EuGH: Ablehnung der Eintragung einer Gesellschaft in das Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen
EuGH, Urteil vom 14.3.2013 - C-527/11, Ablessio
Tenor
Die Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, einer Gesellschaft die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer nur deshalb zu versagen, weil sie nach Ansicht dieser Verwaltung nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angegebene wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, und der Inhaber der Anteile dieser Gesellschaft bereits mehrfach eine solche Nummer für Gesellschaften erhalten hat, die nie wirklich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben und deren Anteile kurz nach der Zuteilung dieser Nummer übertragen wurden, ohne dass die betreffende Steuerverwaltung anhand objektiver Anhaltspunkte dargelegt hat, dass ernsthafte Anzeichen für den Verdacht bestehen, dass die zugeteilte Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in betrügerischer Weise verwendet werden wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu würdigen, ob die Steuerverwaltung ernsthafte Anzeichen für das Vorliegen eines Risikos der Steuerhinterziehung im Ausgangsverfahren vorgelegt hat.
Aus den Gründen
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Valsts ieņēmumu dienests (lettische Finanzverwaltung, im Folgenden: VID) und der Ablessio SIA (im Folgenden: Ablessio) wegen der Weigerung des VID, Ablessio in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen einzutragen.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2006/112
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Die Begriffe „Steuerpflichtiger" und „wirtschaftliche Tätigkeit" werden in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 wie folgt definiert:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen."
4
Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.
Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben."
5
In Art. 214 der Richtlinie heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:
a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;
b) jeder Steuerpflichtige und jede nichtsteuerpflichtige juristische Person, der bzw. die gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Mehrwertsteuer unterliegende innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen bewirkt oder von der Möglichkeit des Artikels 3 Absatz 3, seine bzw. ihre innergemeinschaftlichen Erwerbe der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, Gebrauch gemacht hat;
...
(2) Die Mitgliedstaaten haben die Möglichkeit, bestimmten Steuerpflichtigen, die nur gelegentlich Umsätze ... bewirken, keine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zu erteilen."
6
Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen."
Lettisches Recht
7
Das Gesetz über die Mehrwertsteuer (Likums Par pievienotās vērtības nodokļi, Latvijas Vēstnesis, 1995, Nr. 49) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt in Art. 3 Abs. 1‑1, Unterabs. 2:
„Der VID kann die Eintragung einer Person in das Register ablehnen, wenn:
1. sie an ihrem Rechtssitz oder Wohnsitz nicht erreichbar ist;
2. sie nach Aufforderung des VID keine oder falsche Angaben zu ihren materiellen, technischen und finanziellen Möglichkeiten macht, die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben."
8
Art. 3 Abs. 5 dieses Gesetzes lautet:
„Erreicht oder überschreitet der Gesamtwert der von einer natürlichen oder juristischen Person oder von einer Gruppe dieser Personen oder ihrem Vertreter auf der Grundlage eines Vertrags oder einer Vereinbarung innerhalb der letzten zwölf Monate erbrachten steuerpflichtigen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen nicht den Betrag von 10 000 LVL, so sind diese Personen, diese Gruppe oder ihre Vertreter berechtigt, von einer Anmeldung zu dem beim VID geführten Mehrwertsteuerregister abzusehen. Dies gilt auch für die vom Staatshaushalt getragenen Einrichtungen. Wer von dem in diesem Absatz vorgesehenen Recht Gebrauch macht, ist verpflichtet, sich binnen 30 Tagen ab dem Tag, an dem der vorgenannte Betrag erreicht oder überschritten ist, zu dem beim VID geführten Mehrwertsteuerregister anzumelden."
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9
Ablessio, eine lettische Gesellschaft mit beschränkter Haftung, beantragte beim VID ihre Eintragung in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen. Der VID lehnte die Eintragung mit Entscheidung vom 15. November 2007, die auf ihren Widerspruch hin mit Entscheidung vom 27. November 2007 bestätigt wurde, ab, da Ablessio nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Fähigkeiten verfüge, um die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit, und zwar die Erbringung von Bauleistungen, auszuüben.
Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass der VID sich für den Erlass dieser Entscheidungen auf die Feststellungen stützte, wonach Ablessio über keine Anlagegüter verfüge und keinen Mietvertrag über solche Anlagegüter geschlossen habe. Es sei ein Büromietvertrag über eine Nutzfläche von nur 4 m² geschlossen worden. Die Gesellschaft sei nicht in das Register der Bauunternehmen eingetragen und seit ihrer Gründung keiner effektiven wirtschaftlichen Tätigkeit nachgegangen. Der einzige Angestellte der Gesellschaft, der offenbar nicht bezahlt worden sei, sei der Vorsitzende des Verwaltungsrats gewesen.
Ablessio reichte eine Klage auf Aufhebung der Entscheidungen über die Versagung der Eintragung in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen vor dem Administratīvā rajona tiesa (Verwaltungsgericht erster Instanz) ein, das der Klage mit Urteil vom 20. Oktober 2009 stattgab und den VID verpflichtete, diese Gesellschaft in das Register einzutragen. Das Gericht war der Auffassung, dass Ablessio dem VID Angaben zu ihrer Fähigkeit, die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, gemacht habe und dass die Richtigkeit dieser Angaben nicht bestritten werde. Infolgedessen lägen die im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen, die dem VID erlaubten, die Eintragung eines Wirtschaftsteilnehmers in dieses Register zu versagen, nicht vor.
Auf die vom VID eingelegte Berufung hin bestätigte das Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsgericht) mit Urteil vom 13. Dezember 2010 das erstinstanzliche Urteil, weil es ebenfalls der Auffassung war, dass das Gesetz über die Mehrwertsteuer dem VID keine Befugnis einräume, zu prüfen, ob die Person, die in das Register eingetragen werden wolle, fähig sei, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Dabei sei es nicht von Bedeutung, dass diese Person bereits die Eintragung mehrerer Unternehmen in das Register beantragt und erlangt habe, die unmittelbar nach der Eintragung auf andere Personen, deren Einkünfte es nicht erlaubt hätten, das Gesellschaftskapital einzuzahlen, übertragen worden seien, da dieses Gesetz nicht vorsehe, dass solche Umstände einen Grund für die Versagung der Eintragung einer Person in das Register darstellten. Um ein möglicherweise rechtswidriges Handeln des Steuerpflichtigen bei der Abführung der Umsatzsteuer zu verhindern, sehe das gesetzliche Verfahren vor, dass der VID beim Steuerpflichtigen Kontrollen durchführen und bei Feststellung eines Gesetzesverstoßes einen Steuerzuschlag und Geldbußen festsetzen müsse.
Der VID hat vor dem vorlegenden Gericht gegen das Urteil des Administratīvā apgabaltiesa ein Rechtsmittel eingelegt und geltend gemacht, dass das betreffende Gericht bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 1‑1 Unterabs. 2 des Gesetzes über die Mehrwertsteuer einen Fehler begangen habe. Diese Bestimmung verpflichte den VID nämlich, zu prüfen, ob eine Person fähig sei, die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben.
Unter Verweis auf das Urteil vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C‑385/09, Slg. 2010, I‑10385), hat das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112.
Unter diesen Umständen hat der Augstākās tiesas Senāts beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen, dass sie es verbietet, die Zuteilung einer individuellen Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer mit der Begründung zu versagen, dass der Inhaber der Anteile an dem Steuerpflichtigen zuvor mehrmals eine individuelle Nummer für andere Unternehmen erhalten habe, die keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hätten und deren Anteile unmittelbar nach Zuteilung der individuellen Nummer vom Anteilsinhaber auf andere Personen übertragen worden seien?
