vom 23. Oktober 1989 und einer Vielzahl von Folgeentscheidungen verschiedener BFH-Senate, wonach sich der Steuerpflichtige in einem Rechtsbehelfs-verfahren zu Beginn des Verfahrens wegen des genauen Umfangs seines Vorbringens noch nicht festlegen muss, sondern allgemein wegen der „Komplexität des Einkommensteuer-bescheides" auch während eines Rechtsschutzverfahrens sein Rechtsschutzbegehren erweitern darf (vgl. GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl. II 1990, 327). Der Große Senat führt in der zitierten Entscheidung Folgendes aus:
„Die Besonderheiten des Einkommensteuerrechts gebieten es, regelmäßig davon auszugehen, daß der Kläger mit der Nennung eines bestimmten Teilbetrags nicht eine Teilbestandskraft herbeiführen will. ... Nur wenn der Kläger zuvor eindeutig zu erkennen gegeben hat, er werde von einem weitergehenden Klagebegehren absehen, ist die Klage insoweit unzulässig, als sie nach Ablauf der Klagefrist erweitert wird".
Damit entspricht der Große BFH-Senat dem aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleiteten Gebot zur rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften. Das BFH-Urteil vom 18. April 2007 (XI R 47/05, BFHE 217, 18, BStBl. II 2007, 736 - gestützt auf den Beschluss des Großen BFH-Senats vom 23. Oktober 1989) führt dazu Folgendes aus:
„Gegen einen im Einspruchsverfahren erlassenen Änderungsbescheid, mit dem dem Antrag des Steuerpflichtigen voll entsprochen wird (Vollabhilfebescheid), ist der Einspruch statthaft. ... Die für den Zeitraum von einem Monat bestehende Unsicherheit, ob der Vollabhilfebescheid bestandskräftig oder angefochten wird, ist angesichts der Komplexität des Steuerrechts zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes hinzunehmen".
ee) Mitunter gewährt das BVerfG im Rahmen seiner pro-futuro-Rechtsprechungspraxis (verfassungswidriges Recht gilt danach einstweilen weiter), in Anlehnung an das österreichische Recht, „Fangprämien" in Form des (künftigen) verfassungsgemäßen Rechts für Antragsteller der entschiedenen Fälle („Anlassfälle") oder für Fälle, die zumindest schon beim BFH anhängig geworden waren (umfassend zu den Rechtsfolgeaussprüchen des BVerfG: Habscheidt, Der Anspruch des Bürgers auf Erstattung verfassungswidriger Steuern, 2003, 71 ff.). Angesichts solcher Aussprüche des BVerfG, wonach eine "verfassungsrechtlich gebotene stufenweise Angleichung des geltenden Rechts" erfolgen soll (vgl. Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057, 1226, 980/91, BVerfGE 99, 216, 245 f.), ist es nicht gesichert, dass der mit einem Vorläufigkeitsvermerk bedachte Steuerpflichtige an einem für ihn an sich günstigen Ausspruch des BVerfG auch teilnimmt. Vielmehr erhöhen sich danach die Erfolgsaussichten des Steuerpflichtigen, wenn er selbst Einspruch eingelegt hat und sogar möglichst weit durch die Instanzen vordringt (vgl. Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht 18. Auflage 2005, § 22 Anm.152). Diese Gesichtspunkte sind auch bei der Ermessensausübung, ob überhaupt durch Teil-Einspruchsbescheid entschieden werden sollte, oder der Einspruch ruht, zu berücksichtigen. Auch dies hat das beklagte Finanzamt zu Unrecht unterlassen.
ff) Es ist gerichtsbekannt, dass die Finanzverwaltung in der Region Hannover in den letzten Monaten viele (mehr als 65.000) Teil-Einspruchsentscheidungen zum Bereich des Vorläufigkeitsvermerks erlassen hat. Dagegen sind die Steuerpflichtigen vieler anderer Regionen Deutschlands, womöglich wegen dortiger gesetzeszweckkonformer Ermessens-ausübung, nicht betroffen. Auch diese uneinheitliche Vorgehensweise der Finanzverwaltung hat das beklagte Finanzamt bei seiner Ermessensausübung nicht nachvollziehbar begründet.
c) Das Gericht lässt das Vorbringen des Klägers, das Jahressteuergesetz 2007 mit dem hier interessierenden § 367 Abs. 2a AO sei wegen des abgekürzten Gesetzgebungsverfahrens nicht verfassungsgemäß zustande gekommen, dahin stehen. Denn der Teil-Einspruchsbescheid ist - wie ausgeführt - schon aus anderen Gründen, und ohne dass es eines möglichen Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses bezüglich des neuen § 367 Abs. 2a AO bedarf, aufzuheben.
2. Vorläufigkeitsvermerk nicht hinreichend bestimmt, nicht hinreichend verständlich und nicht hinreichend umfassend formuliert
Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AO kann die Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung eingetreten sind; diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem EuGH, dem BVerfG
oder einem obersten Bundesgericht ist. Nach Satz 3 des § 165 Abs. 1 AO sind Umfang und Grund der Vorläufigkeit anzugeben.
Der Vorläufigkeitsvermerk des angefochtenen Steuerbescheids lässt Umfang und Grund der Vorläufigkeit nicht hinreichend genau erkennen. Insoweit hat das beklagte Finanzamt den Kläger neu zu bescheiden.
