EuGH-Schlussanträge: Mehrwertsteuer – Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer, wenn auf die Einfuhr eine innergemeinschaftliche befreite Lieferung folgt
Generalanwalt Mengozzi schlägt dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:
1. Art. 143 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2006/ 112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, geändert durch die Richtlinie 2009/69/EG des Rates vom 25. Juni 2009 zur Bekämpfung des Steuerbetrugs bei der Einfuhr, ist dahin auszulegen, dass er es angesichts des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht gestattet, die in Art. 143 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung nur deshalb abzulehnen, weil zum Zeitpunkt der Einfuhr beabsichtigt war, Gegenstände an einen Steuerpflichtigen in einem anderen Mitgliedstaat zu liefern, dessen Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer folglich in der Einfuhranmeldung angegeben wurde, die Gegenstände jedoch später wegen veränderter Umstände an einen anderen Steuerpflichtigen (der ebenfalls der Mehrwertsteuer unterlag) geliefert wurden, wobei die Behörden des ersten Mitgliedstaats vollständig über die Identität des tatsächlichen Erwerbers informiert wurden.
2. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 in der Fassung der Richtlinie 2009/69 ist dahin auszulegen, dass Dokumente wie das elektronische Verwaltungsdokument (das sogenannte e-VD) und der aufgrund des am 19. Mai 1956 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr ausgestellte Frachtbrief (der sogenannte CMR-Frachtbrief) als Beweismittel dafür angesehen werden können, dass die eingeführten Gegenstände zum Zeitpunkt der Einfuhr dazu bestimmt sind, in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert zu werden. Art. 138 der Richtlinie 2006/112 in der Fassung der Richtlinie 2009/69, auf den Art. 143 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie verweist, ist dahin auszulegen, dass die die e-VD betreffenden Eingangsmeldungen sowie die eEB-Empfangsbekenntnisse als Beweismittel dafür angesehen werden können, dass die eingeführten Gegenstände, die Gegenstand der innergemeinschaftlichen Lieferung waren, das Hoheitsgebiet des Einfuhr- und Liefermitgliedstaats verlassen haben und in den Bestimmungsmitgliedstaat versandt worden sind.
3. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/ 112 in der Fassung der Richtlinie 2009/69 ist dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht gestattet, die Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer abzulehnen, wenn die Befähigung, wie ein Eigentümer über die eingeführten und gelieferten Gegenstände zu verfügen, nicht unmittelbar auf den Erwerber übertragen wurde, solange sie nur auf diesen Steuerpflichtigen und nicht auf andere Personen übertragen wurde, wovon sich das vorlegende Gericht überzeugen muss.
4. Es verstößt gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn die Zollverwaltung eines Mitgliedstaats einem Steuerpflichtigen, der gutgläubig gehandelt hat und für den nicht nachgewiesen ist, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Steuerhinterziehung beteiligt war, das Recht auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer mit der Begründung abspricht, dass eine der materiellen Voraussetzungen für die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung, die auf die Einfuhr folgte, von der Mehrwertsteuer nicht mehr erfüllt ist, obwohl die zuständige Behörde desselben Mitgliedstaats diese Voraussetzung nach einer Kontrolle der vom Steuerpflichtigen eingereichten Belege und Dokumente bereits als erfüllt angesehen hat. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu untersuchen, ob der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens die Feststellung zulässt, dass alle diese Umstände und Voraussetzungen gegeben sind, wobei der bloße Umstand, dass sich der Steuerpflichtige für die Kommunikation mit seinen Vertragspartnern elektronischer Kommunikationsmittel bedient hat, nicht als Hinweis auf seine Fahrlässigkeit oder seine Bösgläubigkeit angesehen werden kann.
5. Art. 143 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 in der Fassung der Richtlinie 2009/69 ist dahin auszulegen, dass der Steuerpflichtige, der eine Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer beansprucht, nachweisen muss, dass die materiellen Voraussetzungen für diese Befreiung erfüllt sind, ohne dass er von den zuständigen Behörden des Einfuhrmitgliedstaats verlangen könnte, bei der Prüfung der Frage, ob das Recht, wie ein Eigentümer über die gelieferten Gegenstände zu verfügen, auf den Erwerber übertragen wurde, Auskünfte von anderen Steuerpflichtigen einzuholen, die nur Behörden erteilt werden.
GA Mengozzi, Schlussanträge vom 22.3.2018 – C-108/17, Enteco Baltic