BFH: Ableitung des gemeinen Werts nicht notierter Anteile an einer Kapitalgesellschaft
BFH, Urteil vom 22.1.2009 - II R 43/07
Vorinstanz: FG Berlin vom 5.10.2005 - 6 K 6338/01
LEITSÄTZE
1. Bei der Ableitung des gemeinen Werts aus stichtagsnahen Verkäufen (§ 11 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BewG) ist ein nach dem Bewertungsstichtag geminderter Kaufpreis maßgebend, wenn bereits am Bewertungsstichtag die Voraussetzungen eines Minderungsrechts objektiv vorhanden waren und die Minderung auch später tatsächlich vollzogen worden ist.
2. § 103 Abs. 2 BewG findet auf die Ermittlung des gemeinen Werts nicht notierter Anteile gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 (Alt. 1) BewG keine Anwendung.
BewG § 11 Abs. 2 Satz 2, § 103 Abs. 2
SACHVERHALT
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Gesamtrechtsnachfolgerin der G. Grundstücks GmbH (G-GmbH), an deren Stammkapital von 100 000 DM zum Feststellungszeitpunkt 31. Dezember 1994 die Beigeladene zu 1, eine GmbH, mit 99 v.H. und eine weitere GmbH, deren Liquidator der Beigeladene zu 2 ist, mit 1 v.H. beteiligt waren. Die G-GmbH beantragte in ihrer Erklärung vom 15. März 1996 zur Feststellung des gemeinen Werts nicht notierter Anteile an Kapitalgesellschaften auf den 31. Dezember 1994, den gemeinen Wert für 100 DM des Nennkapitals auf 29 798 DM festzustellen. Diesen Wert hatte sie auf der Grundlage des Vertrags vom 22. Juni 1994, mit dem Gesellschafter der G-GmbH Gesellschaftsanteile im Nennwert von 54 000 DM für einen Kaufpreis von 16 091 304 DM an die Beigeladene zu 1 veräußert hatten, ermittelt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) stellte den gemeinen Wert der Anteile an der Klägerin auf den 31. Dezember 1994 antragsgemäß durch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 der Abgabenordnung --AO--) ergangenen Feststellungsbescheid vom 29. März 1996 fest.
Die G-GmbH beantragte im Jahr 1997, den Feststellungsbescheid dahin zu ändern, dass der gemeine Wert der Anteile auf 78 DM je 100 DM des Stammkapitals herabgesetzt wird. Sie verwies zur Begründung auf eine am 5. Oktober 1995 zwischen den Parteien des Kaufvertrags vom 22. Juni 1994 vereinbarte Reduzierung des Kaufpreises für die veräußerten Gesellschaftsanteile um 5 257 074 DM. Da die Beigeladene zu 1 ferner mit dem Kaufvertrag vom 22. Juni 1994 einen Gewinnausschüttungsanspruch in Höhe von 10 792 059 DM erworben und in ihrer Bilanz auf den 31. Dezember 1994 aktiviert habe, sei der gezahlte Kaufpreis zur Vermeidung einer substanzsteuerlichen Doppelbesteuerung gemäß § 103 Abs. 2 des Bewertungsgesetzes (BewG) entsprechend zu vermindern. Diesen Änderungsantrag lehnte das FA ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage unter Hinweis auf die gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 (1. Alternative) BewG zwingende Ableitung des gemeinen Werts aus Verkäufen ab. Aus der Sicht eines gedachten Erwerbers hätten zum Bewertungsstichtag keine Erkenntnisse vorgelegen, die einen Abschlag auf den ermittelten gemeinen Wert hätten rechtfertigen können. § 103 Abs. 2 BewG sei auf eine aus stichtagsnahen Verkäufen abgeleitete Anteilsbewertung unanwendbar.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 11 Abs. 2, 103 Abs. 2 BewG.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung vom 17. November 2003 den Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung des gemeinen Werts ihrer Gesellschaftsanteile auf den 31. Dezember 1994 dahingehend zu ändern, dass der gemeine Wert der Anteile auf 78 DM für je 100 DM des Nennkapitals herabgesetzt wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladenen stellen keine Anträge.
