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Steuerrecht
06.06.2024
Steuerrecht
EuGH: Arbeitnehmer eines Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat – Gleichbehandlung (Deutsches Vorabentscheidungsersuchen)

EuGH, Urteil vom 30.5.2024 – C-627/22, AB gegen Finanzamt Köln-Süd

ECLI:EU:C:2024:431

Volltext BB-Online BBL2024-1364-1

 

Tenor

Die Art. 7 und 15 des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit in der zuletzt durch das Protokoll vom 4. März 2016 im Hinblick auf die Aufnahme der Republik Kroatien als Vertragspartei infolge ihres Beitritts zur Europäischen Union angepassten Fassung in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der das Recht, für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit die Antragsveranlagung zu wählen, um die Berücksichtigung von Aufwendungen wie Werbungskosten und die Anrechnung von im Steuerabzugsverfahren einbehaltener Lohnsteuer zu erreichen, was zu einer Einkommensteuererstattung führen kann, Steuerpflichtigen mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, eines anderen Mitgliedstaats oder eines Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 und Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten vorbehalten ist und insbesondere nicht einem Staatsangehörigen des erstgenannten Mitgliedstaats offensteht, der seinen Wohnsitz in der Schweiz hat und die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit in diesem Mitgliedstaat erzielt.

 

Aus den Gründen

1          Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6) in der zuletzt durch das Protokoll vom 4. März 2016 im Hinblick auf die Aufnahme der Republik Kroatien als Vertragspartei infolge ihres Beitritts zur Europäischen Union (ABl. 2017, L 31, S. 3) angepassten Fassung (im Folgenden: FZA).

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen AB und dem Finanzamt Köln-Süd (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) über die Berechnung der Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2017 bis 2019 (im Folgenden: für das Ausgangsverfahren maßgeblicher Zeitraum).

 

Rechtlicher Rahmen

FZA

3          Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits unterzeichneten am 21. Juni 1999 sieben Abkommen, darunter das FZA. Diese sieben Abkommen wurden durch den Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.

 

4          Nach dem Wortlaut der Präambel des FZA sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.

 

5          Art. 1 FZA bestimmt:

„Ziel dieses Abkommens zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ist Folgendes:

a) Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien;

...

c) Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben;

d) Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer.“

 

6          Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) dieses Abkommens lautet:

„Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert.“

 

7          Art. 4 („Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit“) des Abkommens sieht vor:

„Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird ... nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt.“

 

8          Art. 6 FZA lautet:

„Das Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wird den Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, gemäß den Bestimmungen des Anhangs I über Nichterwerbstätige eingeräumt.“

 

9          Art. 7 („Sonstige Rechte“) des Abkommens sieht vor:

„Die Vertragsparteien regeln insbesondere die folgenden mit der Freizügigkeit zusammenhängenden Rechte gemäß Anhang I:

a) Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie auf die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen;

...“

 

10        Art. 10 („Übergangsbestimmungen und Weiterentwicklung dieses Abkommens“) dieses Abkommens normiert u. a. in den Abs. 1 bis 1c das Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft und bestimmter Mitgliedstaaten, für bestimmte Kategorien von Aufenthalten und für einen bestimmten Zeitraum Höchstzahlen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit aufrechtzuerhalten, in den Abs. 2 bis 2c das Recht der Vertragsparteien, während eines bestimmten Zeitraums die Kontrolle der Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer und die Kontrolle der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen für die Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei beizubehalten, und in den Abs. 3 bis 3c das Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, innerhalb ihrer Gesamtkontingente eine Mindestanzahl neuer Aufenthaltserlaubnisse für Arbeitnehmer und Selbständige der Europäischen Union zu behalten.

 

11        Art. 13 („Stand still“) FZA lautet:

„Die Vertragsparteien verpflichten sich, in den unter dieses Abkommen fallenden Bereichen keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragspartei einzuführen.“

 

12        Nach Art. 15 FZA sind die Anhänge und Protokolle Bestandteile dieses Abkommens.

 

13        Art. 16 („Bezugnahme auf das Gemeinschaftsrecht“) FZA lautet:

„(1) Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Maßnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden.

(2) Soweit für die Anwendung dieses Abkommens Begriffe des Gemeinschaftsrechts herangezogen werden, wird hierfür die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung berücksichtigt. Über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens wird die Schweiz unterrichtet. Um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, stellt der Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung fest.“

 

14        Art. 21 FZA sieht vor:

„(1) Die Bestimmungen der bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bleiben von den Bestimmungen dieses Abkommens unberührt. Insbesondere lassen die Bestimmungen dieses Abkommens die in den Doppelbesteuerungsabkommen festgelegte Begriffsbestimmung des Grenzgängers unberührt.

(2) Keine Bestimmung dieses Abkommens ist so auszulegen, dass sie die Vertragsparteien daran hindert, bei der Anwendung ihrer Steuervorschriften eine Unterscheidung zwischen Steuerpflichtigen zu machen, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden.

(3) Keine Bestimmung dieses Abkommens hindert die Vertragsparteien daran, Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei oder der zwischen der Schweiz einerseits und einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft andererseits geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen oder sonstiger steuerrechtlicher Vereinbarungen die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern.“

 

15        Anhang I dieses Abkommens ist der Freizügigkeit gewidmet.

 

16        In Art. 6 Abs. 1 dieses Anhangs I heißt es:

„Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist (im Folgenden ‚Arbeitnehmer‘ genannt) und mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaates ein Arbeitsverhältnis mit einer Dauer von mindestens einem Jahr eingegangen ist, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Erteilung der Erlaubnis. ...“

 

17        Art. 7 Abs. 1 dieses Anhangs I lautet:

„Ein abhängig beschäftigter Grenzgänger ist ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.“

 

18        Art. 8 dieses Anhangs I bestimmt:

„(1) Die Arbeitnehmer haben das Recht auf berufliche und geographische Mobilität im gesamten Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates.

(2) Die berufliche Mobilität umfasst den Wechsel des Arbeitgebers, der Arbeitsstelle, des Berufs und den Übergang von einer unselbständigen zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Die geographische Mobilität umfasst den Wechsel des Arbeits- und des Aufenthaltsortes.“

 

19        Art. 9 („Gleichbehandlung“) Abs. 1 und 2 des Anhangs I FZA sieht vor:

„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger einer Vertragspartei ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2) Ein Arbeitnehmer und seine ... Familienangehörigen genießen dort die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen.“

 

20        In Art. 24 dieses Anhangs I heißt es:

„(1) Eine Person, die die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im Aufenthaltsstaat ausübt und dort kein Aufenthaltsrecht aufgrund anderer Bestimmungen dieses Abkommens hat, erhält eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren, sofern sie den zuständigen nationalen Behörden den Nachweis dafür erbringt, dass sie für sich selbst und ihre Familienangehörigen über

a) ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen;

b) einen Krankenversicherungsschutz verfügt, der sämtliche Risiken abdeckt.

...“

 

Deutsches Recht

21        Das Einkommensteuergesetz in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (BGBl. 2009 I S. 3366) (im Folgenden: EStG) bestimmt in § 1 („Steuerpflicht“):

„(1) Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. ...

...

(4) Natürliche Personen, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 und des § 1a beschränkt einkommensteuerpflichtig, wenn sie inländische Einkünfte im Sinne des § 49 haben.

...“

 

22        In § 9 Abs. 1 EStG heißt es:

„Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Sie sind bei der Einkunftsart abzuziehen, bei der sie erwachsen sind. ...“

 

 

23        § 39a EStG („Freibetrag und Hinzurechnungsbetrag“) bestimmt:

„(1) Auf Antrag des unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmers ermittelt das Finanzamt die Höhe eines vom Arbeitslohn insgesamt abzuziehenden Freibetrags aus der Summe der folgenden Beträge:

1. Werbungskosten, die bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit anfallen, soweit sie den Arbeitnehmer-Pauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a) ... übersteigen,

...

(2) Der Antrag nach Absatz 1 ist nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck zu stellen und vom Arbeitnehmer eigenhändig zu unterschreiben. Die Frist für die Antragstellung beginnt am 1. Oktober des Vorjahres, für das der Freibetrag gelten soll. Sie endet am 30. November des Kalenderjahres, in dem der Freibetrag gilt. ...

...

(4) Für einen beschränkt einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmer, für den § 50 Absatz 1 Satz 4 anzuwenden ist, ermittelt das Finanzamt auf Antrag einen Freibetrag, der vom Arbeitslohn insgesamt abzuziehen ist, aus der Summe der folgenden Beträge:

1. Werbungskosten, die bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit anfallen, ...

...

Der Antrag kann nur nach amtlich vorgeschriebenem Vordruck bis zum Ablauf des Kalenderjahres gestellt werden, für das die Lohnsteuerabzugsmerkmale gelten.“

 

24        In § 46 Abs. 2 Nrn. 4 und 8 und Abs. 4 EStG heißt es:

„(2) Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird eine Veranlagung nur durchgeführt,

...

4. wenn für einen Steuerpflichtigen ein Freibetrag im Sinne des § 39a Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 3, 5 oder Nummer 6 ermittelt worden ist und der im Kalenderjahr insgesamt erzielte Arbeitslohn 11 600 Euro [(11 200 Euro für 2017 und 11 400 Euro für 2018)] übersteigt ...; dasselbe gilt für einen Steuerpflichtigen, der zum Personenkreis des § 1 Absatz 2 gehört oder für einen beschränkt einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmer, wenn diese Eintragungen auf einer Bescheinigung für den Lohnsteuerabzug (§ 39 Absatz 3 Satz 1) erfolgt sind;

...

8. wenn die Veranlagung beantragt wird, insbesondere zur Anrechnung von Lohnsteuer auf die Einkommensteuer. Der Antrag ist durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen.

...

(4) Kommt nach Absatz 2 eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht in Betracht, so gilt die Einkommensteuer, die auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit entfällt, für den Steuerpflichtigen durch den Lohnsteuerabzug als abgegolten, soweit er nicht für zu wenig erhobene Lohnsteuer in Anspruch genommen werden kann. ...“

 

25        § 49 („Beschränkt steuerpflichtige Einkünfte“) Abs. 1 EStG bestimmt:

„(1) Inländische Einkünfte im Sinne der beschränkten Einkommensteuerpflicht (§ 1 Absatz 4) sind

...

4. Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19), die

a) im Inland ausgeübt oder verwertet wird oder worden ist,

...

...“

 

26        § 50 („Sondervorschriften für beschränkt Steuerpflichtige“) EStG sieht vor:

„(1) Beschränkt Steuerpflichtige dürfen Betriebsausgaben (§ 4 Absatz 4 bis 8) oder Werbungskosten (§ 9) nur insoweit abziehen, als sie mit inländischen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen. ...

(2) Die Einkommensteuer für Einkünfte, die dem Steuerabzug vom Arbeitslohn ... unterliegen, gilt bei beschränkt Steuerpflichtigen durch den Steuerabzug als abgegolten. Satz 1 gilt nicht

...

4. für Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Sinne des § 49 Absatz 1 Nummer 4,

a) wenn als Lohnsteuerabzugsmerkmal ein Freibetrag nach § 39a Absatz 4 gebildet worden ist oder

b) wenn die Veranlagung zur Einkommensteuer beantragt wird (§ 46 Absatz 2 Nummer 8);

...

... Satz 2 Nummer 4 Buchstabe b ... gilt nur für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum [vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen)] Anwendung findet, die im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. ...“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

27        In dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum war AB, ein deutscher Staatsangehöriger, als Manager für ein deutsches Unternehmen mit Sitz in Z (Deutschland) tätig und erzielte aus dieser Beschäftigung Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit, während er seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hatte. AB war per Telearbeit von seinem Wohnsitz in der Schweiz aus sowie im Außendienst in Deutschland tätig.

 

28        Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass AB im April 2016 aus familiären Gründen von Deutschland in die Schweiz zog, nämlich, weil seine Ehefrau dort eine Beschäftigung aufnahm. Sein Aufenthalt in der Schweiz erfolgte rechtmäßig im Rahmen einer Niederlassungsbewilligung.

 

29        In dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum unterlag AB in Deutschland einer beschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 4 EStG. Sein vollständiger Arbeitslohn wurde der Lohnsteuer unterworfen, wobei sein Arbeitgeber die Lohnsteuer abzog und an das Finanzamt abführte.

 

30        Im Rahmen seiner Außendiensttätigkeit nutzte AB ein geleastes, nicht vom Arbeitgeber gestelltes Kraftfahrzeug und trug insbesondere eigene Kosten im Zusammenhang mit diesem Fahrzeug und andere Reisekosten. In dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum ließ er keinen Freibetrag vom Finanzamt eintragen.

 

31        Neben den Lohneinkünften erzielte AB Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von zwei in Deutschland belegenen Immobilien.

 

32        In seinen beim Finanzamt eingereichten Einkommensteuererklärungen für den für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum erklärte AB neben Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit. Für das Steuerjahr 2017 führte er an, dass von Bruttoeinkünften aus nicht selbständiger Arbeit in Höhe von insgesamt 113 299,41 Euro ein Bruttolohn von 63 651 Euro auf die in Deutschland ausgeübten und dort steuerbaren Tätigkeiten entfalle. Im Steuerjahr 2018 sei von Bruttoeinkünften aus nicht selbständiger Arbeit in Höhe von insgesamt 115 498,41 Euro ein Bruttolohn von 60 932 Euro auf die in Deutschland ausgeübten Tätigkeiten entfallen, und im Steuerjahr 2019 sei von Bruttoeinkünften aus nicht selbständiger Arbeit in Höhe von insgesamt 115 314,91 Euro ein Bruttolohn von 57 429 Euro auf die in Deutschland ausgeübten Tätigkeiten entfallen.

 

33        In diesen Steuererklärungen machte AB als steuermindernd Werbungskosten, d. h. mit der in Deutschland steuerpflichtigen Beschäftigung zusammenhängende Aufwendungen, geltend und stellte einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer nach § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 Buchst. b in Verbindung mit § 50 Abs. 2 Satz 7 EStG (im Folgenden: Antragsveranlagung).

 

34        In den Steuerbescheiden für den für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum legte das Finanzamt lediglich die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Einkommensteuerfestsetzung zugrunde, da es die Steuer für die Lohneinkünfte bereits mit dem Steuerabzug gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG als abgegolten ansah. Folglich unterblieb auch eine Anrechnung von bereits gezahlter deutscher Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag auf die festgesetzte deutsche Einkommensteuer. Das Finanzamt lehnte die Antragsveranlagung mit der Begründung ab, dass sie auf Arbeitnehmer beschränkt sei, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens hätten.

 

35        Da die Einsprüche von AB gegen diese Steuerbescheide mit Entscheidungen vom 25. Februar 2020 und 15. November 2021 zurückgewiesen wurden, erhob er beim Finanzgericht Köln (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Antragsveranlagung unter gegenüber dem Lohnsteuerabzug abweichender Aufteilung des Arbeitslohns zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft sowie der Berücksichtigung von Werbungskosten.

 

36        Nach Ansicht von AB verstößt die Verweigerung der Antragsveranlagung für Personen mit Wohnsitz in der Schweiz insbesondere unter Berücksichtigung des Urteils vom 26. Februar 2019, Wächtler (C-581/17, EU:C:2019:138), gegen das FZA und das in Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA konkretisierte Recht auf Gleichbehandlung bei steuerlichen Vergünstigungen und sei nicht gerechtfertigt. Auch die in Art. 13 FZA vorgesehene „Stand still“-Klausel könne nicht geltend gemacht werden. Die Möglichkeit, einen Freibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal eintragen zu lassen (im Folgenden: Eintragung des Freibetrags), lasse weder die Ungleichbehandlung entfallen noch stelle sie einen Rechtfertigungsgrund dar. Eine solche Eintragung müsse vor Ablauf des Veranlagungszeitraums beantragt werden, ohne dass der Antragsteller genau wisse, ob und in welchem Umfang sich dies lohne, und erfordere zwingend die Einreichung einer Einkommensteuererklärung innerhalb einer bestimmten Frist, während im Fall der Antragsveranlagung nur eine vierjährige Festsetzungsfrist bestehe.

 

37        Das Finanzamt macht zunächst geltend, dass, selbst wenn AB in den persönlichen Geltungsbereich des FZA und dessen Anhang I fallen sollte, was es bezweifelt, die im FZA vereinbarten Rechte nicht mit den Grundfreiheiten des AEU-Vertrags deckungsgleich seien. Sodann ergebe sich aus der in Art. 13 FZA vorgesehenen „Stand still“-Klausel ein Recht auf Aufrechterhaltung aller zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bestehenden Beschränkungen. Die im EStG für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit vorgesehene Abgeltungswirkung des Lohnsteuerabzugs für beschränkt Steuerpflichtige gemäß § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG habe seinerzeit aber bereits gegolten.

 

38        Schließlich sei eine etwaige steuerliche Ungleichbehandlung nach Art. 21 Abs. 2 und 3 FZA gerechtfertigt. Gegen eine Diskriminierung spreche die im Lohnsteuerverfahren bestehende Möglichkeit, Werbungskosten und andere steuermindernde Umstände durch Eintragung des Freibetrags lohnsteuermindernd geltend zu machen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs begründe die Existenz unterschiedlicher Besteuerungsverfahren keinen Verstoß gegen die Grundfreiheiten (Urteil vom 22. Dezember 2008, Truck Center, C‑282/07, EU:C:2008:762), und im Gegensatz zum Sachverhalt in der Rechtssache, in der das Urteil vom 14. Februar 1995, Schumacker (C‑279/93, EU:C:1995:31, Rn. 53 und 54), ergangen sei, hätten im Ausgangsverfahren das Lohnsteuerermäßigungsverfahren und das spätere Pflichtveranlagungsverfahren den Werbungskostenabzug ermöglicht.

 

39        Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit, die im Inland, d. h. in Deutschland, ausgeübt würden oder ausgeübt worden seien, inländische Einkünfte im Sinne der beschränkten Steuerpflicht seien und dass im Ausgangsverfahren unstreitig nur der Arbeitslohn, der auf die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit – wobei die Aufteilung nach Arbeitstagen erfolge – entfalle, in Deutschland einkommensteuerpflichtig sei.

 

40        Nach § 50 Abs. 2 Satz 1 EStG gelte die Steuer für Lohneinkünfte grundsätzlich durch den Steuerabzug vom Arbeitslohn als abgegolten. Dieser Steuerabzug erfolge grundsätzlich nach Maßgabe des Bruttolohns und gegebenenfalls eingerechneter pauschaler Abzugsbeträge. Nach dem EStG sei jedoch ein geringerer Lohnsteuerabzug durch die Eintragung des Freibetrags möglich, die von jedem beschränkt einkommensteuerpflichtigen Arbeitnehmer, auch mit Wohnsitz in der Schweiz, mittels eines amtlich vorgeschriebenen, rechtzeitig vor Ablauf des Kalenderjahrs einzureichenden Vordrucks beantragt werden könne.

 

41        Im Fall einer solchen Eintragung werde nach § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 Buchst. a EStG die Abgeltungswirkung des Steuerabzugs ausgeschlossen. Der Steuerpflichtige müsse dann ein Veranlagungsverfahren durchführen (Pflichtveranlagung), in dem die Einkünfte ohne Bindung an die im Lohnsteuerverfahren zugrunde gelegten Werte berechnet würden und die Einkommensteuer insbesondere unter Anrechnung der bereits entrichteten Lohnsteuer berechnet werde. Die Eintragung eines zu hohen Freibetrags könne zu Steuernachforderungen führen, die das Finanzamt dann gegenüber dem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen durchsetzen müsse. Bei gegenüber dem Freibetrag im Veranlagungsverfahren geltend gemachten höheren Werbungskosten oder beispielsweise nur teilweise steuerpflichtigen Einkünften könne sich aber auch ein Erstattungsanspruch ergeben. Der Steuerpflichtige müsse auch eine Steuererklärung abgeben; andernfalls könne eine Festsetzung von Amts wegen mit Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, die Festsetzung eines Verspätungszuschlags oder eine Androhung und Festsetzung von Zwangsgeld erfolgen.

 

42        Abgesehen von der Eintragung des Freibetrags könnten Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union oder eines anderen Vertragsstaats des EWR-Abkommens, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten hätten, nach § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 Buchst. b und § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG die Antragsveranlagung wählen. Die Abgabe der Steuererklärung gelte als Ausübung des Wahlrechts, und der Steuerpflichtige könne innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist frei entscheiden, ob er eine Einkommensteuererklärung abgeben möchte, was er nur tun werde, wenn die gezahlte Lohnsteuer höher sei als die ermittelte Einkommensteuer.

 

43        Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass § 46 EStG zur Antragsveranlagung von inländischen Arbeitnehmern seit Jahrzehnten gelte, wohingegen das Recht auf Antragsveranlagung für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten und der anderen Vertragsstaaten des EWR-Abkommens seit dem 1. Januar 1997 gelte und als Reaktion auf das Urteil vom 14. Februar 1995, Schumacker (C-279/93, EU:C:1995:31), eingeführt worden sei.

 

44        Sollte das FZA dahin auszulegen sein, dass es einer Begrenzung der Antragsveranlagung auf Steuerpflichtige, die in einem anderen Mitgliedstaat oder einem anderen Vertragsstaat des EWR-Abkommens ansässig seien, entgegenstehe, müsste dem vorlegenden Gericht zufolge für den für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum eine Antragsveranlagung vorgenommen werden, was dazu führen würde, dass zugunsten des Klägers des Ausgangsverfahrens Werbungskosten berücksichtigt würden und die deutsche Lohnsteuer angerechnet würde. Dies hätte für AB eine erhebliche Steuererstattung zur Folge.

 

45        Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

 

Sind die Vorschriften des FZA, insbesondere die Art. 7 und 15 FZA in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I zum FZA (Recht auf Gleichbehandlung), dahin gehend auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach welcher zwar (mit ihrem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt) in der Bundesrepublik Deutschland oder in einem Mitgliedstaat der Union oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens ansässige Arbeitnehmer mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union oder eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens (einschließlich Deutschland) freiwillig eine Veranlagung zur Einkommensteuer unter Ansatz der in Deutschland steuerpflichtigen Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit beantragen können („Antragsveranlagung“), insbesondere um unter Berücksichtigung von Aufwendungen (Werbungskosten) sowie Anrechnung von im Steuerabzugsverfahren einbehaltener deutscher Lohnsteuer eine Einkommensteuererstattung zu erhalten, jenes Recht aber deutschen und schweizerischen Staatsangehörigen mit Ansässigkeit in der Schweiz verwehrt wird?

 

Zur Vorlagefrage

46        Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 7 und 15 FZA in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der das Recht, für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit die Antragsveranlagung zu wählen, um die Berücksichtigung von Aufwendungen wie Werbungskosten und die Anrechnung von im Steuerabzugsverfahren einbehaltener Lohnsteuer zu erreichen, was zu einer Einkommensteuererstattung führen kann, Steuerpflichtigen mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, eines anderen Mitgliedstaats oder eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens und Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten vorbehalten ist und insbesondere nicht einem Staatsangehörigen des erstgenannten Mitgliedstaats offensteht, der seinen Wohnsitz in der Schweiz hat und die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit in diesem Mitgliedstaat erzielt.

 

Vorbemerkungen

47        Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das FZA, da es ein völkerrechtlicher Vertrag ist, nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist. Außerdem ist einem Begriff gemäß dieser Bestimmung eine besondere Bedeutung beizulegen, wenn feststeht, dass dies die Absicht der Parteien war (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler , C‑581/17, EU:C:2019:138, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

48        Der Gerichtshof hat erstens bereits klargestellt, dass das FZA in einem allgemeineren Rahmen der Beziehungen zwischen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft steht. Diese hat sich zwar nicht für die Teilnahme am Europäischen Wirtschaftsraum und am Binnenmarkt der Union entschieden, ist aber gleichwohl durch eine Vielzahl von Abkommen mit dieser verbunden, die weite Bereiche abdecken und spezifische Rechte und Pflichten vorsehen, die in mancher Hinsicht den im Vertrag festgelegten entsprechen. Die allgemeine Zielsetzung dieser Abkommen, einschließlich des FZA, besteht darin, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu intensivieren (Urteile vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, EU:C:2011:643, Rn. 33, sowie vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 36).

 

49        Die Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmungen über den Binnenmarkt kann allerdings nicht automatisch auf die Auslegung des FZA übertragen werden, sofern dies nicht in diesem Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen ist, da die Schweizerische Eidgenossenschaft nicht dem Binnenmarkt der Union beigetreten ist (Urteile vom 15. März 2018, Picart, C-355/16, EU:C:2018:184, Rn. 29, und vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 37).

 

50        Was zweitens das Ziel des FZA und seine Auslegung betrifft, ergibt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus der Präambel sowie Art. 1 und Art. 16 Abs. 2 dieses Abkommens, dass dieses zum Ziel hat, zugunsten der Staatsangehörigen der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien zu verwirklichen. Hierzu stützt es sich auf die in der Union geltenden Vorschriften, deren Begriffe unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens auszulegen sind. Zur Rechtsprechung nach diesem Zeitpunkt sieht Art. 16 Abs. 2 FZA zum einen vor, dass die Schweizerische Eidgenossenschaft über diese Rechtsprechung unterrichtet wird, und zum anderen, dass, um das ordnungsgemäße Funktionieren dieses Abkommens sicherzustellen, der in Art. 14 dieses Abkommens vorgesehene Gemischte Ausschuss auf Antrag einer Vertragspartei die Auswirkungen dieser Rechtsprechung feststellt. Jedoch ist diese Rechtsprechung auch ohne eine Entscheidung dieses Ausschusses zu berücksichtigen, sofern sie lediglich die Grundsätze präzisiert oder bestätigt, die in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA bereits bestehenden Rechtsprechung zu den Begriffen des Unionsrechts, an denen sich dieses Abkommen ausrichtet, aufgestellt waren (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 38 und 39).

 

51        Im Einklang mit diesen Grundsätzen und im Licht dieser Erwägungen ist das FZA auszulegen, um als Erstes zu bestimmen, ob eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich dieses Abkommen fällt, und bejahendenfalls als Zweites, ob dieses Abkommen einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.

 

Zur Anwendbarkeit des FZA

52        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß der Präambel des FZA sowie gemäß dessen Art. 1 Buchst. a und c natürliche Personen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind, unabhängig davon in den Geltungsbereich des FZA fallen, ob sie eine Erwerbstätigkeit ausüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 41).

 

53        Sodann lässt sich dem Wortlaut von Art. 1 Buchst. a, c und d FZA entnehmen, dass das FZA darauf abzielt, den genannten Staatsangehörigen u. a. ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit sowie gleiche Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer einzuräumen (Urteil vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 37).

 

54        Insoweit hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass in Art. 4 FZA das Recht auf Zugang zu einer Erwerbstätigkeit nach Maßgabe des Anhangs I dieses Abkommens eingeräumt wird und dass Kapitel II dieses Anhangs I Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, insbesondere über den Grundsatz der Gleichbehandlung, enthält (Urteil vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 38). Außerdem regeln die Vertragsparteien nach Art. 7 Buchst. a FZA gemäß dem genannten Anhang I u. a. das Recht auf Gleichbehandlung mit den Inländern in Bezug auf den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit und deren Ausübung sowie auf die Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen.

 

55        Schließlich bestimmt Art. 2 FZA, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I bis III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden. Der in Art. 2 FZA zum Ausdruck kommende Grundsatz der Nichtdiskriminierung ist anwendbar, soweit die Situation dieser Staatsangehörigen in den sachlichen Geltungsbereich der Bestimmungen der Anhänge I bis III des FZA fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2010, Hengartner und Gasser, C-70/09, EU:C:2010:430, Rn. 39).

 

56        Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass AB in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum per Telearbeit von seinem Wohnsitz in der Schweiz aus sowie im Außendienst in Deutschland für einen in Deutschland ansässigen Arbeitgeber tätig war und aus dieser Beschäftigung Einkünfte aus einer nicht selbständigen Erwerbstätigkeit erzielte, deren steuerliche Behandlung durch diesen Mitgliedstaat er beanstandet.

 

57        Den Angaben des vorlegenden Gerichts lässt sich ferner entnehmen, dass sich die Besteuerung in Deutschland nur auf den Lohn bezieht, der auf die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit entfällt, wobei die Aufteilung nach Arbeitstagen erfolgt.

 

58        Als deutscher Staatsangehöriger, der sich rechtmäßig in der Schweiz aufhält, gehört AB somit zur Kategorie der in den Art. 1 und 2 FZA genannten Personen. Es ist noch zu prüfen, ob die Situation von AB in den sachlichen Geltungsbereich des Anhangs I des FZA fällt, der gemäß Art. 15 FZA Bestandteil des FZA ist und Bestimmungen über die Freizügigkeit und insbesondere über die Arbeitnehmer enthält.

 

59        Der persönliche Geltungsbereich des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne des FZA wird in den Art. 6 und 7 des Anhangs I dieses Abkommens definiert (vgl. entsprechend Urteile vom 15. März 2018, Picart, C‑355/16, EU:C:2018:184, Rn. 18, und vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 47).

 

60        Nach Art. 6 dieses Anhangs I gilt als Arbeitnehmer ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaats ein Arbeitsverhältnis eingegangen ist.

 

61        Nach Art. 7 Abs. 1 dieses Anhangs I ist ein abhängig beschäftigter Grenzgänger ein Staatsangehöriger einer Vertragspartei mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei, der eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei ausübt und in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt.

 

62        In dieser Bestimmung wird, ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Betroffenen, zwischen dem Wohnort im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei und dem Ort unterschieden, an dem eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer ausgeübt wird, der im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei liegen muss (Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky, C-241/14, EU:C:2015:766, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

63        Es ist festzustellen, dass Art. 7 Abs. 1 des Anhangs I des FZA auf die Situation von AB Anwendung finden kann. Er ist nämlich Staatsangehöriger „einer Vertragspartei“, und zwar der Bundesrepublik Deutschland, er hat seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet „einer Vertragspartei“, hier der Schweizerischen Eidgenossenschaft, und er übt im Hoheitsgebiet „der anderen Vertragspartei“, d. h. der Bundesrepublik Deutschland, eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer aus (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky, C-241/14, EU:C:2015:766, Rn. 32).

 

64        Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die nach Art. 7 Abs. 1 des Anhangs I des FZA bestehende Voraussetzung der Rückkehr an den Wohnort in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation erfüllt ist.

 

65        Gelangt das vorlegende Gericht zu der Feststellung, dass AB aufgrund dessen, dass er sich in Deutschland länger ohne Rückkehr an seinen Wohnort aufhält, als dies nach Art. 7 Abs. 1 des Anhangs I des FZA vorgesehen ist, nicht als „abhängig beschäftigter Grenzgänger“ eingestuft werden kann, kann er sich jedoch als „Arbeitnehmer“ im Sinne des FZA auf dieses Abkommen berufen.

 

66        In einer Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Wohnsitz von AB, einem deutschen Staatsangehörigen, in der Schweiz begründet ist und dass AB im deutschen Hoheitsgebiet für einen in Deutschland ansässigen Arbeitgeber einer nicht selbständigen Arbeit nachgeht, steht der Wortlaut von Art. 6 des Anhangs I des FZA nämlich dem nicht entgegen, den letztgenannten Staat als „Aufnahmestaat“ im Sinne der Art. 6 ff. des Anhangs I des FZA einzustufen und AB dort als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Kapitel II des Anhangs I des FZA anzusehen, d. h. als Staatsangehörigen einer Vertragspartei, der mit einem Arbeitgeber des Aufnahmestaats ein Arbeitsverhältnis eingegangen ist, wobei es sich im vorliegenden Fall beim Aufnahmestaat zugleich um den Herkunftsstaat dieses Staatsangehörigen handelt.

 

67        Dieses Ergebnis wird bestätigt durch die Systematik von Kapitel II des Anhangs I des FZA, durch dessen allgemeine Ziele sowie durch Art. 6 FZA und Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I des FZA, in denen das Aufenthaltsrecht verankert ist, d. h. das Recht der Staatsangehörigen einer Vertragspartei, ihren Wohnsitz unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu begründen.

 

68        So ist festzustellen, dass zwar Art. 6 des Anhangs I des FZA über die Aufenthaltserlaubnis, Art. 8 des Anhangs I des FZA über die berufliche und geografische Mobilität und Art. 10 des Anhangs I des FZA, dem zufolge Staatsangehörigen einer Vertragspartei das Recht auf eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung verweigert werden kann, sofern diese die Ausübung hoheitlicher Befugnisse umfasst, den Arbeitnehmern in dem Aufnahmestaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, keine zusätzlichen Rechte verleihen und ihnen nicht entgegengehalten werden können, dies aber bei Art. 9 („Gleichbehandlung“) des Anhangs I des FZA, der die Anwendung des in Art. 2 FZA aufgestellten Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im Rahmen der Freizügigkeit der Erwerbstätigen gewährleistet, nicht der Fall ist (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2015, Bukovansky, C-241/14, EU:C:2015:766, Rn. 47, und vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 39).

 

69        Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass es möglich ist, dass die Staatsangehörigen einer Vertragspartei unter bestimmten Umständen und nach Maßgabe der anwendbaren Bestimmungen aus dem FZA abgeleitete Rechte auch gegenüber ihrem eigenen Land geltend machen können (Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein, C‑425/11, EU:C:2013:121, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

70        In Bezug auf Arbeitnehmer hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass Art. 9 des Anhangs I des FZA, der in Abs. 2 eine Sonderregelung aufstellt, damit ein Arbeitnehmer und seine Familienangehörigen die gleichen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen genießen, von einem erwerbstätigen Staatsangehörigen einer Vertragspartei, der sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat, gegenüber seinem Herkunftsstaat geltend gemacht werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 2015, Bukovansky, C-241/14, EU:C:2015:766, Rn. 36, und vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 40).

 

71        Zum einen aber ist die Situation eines Arbeitnehmers wie AB, der sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat, indem er seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt hat, und der in seinem Herkunftsstaat, der zugleich sein Aufnahmestaat ist, beschäftigt ist, mit der Situation vergleichbar, die der Gerichtshof in der Rechtssache geprüft hat, in der das Urteil vom 19. November 2015, Bukovansky (C‑241/14, EU:C:2015:766), ergangen ist und in der es um einen Grenzgänger deutscher Staatsangehörigkeit ging, der seinen Wohnsitz von Deutschland in die Schweiz verlegt hatte, aber weiterhin in Deutschland einer nicht selbständigen Arbeit nachging.

 

72        Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Kapitel II des Anhangs I des FZA und insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung für Arbeitnehmer und abhängig beschäftigte Grenzgänger unterschiedslos gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2008, Stamm und Hauser, C-13/08, EU:C:2008:774, Rn. 42), wobei die besondere Situation der abhängig beschäftigten Grenzgänger in Art. 7 des Anhangs I des FZA berücksichtigt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein, C-425/11, EU:C:2013:121, Rn. 37 und 38).

 

73        Außerdem zielt das FZA, wie oben in den Rn. 52 und 53 ausgeführt, darauf ab, Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Parteien des FZA zugutekommen zu lassen.

 

74        Darüber hinaus ist in Art. 6 FZA und Art. 24 Abs. 1 des Anhangs I des FZA das Aufenthaltsrecht verankert, also das Recht der Staatsangehörigen einer Vertragspartei, ihren Wohnsitz unabhängig von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu begründen.

 

75        Wird einem Arbeitnehmer wie AB, der seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat und bei einem in Deutschland ansässigen Arbeitgeber beschäftigt ist, das Recht zuerkannt, sich gegenüber Deutschland auf das FZA zu berufen, so kann er unter Fortführung seiner Erwerbstätigkeit in seinem Herkunftsland das im FZA vorgesehene Aufenthaltsrecht in vollem Umfang in Anspruch nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Februar 2013, Ettwein, C-425/11, EU:C:2013:121, Rn. 39). Die Freizügigkeit, die das FZA garantiert, würde nämlich beeinträchtigt, wenn ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats in seinem Herkunftsland einen Nachteil allein deshalb erlitte, weil er sein Freizügigkeitsrecht ausgeübt hat (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

76        Folglich fällt die Situation von AB in den Geltungsbereich des FZA und von dessen Anhang I. Außerdem ist der in Art. 9 des Anhangs I des FZA vorgesehene Grundsatz der Gleichbehandlung anwendbar, wenn ein Arbeitnehmer wie AB gegenüber seinem Aufnahmemitgliedstaat, der zugleich sein Herkunftsmitgliedstaat ist, seine Freizügigkeit ausübt.

 

77        Schließlich wird diese Auslegung nicht durch das Urteil vom 12. November 2009, Grimme (C-351/08, EU:C:2009:697), in Frage gestellt, in dem der Gerichtshof den Grundsatz der Nichtdiskriminierung in einem Fall für nicht anwendbar befunden hat, in dem ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet bei einer Zweigniederlassung einer Gesellschaft schweizerischen Rechts beschäftigt war. Aus dem Sachverhalt der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, ergibt sich nämlich, dass der einzige Anknüpfungspunkt zur Schweiz darin bestand, dass die Zweigniederlassung, bei der der Betroffene in Deutschland beschäftigt war, eine Zweigniederlassung einer Gesellschaft schweizerischen Rechts war.

 

78        Da die Situation von AB in den Geltungsbereich des FZA fällt und der in Art. 9 des Anhangs I des FZA vorgesehene Grundsatz der Gleichbehandlung auf eine solche Situation anwendbar ist, ist zu prüfen, ob das FZA, ausgelegt im Einklang mit den oben in den Rn. 47 bis 50 angeführten Grundsätzen und Erwägungen, dem entgegensteht, dass AB das Recht versagt wird, die Antragsveranlagung in Deutschland zu wählen.

 

Zum Tragweite der Bestimmungen des FZA

Zur Ungleichbehandlung in Bezug auf eine steuerliche Vergünstigung

79        Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass das Recht, die Antragsveranlagung zu wählen, von dem AB im Ausgangsrechtsstreit Gebrauch machen möchte, Steuerpflichtigen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland sowie nicht in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats oder eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens sind und ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten haben, zusteht.

 

80        Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass das Recht, die Antragsveranlagung zu wählen, es insbesondere ermöglicht, einen Abzug der zur Erzielung der Arbeitseinkünfte erforderlichen Werbungskosten und die Anrechnung von im Steuerabzugsverfahren einbehaltener Lohnsteuer zu beanspruchen, was zu einer Einkommensteuererstattung führen kann.

 

81        Folglich stellt, wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das Recht, die Antragsveranlagung zu wählen, eine steuerliche Vergünstigung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA dar.

 

82        Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung begründet somit in Bezug auf die Möglichkeit, eine steuerliche Vergünstigung wie das Recht, die Antragsveranlagung zu wählen, in Anspruch zu nehmen, eine Ungleichbehandlung nach dem Wohnsitz des Arbeitnehmers, da ein deutscher Staatsangehöriger wie AB dieses Wahlrecht aufgrund seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer mit Wohnsitz in der Schweiz nicht in Anspruch nehmen kann.

 

83        Nach einer Rechtsprechung aus der Zeit vor der Unterzeichnung des FZA, auf die der Gerichtshof jüngst in seinem Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora (C-512/13, EU:C:2015:108, Rn. 23), hingewiesen hat, verbietet der Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale wie des Kriteriums des Wohnsitzes tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Februar 1974, Sotgiu, 152/73, EU:C:1974:13, Rn. 11, vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 26 und 28, sowie vom 12. September 1996, Kommission/Belgien, C‑278/94, EU:C:1996:321, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Da die Gleichbehandlung ein Begriff des Unionsrechts ist, gilt diese Rechtsprechung nach Art. 16 Abs. 2 FZA auch für das FZA selbst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2011, Graf und Engel, C-506/10, EU:C:2011:643, Rn. 26).

 

84        Eine Regelung, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, kann also zum gleichen Ergebnis führen wie eine nach Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit.

 

85        Nach Art. 21 Abs. 2 FZA ist jedoch im Bereich der Steuern eine differenzierte Behandlung von Steuerpflichtigen zulässig, die sich – insbesondere hinsichtlich ihres Wohnsitzes – nicht in vergleichbaren Situationen befinden (Urteile vom 21. September 2016, Radgen, C‑478/15, EU:C:2016:705, Rn. 45, und vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 58).

 

86        Im Hinblick auf die direkten Steuern befinden sich in einem bestimmten Mitgliedstaat ansässige Personen und Gebietsfremde in der Regel nämlich nicht in einer vergleichbaren Situation, da zwischen ihnen sowohl hinsichtlich der Einkunftsquelle als auch hinsichtlich der persönlichen Steuerkraft oder der Berücksichtigung der persönlichen Lage und des Familienstands objektive Unterschiede bestehen (Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 31 ff., sowie vom 27. Juni 1996, Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 41).

 

87        Jedoch kann bei einer steuerlichen Vergünstigung, die Gebietsfremden nicht gewährt wird, eine Ungleichbehandlung dieser beiden Gruppen von Steuerpflichtigen als „Diskriminierung“ angesehen werden, wenn kein objektiver Unterschied zwischen den beiden Gruppen von Steuerpflichtigen besteht, der eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Februar 1995, Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 36 bis 38, und vom 27. Juni 1996, Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 42).

 

Zur Vergleichbarkeit der Situationen

88        Die deutsche Regierung macht insoweit geltend, im Hinblick auf das Veranlagungswahlrecht befänden sich in der Schweiz ansässige Arbeitnehmer nicht in einer vergleichbaren Situation wie in Deutschland ansässige Arbeitnehmer. Dies gelte insbesondere angesichts der Ziele einer Veranlagung zur deutschen Einkommensteuer, die es beim Bezug von Einkünften aus nicht selbständiger Arbeit ermögliche, den Lohnsteuereinbehalt zu überprüfen und eine zutreffende Einkommensteuer festzusetzen.

 

89        Erstens können nach Ansicht der deutschen Regierung sowohl gebietsansässige als auch gebietsfremde Arbeitnehmer über dem Arbeitnehmer-Pauschbetrag liegende Werbungskosten durch Eintragung des Freibetrags berücksichtigen lassen. Während für gebietsfremde Arbeitnehmer die entsprechende Antragsfrist am 31. Dezember des Kalenderjahrs, in dem der Freibetrag gelte, ablaufe, ende die entsprechende Frist für gebietsansässige Arbeitnehmer am 30. November des betreffenden Kalenderjahrs.

 

90        Daher müsse ansässigen Arbeitnehmern die Möglichkeit eingeräumt werden, die Antragsveranlagung zu wählen, um die möglicherweise höheren oder unvorhersehbaren im Dezember des Steuerjahrs entstehenden Werbungskosten, für die die Eintragung des Freibetrags nicht möglich sei, steuermindernd berücksichtigen zu können. Eine solche Notwendigkeit bestehe für in der Schweiz ansässige Arbeitnehmer, die in Deutschland beschränkt steuerpflichtig seien, angesichts der längeren Frist für die Beantragung der Eintragung des Freibetrags nicht.

 

91        Zweitens befänden sich gebietsansässige und gebietsfremde Arbeitnehmer hinsichtlich der steuerlichen Vergünstigungen zur Berücksichtigung ihrer persönlichen Lage und des Familienstands nicht in einer vergleichbaren Situation, und AB gehöre auch nicht zu dem Personenkreis, der auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werde, weil der wesentliche Teil seiner Welteinkünfte in Deutschland steuerpflichtig sei.

 

92        Drittens macht die deutsche Regierung unter Bezugnahme auf das Urteil vom 22. Dezember 2008, Truck Center (C-282/07, EU:C:2008:762, Rn. 47), geltend, dass unterschiedliche Besteuerungsverfahren für beschränkt und unbeschränkt Steuerpflichtige die unterschiedliche Lage dieser Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Einziehung der Steuer widerspiegelten.

 

93        Hierzu ist festzustellen, dass die deutsche Regelung, wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, vorsieht, dass Personen mit Wohnsitz in anderen Mitgliedstaaten der Union oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens, die in Deutschland beschränkt einkommensteuerpflichtig sind, die Antragsveranlagung ihrer Lohneinkünfte in Anspruch nehmen können, um nach Durchführung des Steuerabzugs bei der Auszahlung ihres Lohns ihre Werbungskosten abzuziehen.

 

94        Damit stellt die deutsche Regelung gebietsansässige Steuerpflichtige insoweit bestimmten gebietsfremden Steuerpflichtigen gleich und erkennt somit die Vergleichbarkeit ihrer Situationen für die Zwecke der Besteuerung ihrer in Deutschland bezogenen Löhne an. Folglich kann nicht angenommen werden, dass die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen als Gebietsfremder für sich genommen dazu führt, dass sich die Situation dieses Steuerpflichtigen objektiv von der eines gebietsansässigen Steuerpflichtigen unterscheidet. Die deutsche Regierung hat nichts vorgetragen, womit dargetan würde, dass der Wohnsitz eines Steuerpflichtigen gerade in der Schweiz seine Situation objektiv von der eines in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen unterscheiden würde.

 

95        Außerdem ist das Vorbringen der deutschen Regierung, mit dem die Vergleichbarkeit der Situationen dieser Steuerpflichtigen in Abrede gestellt wird, zurückzuweisen.

 

96        Was erstens das Argument betrifft, dass nur gebietsansässige Steuerpflichtige mit den Nachteilen konfrontiert würden, die sich aus einer kürzeren Frist für die Eintragung des Freibetrags ergäben, ist festzustellen, dass sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht ergibt, dass die Antragsveranlagung gegenüber dem Verfahren zur Eintragung des Freibetrags ergänzender Natur wäre. Vielmehr ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass die Antragsveranlagung ein alternatives, im Vergleich zum Verfahren zur Eintragung des Freibetrags weniger strenges Verfahren darstellt, um eine Berücksichtigung der Werbungskosten zu erreichen.

 

97        Das vorlegende Gericht hat nämlich darauf hingewiesen, dass die Abgabe der Steuererklärung als Ausübung des Wahlrechts gelte und dass der Steuerpflichtige innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist entscheiden könne, ob er eine Einkommensteuererklärung abgeben möchte, was er nur tun werde, wenn die gezahlte Lohnsteuer höher sei als die ermittelte Einkommensteuer. Dagegen zwinge die Eintragung des Freibetrags den Steuerpflichtigen dazu, eine Prognoseentscheidung zur Höhe der voraussichtlichen steuerpflichtigen Einnahmen und der abziehbaren Werbungskosten zu treffen, und sei mit der Unsicherheit eines zu hohen Freibetrags und einer möglichen Nachzahlung durch den Steuerpflichtigen verbunden. Darüber hinaus bestehe nach Eintragung eines Freibetrags für den Steuerpflichtigen eine mit Straf- und Zwangsmitteln bewehrte Pflicht zur Erklärungsabgabe, wobei die Frist hierfür deutlich kürzer sei als die geltende Festsetzungsverjährung.

 

98        Folglich kann – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – der Unterschied der Situationen im Hinblick auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Antragsveranlagung nicht darauf zurückgeführt werden, dass für Gebietsansässige und Gebietsfremde für die Eintragung des Freibetrags unterschiedliche Fristen gelten.

 

99        Zweitens befinden sich zwar, wie sich aus der oben in den Rn. 86 und 87 angeführten Rechtsprechung ergibt, Gebietsansässige und Gebietsfremde hinsichtlich der steuerlichen Vergünstigungen zur Berücksichtigung ihrer persönlichen Lage und des Familienstands in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation. Allerdings ermöglicht das Recht auf Antragsveranlagung die Berücksichtigung von Werbungskosten.

 

100      Insoweit genügt der Hinweis, dass sich die Berücksichtigung solcher Kosten nicht aus der persönlichen Situation des Steuerpflichtigen ergibt, sondern daraus, dass diese Kosten aufgewandt wurden, um Einkünfte aus einer nicht selbständigen Tätigkeit zu erzielen, und die deutsche Regelung, wie sich aus § 50 Abs. 1 EStG ergibt, die Berücksichtigung von Werbungskosten für gebietsfremde Steuerpflichtige vorsieht, soweit diese Kosten mit deutschen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen. Folglich ist die Gleichstellung von gebietsansässigen und gebietsfremden Steuerpflichtigen bei der Berücksichtigung von Werbungskosten, die mit deutschen Einkünften in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen, in der deutschen Regelung selbst angelegt.

 

101      Drittens ist zum Argument der deutschen Regierung, dass gebietsansässige und gebietsfremde Steuerpflichtige hinsichtlich der Steuererhebung unterschiedlich gestellt seien, festzustellen, dass sich die nachteilige steuerliche Behandlung nicht aus einem Unterschied in der Erhebungstechnik ergibt, da die Lohnsteuer, wie aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervorgeht, in beiden Fällen durch Steuerabzug erhoben wird, ohne dass diese Erhebung durch die Antragsveranlagung in Frage gestellt würde. Außerdem führt, wie das vorlegende Gericht erläutert, das Recht auf Antragsveranlagung nicht zu einer nachzufordernden Steuerschuld und daraus resultierenden Schwierigkeiten für die Bundesrepublik Deutschland. Es bedarf auch keiner besonderen Amtshilfe zur Sachverhaltsermittlung und Steuererhebung.

 

102      Folglich kann Art. 21 Abs. 2 FZA nicht geltend gemacht werden, um einem Arbeitnehmer die im Recht, die Antragsveranlagung zu wählen, bestehende steuerliche Vergünstigung allein deshalb zu versagen, weil sich sein Wohnsitz in der Schweiz und nicht in Deutschland befindet.

 

Zum Vorliegen einer Rechtfertigung

103      Somit ist zu prüfen, ob, wie die deutsche Regierung vorträgt, eine solche Ungleichbehandlung nach Art. 21 Abs. 3 FZA oder durch den im Allgemeininteresse liegenden zwingenden Grund, dass die Kohärenz des Steuersystems gewährleistet werden muss, gerechtfertigt werden kann.