2. Ist Art. 214 in Verbindung mit Art. 273 der genannten Richtlinie dahin auszulegen, dass der VID befugt ist, sich vor der Zuteilung der individuellen Nummer zu vergewissern, dass der Steuerpflichtige zur Ausübung der steuerpflichtigen Tätigkeit fähig ist, wenn mit dieser Überprüfung das Ziel verfolgt wird, die korrekte Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden?
Zu den Vorlagefragen
Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, zur Sicherstellung der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Vermeidung von Steuerhinterziehung einer Gesellschaft die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer nur deshalb zu versagen, weil sie nach Ansicht dieser Verwaltung nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, und der Inhaber der Anteile dieser Gesellschaft bereits mehrfach eine solche Nummer für Gesellschaften erhalten hat, die nie wirklich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben und deren Anteile kurz nach der Zuteilung dieser Nummer übertragen wurden.
Es ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 jeder Steuerpflichtige die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen hat. Art. 214 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Steuerpflichtigen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten.
Das Hauptziel der in Art. 214 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Identifizierung der Steuerpflichtigen besteht im ordnungsgemäßen Funktionieren des Mehrwertsteuersystems (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Dankowski, C‑438/09, Slg. 2010, I‑14009, Randnr. 33).
Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer dem Nachweis des steuerlichen Status des Steuerpflichtigen für die Zwecke der Mehrwertsteuer dient und die Kontrolle der Steuerpflichtigen für eine genaue Erhebung der Steuer erleichtert. Im Rahmen der Übergangsregelung für die Besteuerung des Handelsverkehrs innerhalb der Europäischen Union soll die Identifizierung der Mehrwertsteuerpflichtigen durch individuelle Nummern auch die Bestimmung des Mitgliedstaats erleichtern, in dem der Endverbrauch der gelieferten Gegenstände erfolgt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Mecsek-Gabona, C‑273/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 57 und 60, sowie vom 27. September 2012, VSTR, C‑587/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 51).
Außerdem stellt die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer ein wichtiges Beweismittel für die bewirkten Umsätze dar. Die Richtlinie 2006/112 verlangt nämlich in mehreren Bestimmungen über u. a. die Rechnungstellung, die Erklärung und die zusammenfassende Meldung, dass diese Identifikationsnummer des Steuerpflichtigen, des Erwerbers von Gegenständen oder des Empfängers von Dienstleistungen in den betreffenden Unterlagen enthalten sein muss.
Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser Vorbemerkungen zu beantworten.
Es ist festzustellen, dass, obwohl Art. 214 der Richtlinie 2006/112 die Kategorien von Personen aufzählt, die eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten müssen, diese Bestimmung nicht die Voraussetzungen vorsieht, denen die Erteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer unterstellt werden kann. Aus dem Wortlaut dieses Artikels und des Art. 213 der Richtlinie 2006/112 ergibt sich nämlich, dass die Mitgliedstaaten über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, wenn sie Maßnahmen erlassen, um die Identifizierung der Steuerpflichtigen für die Zwecke der Mehrwertsteuer sicherzustellen.
Allerdings kann dieser Gestaltungsspielraum nicht unbegrenzt sein. Denn es steht den Mitgliedstaaten zwar frei, einem Steuerpflichtigen die Zuteilung einer individuellen Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zu versagen, doch kann von dieser Möglichkeit nicht ohne berechtigten Grund Gebrauch gemacht werden.
Außerdem ergibt sich aus dem Begriff „Steuerpflichtiger", wie er in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 definiert wird, dass jeder, der eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt, darunter fällt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist dieser Begriff weit auszulegen. Jeder, der die durch objektive Anhaltspunkte belegte Absicht hat, eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig auszuüben, und erste Investitionsausgaben für diese Zwecke tätigt, hat als Steuerpflichtiger zu gelten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juni 2000, Breitsohl, C‑400/98, Slg. 2000, I‑4321, Randnr. 34, und vom 1. März 2012, Polski Trawertyn, C‑280/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).
Aus dieser Rechtsprechung sowie aus dem Wortlaut von Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ergibt sich, dass als Steuerpflichtige, die die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer beantragen können, nicht nur die Personen angesehen werden, die bereits eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, sondern auch diejenigen, die beabsichtigen, eine solche Tätigkeit aufzunehmen, und die erste Investitionsausgaben zu diesem Zweck tätigen. Diese Personen sind so in diesem Vorstadium ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit möglicherweise nicht in der Lage, zu beweisen, dass sie bereits über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügen, um eine solche Tätigkeit auszuüben.
Folglich hindern die Richtlinie 2006/112 und insbesondere ihre Art. 213 und 214 die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats daran, einem Antragsteller die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer nur deshalb zu verweigern, weil er nicht in der Lage ist, zu beweisen, dass er über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die bei der Stellung seines Antrags auf Eintragung in das Register der Steuerpflichtigen angegebene wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben.
Allerdings haben die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist ein Ziel, das von der Richtlinie 2006/112 anerkannt und gefördert wird (vgl. u. a. Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, Slg. 2006, I‑1609, Randnr. 71, vom 7. Dezember 2010, R., C‑285/09, Slg. 2010, I‑12605, Randnr. 36, und vom 18. Oktober 2012, Mednis, C‑525/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 31).
Außerdem sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Richtigkeit der Eintragungen in das Register der Steuerpflichtigen zu garantieren, um ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Mehrwertsteuersystems sicherzustellen. Die zuständige nationale Behörde hat daher die Steuerpflichtigeneigenschaft eines Antragstellers zu prüfen, bevor sie ihm eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zuteilt (vgl. Urteil Mecsek-Gabona, Randnr. 63).
Die Mitgliedstaaten können somit gemäß Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 rechtmäßig Maßnahmen vorsehen, die geeignet sind, die missbräuchliche Verwendung von Identifikationsnummern insbesondere durch Unternehmen, deren Tätigkeit und folglich Steuerpflichtigeneigenschaft rein fiktiv ist, zu verhindern. Diese Maßnahmen dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die genaue Erhebung der Steuer zu erreichen und Steuerhinterziehung zu verhindern, und sie dürfen nicht systematisch das Recht auf Mehrwertsteuerabzug und damit die Neutralität dieser Steuer in Frage stellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2007, Collée, C‑146/05, Slg. 2007, I‑7861, Randnr. 26, Nidera Handelscompagnie, Randnr. 49, Dankowski, Randnr. 37, und VSTR, Randnr. 44).
Hierzu ist festzustellen, dass Kontrollmaßnahmen wie die vom Gesetz über die Mehrwertsteuer festgelegten nicht das Recht der Steuerpflichtigen beschränken dürfen, die Mehrwertsteuer abzuziehen, die auf die für die Bedürfnisse der Umsätze, die sie zu bewirken beabsichtigen und für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, getätigten Investitionsausgaben geschuldet oder entrichtet wird.
Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die in Art. 214 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Identifizierung sowie die in Art. 213 dieser Richtlinie genannten Verpflichtungen nur Kontrollzwecken dienende Formerfordernisse darstellen, die insbesondere das Recht auf Mehrwertsteuerabzug oder ‑befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht in Frage stellen dürfen, sofern die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung dieser Rechte erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Nidera Handelscompagnie, Randnr. 50, vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 48, und Mecsek-Gabona, Randnr. 60).
Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass die Eintragung des Steuerpflichtigen in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen ein Formerfordernis ist, so dass ein Steuerpflichtiger nicht mit der Begründung an der Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug gehindert werden kann, dass er nicht als mehrwertsteuerpflichtig registriert wurde, bevor er die erworbenen Gegenstände im Rahmen seiner besteuerten Tätigkeit verwendet hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Nidera Handelscompagnie, Randnr. 51, sowie Dankowski, Randnrn. 33, 34 und 36). Demzufolge kann die Weigerung, eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zuzuteilen, grundsätzlich keinen Einfluss auf das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug haben, wenn die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung dieses Rechts erfüllt sind.
Um als verhältnismäßig zum Ziel der Verhinderung der Steuerhinterziehung angesehen zu werden, muss die Versagung, einem Steuerpflichtigen eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zuzuteilen, auf ernsthaften Anzeichen beruhen, nach denen objektiv davon ausgegangen werden kann, dass es wahrscheinlich ist, dass die diesem Steuerpflichtigen zugeteilte Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in betrügerischer Weise verwendet werden wird. Eine solche Entscheidung muss sich auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls und Beweise stützen, die im Rahmen der Überprüfung der von dem betreffenden Unternehmen gemachten Angaben gesammelt wurden.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein sowohl für die Auslegung des nationalen Rechts wie für die Feststellung und die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und insbesondere der Art und Weise, in der dieses Recht von der Steuerverwaltung angewandt wird, zuständig ist (Urteil Mednis, Randnr. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), zu prüfen, ob die nationalen Maßnahmen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind. Der Gerichtshof kann nur alle unionsrechtlichen Auslegungshinweise geben, die es diesem Gericht ermöglichen, die Frage dieser Vereinbarkeit zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, Slg. 1995, I‑4165, Randnr. 19, und vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C‑188/09, Slg. 2010, I‑7639, Randnr. 30).
Zu den Umständen des Ausgangsverfahrens ist festzustellen, dass die Tatsache, dass ein Steuerpflichtiger nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angeführte wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, allein nicht als Beleg dafür ausreicht, dass es wahrscheinlich ist, dass dieser beabsichtigt, Steuern zu hinterziehen. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass Umstände dieser Art, die durch das Vorliegen anderer objektiver Anhaltspunkte bestätigt werden und die missbräuchliche Absichten des Steuerpflichtigen annehmen lassen, Anzeichen darstellen können, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Risikos der Steuerhinterziehung zu berücksichtigen sind.
Ebenso sieht die Richtlinie 2006/112 keine Beschränkung der Anzahl der Anträge auf Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer vor, die von derselben Person für verschiedene juristische Personen gestellt werden können. Diese Richtlinie erlaubt auch nicht die Annahme, dass die Übertragung der Kontrolle dieser juristischen Personen im Anschluss an ihre Mehrwertsteuer-Identifikation eine rechtswidrige Tätigkeit darstellt. Gleichwohl können solche Umstände ebenfalls im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Risikos der Steuerhinterziehung berücksichtigt werden.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die nationale Steuerverwaltung rechtlich hinreichend das Vorliegen ernsthafter Anzeichen dargelegt hat, die die Annahme erlauben, dass der von Ablessio gestellte Antrag auf Eintragung in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen das Risiko in sich birgt, zu einer missbräuchlichen Verwendung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer oder zu anderen Mehrwertsteuerhinterziehungen zu führen.
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 213, 214 und 273 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie es der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats verwehren, einer Gesellschaft die Zuteilung einer Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer nur deshalb zu versagen, weil sie nach Ansicht dieser Verwaltung nicht über die materiellen, technischen und finanziellen Mittel verfügt, um die angegebene wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, und der Inhaber der Anteile dieser Gesellschaft bereits mehrfach eine solche Nummer für Gesellschaften erhalten hat, die nie wirklich eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt haben und deren Anteile kurz nach der Zuteilung dieser Nummer übertragen wurden, ohne dass die betreffende Steuerverwaltung anhand objektiver Anhaltspunkte dargelegt hat, dass ernsthafte Anzeichen für den Verdacht bestehen, dass die zugeteilte Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in betrügerischer Weise verwendet werden wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu würdigen, ob die Steuerverwaltung ernsthafte Anzeichen für das Vorliegen eines Risikos der Steuerhinterziehung im Ausgangsverfahren vorgelegt hat.
Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.