AUS DEN GRÜNDEN
II.
Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht angenommen, bei der Ableitung des gemeinen Werts nicht notierter Anteile an einer Kapitalgesellschaft aus stichtagsnahen Verkäufen gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 (1. Alternative) BewG sei eine nach dem Bewertungsstichtag vollzogene Kaufpreisminderung nur zu berücksichtigen, wenn der Erwerber am Bewertungsstichtag Erkenntnisse über die eine Kaufpreisreduzierung rechtfertigenden Umstände hatte.
1. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BewG sind Anteile an Kapitalgesellschaften mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Nach Satz 2 (1. Alternative) der Vorschrift ist der gemeine Wert in erster Linie aus Verkaufsfällen abzuleiten, die weniger als ein Jahr zurückliegen. Die Ermittlung des gemeinen Werts aufgrund von Verkäufen hat Vorrang vor der Schätzung i.S. des Satzes 2 2. Alternative (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23. Februar 1979 III R 44/77, BFHE 128, 254 , BStBl II 1979, 618; vom 5. März 1986 II R 232/82, BFHE 146, 460, BStBl II 1986, 591; vom 5. Februar 1992 II R 185/87, BFHE 167, 166, BStBl II 1993, 266). Der Sinn und Zweck des § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG besteht darin, dieses Rangverhältnis der beiden Methoden der Ermittlung des gemeinen Werts im Sinne des Vorrangs der Ableitung des gemeinen Werts aus der Wertbestätigung am Markt zu regeln (BFH-Urteil in BFHE 146, 460, BStBl II 1986, 591).
a) Maßgebend ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 (1. Alternative) BewG der Preis, der bei einer Veräußerung im gewöhnlichen Geschäftsverkehr (§ 9 Abs. 2 Satz 1 BewG) tatsächlich erzielt wurde (BFH-Entscheidungen in BFHE 146, 460, BStBl II 1986, 591, und vom 22. August 2002 II B 170/01, BFH/NV 2003, 11). Gewöhnlicher Geschäftsverkehr i.S. des § 9 Abs. 2 Satz 1 BewG ist der Handel, der sich nach den marktwirtschaftlichen Grundsätzen von Angebot und Nachfrage vollzieht und bei dem jeder Vertragspartner ohne Zwang und nicht aus Not, sondern freiwillig in Wahrung seiner eigenen Interessen zu handeln in der Lage ist (BFH-Entscheidungen in BFHE 128, 254, BStBl II 1979, 618, und in BFH/NV 2003, 11, m.w.N.). Der gemeine Wert kann auch aus einem einzigen Verkauf abgeleitet werden, wenn Gegenstand des Verkaufs nicht nur ein Zwerganteil ist (BFH-Urteil in BFHE 146, 460, BStBl II 1986, 591). Bei der Ableitung des Werts nicht notierter Anteile aus Verkäufen müssen grundsätzlich Verkäufe nach dem Stichtag außer Betracht bleiben (BFH-Urteil vom 30. Januar 1976 III R 74/74, BFHE 118, 234, BStBl II 1976, 280). Eine Ausnahme ist nur für Sachverhalte zuzulassen, bei denen zwar der eigentliche Vertragsabschluss kurz (d.h. innerhalb einer nach Wochen zu bemessenden Zeitspanne) nach dem Bewertungsstichtag stattfand, die Einigung über den Kaufpreis aber bereits vorher herbeigeführt war (BFH-Entscheidungen vom 2. November 1988 II R 52/85, BFHE 155, 121, BStBl II 1989, 80; vom 16. Mai 2003 II B 50/02, BFH/NV 2003, 1150).
b) Da § 11 Abs. 2 Satz 2 (1. Alternative) BewG die Ermittlung des Werts nicht notierter Anteile an der Wertbestätigung am Markt ausrichtet, ist bei der Ableitung des gemeinen Werts aus stichtagsnahen Verkäufen eine nach Abschluss des Kaufvertrags noch im Jahr vor dem Stichtag eingetretene, d.h. vollzogene Kaufpreisminderung zu berücksichtigen. Die Minderung des Kaufpreises führt --bei Fortbestand des Kaufvertrags mit allen Rechten und Pflichten im Übrigen-- zu einer Herabsetzung des vereinbarten Kaufpreises auf den Betrag, um den der Mangel den Wert des Kaufgegenstands mindert (§ 472 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs --BGB-- a.F.; § 441 Abs. 1 BGB n.F.). Damit ist erst der geminderte Kaufpreis derjenige, aus dem eine endgültige Wertbestätigung am Markt entnommen werden kann.
c) Auch soweit der vereinbarte Kaufpreis nach dem Bewertungsstichtag gemindert wird, kann der geminderte Kaufpreis zur Ableitung des gemeinen Werts gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 (1. Alternative) BewG heranzuziehen sein. Voraussetzung hierfür ist, dass bereits am Bewertungsstichtag die Voraussetzungen eines Minderungsrechts objektiv vorhanden waren und die Minderung auch tatsächlich später vollzogen wurde. Insoweit kann daher --entgegen der Meinung des FG-- nicht auf den Erkenntnisstand des Erwerbers abgestellt werden. Die Maßgeblichkeit eines am Bewertungsstichtag objektiv vorhandenen Minderungsgrundes folgt aus der bei der Ermittlung des gemeinen Werts der Anteile an einer Kapitalgesellschaft gebotenen Heranziehung objektivierter Wertmaßstäbe (BFH-Urteil vom 14. Februar 1969 III 88/65, BFHE 95, 334, BStBl II 1969, 395). Der Erwerber trägt die Feststellungslast für die das objektive Vorhandensein eines Minderungsrechts am Bewertungsstichtag begründenden Tatsachen sowie den tatsächlichen Vollzug der Minderung. Soweit dieser Nachweis nicht gelingt, verbleibt es bei der Ableitung des gemeinen Werts aus dem vereinbarten Kaufpreis.
Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif.
a) Das FG hat im zweiten Rechtsgang die erforderlichen Feststellungen zu treffen, ob für die Beigeladene zu 1 am Bewertungsstichtag die Voraussetzungen eines Minderungsrechts objektiv vorhanden waren und die Minderung später auch tatsächlich vollzogen worden ist. War dies der Fall, so ist der gemeine Wert der Anteile aus dem geminderten Kaufpreis abzuleiten. Andernfalls bleibt es für die Ermittlung des gemeinen Werts bei der Maßgeblichkeit des vereinbarten Kaufpreises.
b) In keinem Fall kann der (ggf. geminderte) Kaufpreis bei der Ableitung des gemeinen Werts in Anwendung des § 103 Abs. 2 BewG um den Betrag gekürzt werden, den die Beigeladene zu 1 in ihrer Steuerbilanz auf den 31. Dezember 1994 als Gewinnausschüttungsanspruch gegen die G-GmbH aktiviert hat. Regelungsgegenstand des § 103 Abs. 2 BewG ist allein die Ermittlung des Betriebsvermögens der beherrschten Gesellschaft. Die von der Klägerin herausgestellte Problematik einer Doppelbelastung, die sich bei der Ermittlung des Betriebsvermögens ohne die Regelung des § 103 Abs. 2 BewG ergäbe, stellt sich auf der Ebene der Ermittlung des gemeinen Werts der GmbH-Anteile gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG hingegen nicht. Daher kommt mangels Regelungslücke auch eine analoge Anwendung des § 103 Abs. 2 BewG nicht in Betracht. Ein im gewöhnlichen Geschäftsverkehr gebildeter Kaufpreis für den Kauf von GmbH-Geschäftsanteilen umfasst auch ein Entgelt dafür, dass der Käufer die Auszahlung seines Gewinnanteils beanspruchen kann.