 

104      Erstens bestimmt Art. 21 Abs. 3 FZA insbesondere, dass das FZA die Vertragsparteien nicht daran hindert, Maßnahmen zu beschließen oder anzuwenden, um nach Maßgabe der Bestimmungen der nationalen Steuergesetzgebung einer Vertragspartei die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder die Steuerflucht zu verhindern. Der Gerichtshof hat entschieden, dass solche Maßnahmen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Freizügigkeit von Personen in der Union zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, jedenfalls den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten müssen; d. h., sie müssen zur Erreichung dieser Ziele geeignet sein und dürfen nicht über das hinausgehen, was hierfür erforderlich ist (Urteil vom 26. Februar 2019, Wächtler, C-581/17, EU:C:2019:138, Rn. 63).

 

 

105      Die Versagung einer Antragsveranlagung ist jedoch keine geeignete Maßnahme, um die Besteuerung sowie die Zahlung und die tatsächliche Erhebung der Steuern zu gewährleisten oder Steuerflucht zu verhindern. Insoweit geht, wie oben in Rn. 101 ausgeführt worden ist, aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass das Recht auf Antragsveranlagung nicht zu einer nachzufordernden Steuerschuld und daraus resultierenden Schwierigkeiten im Erhebungsverfahren für die Bundesrepublik Deutschland führt und auch keiner besonderen Amtshilfe zur Sachverhaltsermittlung und Steuererhebung bedarf.

 

106      Wie der Generalanwalt in Nr. 89 der Schlussanträge ausgeführt hat, sichert der Steuerabzug, der auf in Deutschland an in der Schweiz ansässige Personen ausgezahlte Löhne angewendet wird, eine korrekte Erhebung der Einkommensteuer durch die deutschen Behörden in Bezug auf diese Einkünfte.

 

107      Zweitens macht die deutsche Regierung geltend, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, die steuerliche Kohärenz zu gewährleisten. Die Möglichkeit unbeschränkt einkommensteuerpflichtiger Arbeitnehmer, die Antragsveranlagung zu wählen, folge nämlich spiegelbildlich ihrer Möglichkeit, die Eintragung des Freibetrags bis zum 30. November des betreffenden Kalenderjahrs zu beantragen.

 

108      Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass der im Allgemeininteresse liegende zwingende Grund, dass die steuerliche Kohärenz gewährleistet werden muss, geltend gemacht werden kann, um eine nach Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA grundsätzlich verbotene Ungleichbehandlung zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. September 2016, Radgen, C-478/15, EU:C:2016:705, Rn. 50, 52 und 54). Damit ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument durchgreifen kann, muss noch ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der betreffenden steuerlichen Vergünstigung und deren Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung nachgewiesen werden (vgl. entsprechend Urteile vom 27. Juni 1996, Asscher, C-107/94, EU:C:1996:251, Rn. 58, und vom 16. Juli 1998, ICI, C-264/96, EU:C:1998:370, Rn. 29).

 

109      Wie oben in Rn. 96 ausgeführt, fehlt es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens an einem solchen unmittelbaren Zusammenhang.

 

Zur „Stand still“-Klausel

110      Schließlich macht die deutsche Regierung geltend, der Umstand, dass in der Schweiz ansässigen und in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern die Antragsveranlagung versagt werde, laufe aufgrund der „Stand still“-Klausel in Art. 13 FZA, der entsprechend Art. 64 AEUV auszulegen sei, dem FZA nicht zuwider. Diese Klausel verleihe einen Anspruch auf Aufrechterhaltung der bestehenden Beschränkungen, wobei hierfür nicht der Zeitpunkt der Unterzeichnung des FZA maßgeblich sei, sondern der Zeitpunkt von dessen Inkrafttreten, d. h. der 1. Juni 2002. Nur eine solche Auslegung, die sich gerade aus der Einstufung als „Stand still“-Klausel ergebe, gewährleiste die praktische Wirksamkeit einer solchen Klausel.

 

111      Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die Vertragsparteien nach dem Wortlaut von Art. 13 FZA dazu verpflichten, in den unter dieses Abkommen fallenden Bereichen keine neuen Beschränkungen für Staatsangehörige der anderen Vertragspartei einzuführen. Art. 13 FZA enthält dagegen keinen Hinweis auf ein etwaiges Recht der Vertragsstaaten des FZA, bestehende Beschränkungen aufrechtzuerhalten.

 

112      Art. 13 FZA unterscheidet sich insoweit wesentlich von Art. 64 AEUV, der ausdrücklich vorsieht, dass Art. 63 AEUV nicht die Anwendung derjenigen Beschränkungen auf dritte Länder berührt, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder aufgrund von Rechtsvorschriften der Union für bestimmte Formen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern bestehen.

 

113      Das Recht auf Aufrechterhaltung von Maßnahmen, die als Ausnahmen von dem in Art. 9 des Anhangs I des FZA verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz angesehen werden können, kann außerdem weder aus dem Zusammenhang, in den sich Art. 13 FZA einfügt, noch aus den mit dem FZA verfolgten Zielen abgeleitet werden.

 

114      Zum einen gehört Art. 13 FZA zu Titel II („Allgemeine und Schlussbestimmungen“) des FZA, zu dem auch Art. 10 FZA gehört, der das Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft und bestimmter Mitgliedstaaten vorsieht, für einen bestimmten Zeitraum Höchstzahlen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit für bestimmte Kategorien von Aufenthalten und die Kontrolle der Einhaltung des Vorrangs der in den regulären Arbeitsmarkt integrierten Arbeitnehmer und die Kontrolle der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen für die Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei aufrechtzuerhalten, sowie das Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, innerhalb ihrer Gesamtkontingente eine Mindestanzahl neuer Aufenthaltserlaubnisse für Arbeitnehmer und Selbständige der Union zu behalten.

 

115      In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hätte eine Befugnis der Vertragsparteien, Maßnahmen aufrechtzuerhalten, die als Ausnahmen von diesem Grundsatz angesehen werden können, so wie die in Art. 10 FZA genannten Beschränkungen der Freizügigkeit ausdrücklich Gegenstand einer Bestimmung des FZA sein müssen.

 

116      Zum anderen liefe eine Auslegung des FZA dahin, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung oder des Inkrafttretens dieses Abkommens bestehende Beschränkungen während seiner gesamten Laufzeit aufrechterhalten werden dürfen, den mit dem FZA verfolgten – oben in den Rn. 50 und 53 dargelegten – Zielen zuwider, die darin bestehen, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Freizügigkeit im Hoheitsgebiet dieser Vertragsparteien zu verwirklichen und diesen Staatsangehörigen u. a. ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit sowie gleiche Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer einzuräumen.

 

117      Folglich kann Art. 13 FZA nicht dahin ausgelegt werden, dass er es zulässt, dass in der Schweiz ansässigen und in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern die Antragsveranlagung weiterhin versagt wird.

 

118      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 7 und 15 FZA in Verbindung mit Art. 9 Abs. 2 des Anhangs I des FZA dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der das Recht, für Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit die Antragsveranlagung zu wählen, um die Berücksichtigung von Aufwendungen wie Werbungskosten und die Anrechnung von im Steuerabzugsverfahren einbehaltener Lohnsteuer zu erreichen, was zu einer Einkommensteuererstattung führen kann, Steuerpflichtigen mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, eines anderen Mitgliedstaats oder eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens und Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten vorbehalten ist und insbesondere nicht einem Staatsangehörigen des erstgenannten Mitgliedstaats offensteht, der seinen Wohnsitz in der Schweiz hat und die Einkünfte aus nicht selbständiger Arbeit in diesem Mitgliedstaat erzielt.

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