Dass der Vorläufigkeitsvermerk in der vorliegenden Form zu unbestimmt ist, zeigt schon der zwischen den Beteiligten bestehende Dissens darüber, ob er nur bereits anhängige Gerichtsverfahren (so der Text des § 165 Abs. 1 AO) oder auch zukünftige betrifft. Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht "Gegenstand eines Verfahrens" bei den genannten Gerichten ist. Gegenstand kann nur sein, was bereits vorhanden ist, nicht etwas Zukünftiges. Mithin setzt § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO voraus, dass das Verfahren bereits anhängig ist. Das beklagte Finanzamt vertritt mit Hinweis auf künftig anhängig werdende Verfahren eine vom Gesetzestext und von der Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 31. Mai 2006 X R 9/05, BFHE 213, 199, BStBl. II 2006, 858) abweichende Auffassung. Es teilt auch nicht mit, wie lang der künftige Zeitraum, in dem neue Gerichtsverfahren bei den genannten Gerichten zu berücksichtigen sein sollen, zu bemessen sei, und wann die Ungewissheit im Sinne des § 165 Abs. 1 AO beendet sein solle.
Das beklagte Finanzamt hat auch nicht, jedenfalls nicht erkennbar, geprüft, ob die bereits anhängigen Gerichtsverfahren Regelungen betreffen, die mit den für das Kalenderjahr 2005 geltenden Regelungen zumindest im Kern übereinstimmen.
Wer als Durchschnitts-Steuerzahler den amtlichen Zusatz im Vorläufigkeitsvermerk „Änderungen dieser Regelungen werden von Amts wegen berücksichtigt; ein Einspruch ist insoweit nicht erforderlich" liest, wähnt sich in Rechtssicherheit. Kaum ein Bürger, der noch keine schlechten Erfahrungen mit Vorläufigkeitsvermerken gemacht hat, kann wissen, dass die Änderung einer maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung durch eine verfassungskonforme Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift (etwa wie ausgeführt zu § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) keine „Änderung dieser Regelung" im Sinne des Vorläufigkeitsvermerks ist, weil die Regelung (das Gesetz selbst) keine Änderung erfährt. Diese äußerst feinsinnige Unterscheidung orientiert sich zwar an dem bloßen Wortlaut des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Allerdings darf die allgemeine Erkennbarkeit dieser Feinsinnigkeit nicht vorausgesetzt werden (umfassend zu weiteren Problemfällen des Vorläufigkeitsvermerks: Ende, DStR 2006, 878).
Vielmehr hat der Vorläufigkeitsvermerk aufgrund einer systematischen Auslegung der §§ 363 Abs. 2, 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO sowie einer verfassungskonformen Auslegung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur verfassungs- und gemeinschaftsrechtliche, sondern auch alle denkbaren einfach-rechtlichen Einwendungen (einschließlich einer verfassungskonformen Gesetzesauslegung) im Zusammenhang mit den im Vorläufigkeitsvermerk benannten Besteuerungsgrundlagen zu umfassen, die in einem zum Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheids bei einem höherrangigen Gericht im Sinne des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO anhängigen Verfahren entscheidungserheblich sein können. Durch dieses Auslegungsergebnis wird die Rechtsschutzlücke weitgehend geschlossen, die bei der bisherigen vorläufigen Steuerfestsetzung und der bisherigen Anwendungspraxis des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (hier nur Rechtsschutz bei Verletzung höherrangigen Rechts) im Vergleich zur Einspruchseinlegung mit der Folge der gesetzlich angeordneten Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO (hier umfassender Rechtsschutz, auch bei einfach-rechtlichen Lösungen) besteht.
Auch mittelbare Wirkungen sollten von den neu zu formulierenden Vorläufigkeitsvermerken mitumfasst sein, etwa die Prüfung des Überschreitens von Grenzbeträgen im Sinne der §§ 32 Abs. 4 Satz 2, 33a Abs. 1 Satz 4 EStG oder die erneute Ausübung von Wahlrechten (beispielsweise nach §§ 26a, 26b EStG oder § 82b EStDV). Im Übrigen muss der neue Vorläufigkeitsvermerk aus sich heraus verständlich sein. Klarstellungen und/oder Erläuterungen der Vorläufigkeitsvermerke sollten deshalb nicht nur in BMF-Schreiben (etwa vom 8. Oktober 2007, BStBl. I 2007, 723, wonach ein bestimmter Punkt des Vorläufigkeitsvermerks „auch die beschränkte Abziehbarkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen" umfasse), sondern auch in den Vorläufigkeitsvermerken selbst als Bestandteile der den Steuerpflichtigen bekannt zu gebenden Steuerbescheide stehen.
Falls das beklagte Finanzamt bzw. die Spitze der Finanzverwaltung (die OFD Hannover oder das BMF), sich dazu nicht in der Lage sehen sollte, kommt in Betracht, von der weiteren Anwendung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO abzusehen und die Vielzahl der Einspruchsverfahren (mit umfassendem Rechtsschutz für die Steuerpflichtigen) zu akzeptieren und diese bis zur endgültigen Klärung verschiedener Rechtsfragen durch oberste Gerichte ruhen zu lassen.
3. Steuerbescheid ist nicht nichtig
Ist wie hier der Vorläufigkeitsvermerk des Steuerbescheids wegen Unbestimmtheit nicht wirksam, ist der Steuerbescheid nicht nichtig. Denn zur Überzeugung des Senats steht fest, dass das beklagte Finanzamt die Einkommensteuer für das Streitjahr - wie geschehen - auf jeden Fall (ob vorläufig oder nicht vorläufig) festsetzen wollte (vgl. auch BFH-Urteil vom 12. Juli 2007 X R 22/05, ZSteu 2007, R-960, BStBl. II 2008, 2; danach führt die Unwirksamkeit eines Vorläufigkeitsvermerks nicht zur Nichtigkeit des Steuerbescheids).
4. Nebenentscheidungen und Zulassung der Revision
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO. Die übrigen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat.