Maxim Kleine/Rainer Lademann: Wettbewerbsverbot in Coronakrise vorübergehend lockern
Durch die COVID-19-Pandemie wird die deutsche Wirtschaft derzeit massiv gestört. Viele Unternehmen befinden sich in einer schweren, teilweise existenzbedrohenden Notlage. Zur besseren Bewältigung der Krise kämen auch Kooperationen zwischen Unternehmen in Betracht – als Alternative oder flankierend zu staatlichen Unterstützungen wie Beihilfen und Krediten. Eine mögliche Zusammenarbeit scheitert aber gegenwärtig zum Teil an den starren Vorgaben des deutschen und europäischen Kartellrechts.
Die gegenwärtige COVID-19-Krise führt in vielen Branchen zu Lieferengpässen und Versorgungsproblemen. Weitaus gravierender sind indes die voraussichtlich länger andauernden Nachfrageeinbrüche. Sie wurden einerseits direkt durch staatliche Auflagen verursacht, wie etwa Anordnungen zur vorübergehenden Schließung von Einzelhandelsgeschäften, Restaurants, Bars, Friseuren, Grenzschließungen usw., andererseits aber auch in wahrscheinlich noch deutlich größerem Maße durch ein für die Dauer der Krise absehbar verändertes Verbraucherverhalten.
Vor diesem Hintergrund hat die deutsche Kartellrechtspraxis von Norton Rose Fulbright gemeinsam mit den Wettbewerbsökonomen von Lademann & Associates Vorschläge entwickelt, wie das Kartellrecht gegebenenfalls ergänzend oder alternativ zu staatlichen Beihilfen, staatlich geförderten Krediten und staatlicher Sonderregulierung für spezifische Branchen helfen könnte, die wettbewerbliche Vielfalt in einer Vielzahl von Branchen für die Zeit nach der Krise zu erhalten.
Angedacht wird dabei etwa, Kooperationen vom Kartellverbot freizustellen, die beispielsweise Abstimmungen zu branchenspezifischen Sicherheitsregeln vorsehen. Ferner wären Kapazitätsreduzierungen und möglicherweise in Einzelfällen sogar Preisabstimmungen denkbar, etwa über die Weitergabe von Zusatzkosten an Kunden. Wenn auf diese Weise wettbewerbliche Vielfalt für die Zeit nach der Krise erhalten werden kann, könnte dies ein effizienteres Mittel zur Bewältigung der Krise in bestimmten Branchen bzw. Industrien sein, als staatliche Beihilfen.
Direkte staatliche Unterstützungsmaßnahmen wie Kredite und Beihilfen kommen immer nur einzelnen Unternehmen zu Gute, selten aber einer gesamten Branche. Je länger die Corona-Krise andauert, desto schneller wird der Staat mit direkten Hilfen wie Subventionen und Krediten an seine Grenzen stoßen, so dass andere Wege erforderlich sind. Gleichzeitig drohen strukturelle Verwerfungen, die den Wettbewerb langfristig gefährden.
Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass staatliche Regulierungen für bestimme Branchen, etwa die Flächenbeschränkungen für den Einzelhandel, gerichtlicher Kontrolle nicht standgehalten haben. Daher könnte eine Alternative sein, dass Branchenverbände entsprechende spezifische Leitlinien vorgeben, die anschließend von den Unternehmen „freiwillig“ im Sinne einer Verhaltenskoordinierung umgesetzt werden. In Einzelfällen kann es durchaus geboten sein, auch Abstimmungen über die Weiterbelastung von Preisen vorzunehmen. So könnten beispielsweise die Kosten für Schutzausstattungen für Kunden in Ladengeschäften oder gestiegene Kosten in Folge von Kapazitätsreduzierungen an die Kunden weitergegeben werden.
Möglicherweise könnte es sogar erforderlich sein, dass bestimmte Branchen sich für beschränkte Zeit darauf einigen dürfen, Rabattschlachten zu vermeiden, damit Hersteller und Händler ausreichende Erträge erzielen können, um die Krise zu überleben. Nach Ende der COVID-19 Krise sind diese Wettbewerbsbeschränkungen naturgemäß unverzüglich wieder abzustellen.
Solche Wettbewerbsbeschränkungen wären nach bisheriger Praxis kaum vom Kartellverbot freistellbar. Da sie indes die Kosten für einen Erhalt der wettbewerblichen Vielfalt in einer bestimmten Branche direkt den Branchenkunden und nicht der gesamten Allgemeinheit belasten, könnte es sich dabei um für einige Branchen effizientere Maßnahmen handeln als staatliche Beihilfen, die durch Steuergelder finanziert werden. Zudem könnte auf staatliche Regulierung verzichtet werden. Insofern könnte die vorübergehende Erlaubnis von wettbewerbsbeschränkenden Abstimmungen zwischen Wettbewerbern sowohl Beihilfen als auch branchenspezifische Sonderregulierungen ersetzen oder ergänzen und deshalb für einige Branchen eine interessante Alternative sein, die vorübergehenden Nachfrageeinbrüche beherrschbar zu machen.
Die vorübergehende Gestattung solcher Wettbewerbsbeschränkungen könnte dazu beitragen, die wettbewerbliche Vielfalt in den jeweiligen Branchen und Industrien für die Zeit nach der Krise zu erhalten. Daher sollten die Kartellbehörden darüber nachdenken, derartige Wettbewerbsbeschränkungen vorübergehend zu gestatten. Sie sind vielleicht das effizientere Mittel, um den von der Pandemie betroffenen Wettbewerbern durch die Krise zu helfen und auf diese Weise eine ansonsten drohende Marktkonzentration zu vermeiden.
Zugegebenermaßen führen derartige Wettbewerbsbeschränkungen vorübergehend zu höheren Preisen für die Kunden. Mittel- und langfristig könnten die Kunden aber von der über die Dauer der Krise erhaltenen wettbewerblichen Vielfalt profitieren – und dass ohne Beihilfen und staatliche Kredite.
Dr. Maxim Kleine, RA, leitet als Partner im Hamburger Büro die deutsche Kartellrechtspraxis von Norton Rose Fulbright. Er berät Mandanten im deutschen und europäischen Kartellrecht. Sein Schwerpunkt liegt auf der Vertretung von Mandanten in Kartellverfahren vor dem Bundeskartellamt, der Europäischen Kommission und den jeweils zuständigen Gerichten. Daneben berät er Mandanten bei der kartellrechtskonformen Gestaltung von Vertriebssystemen sowie bei der Strukturierung von Gemeinschaftsunternehmen und Kooperationen zwischen Wettbewerbern.
Prof. Dr. Rainer P. Lademann ist Gründer und Managing Partner von Lademann & Associates in Hamburg. Er betreut laufend Beratungsprojekte für Strategiefragen und Kartellverfahren (Fusionsvorhaben, Kooperationen, Kartelle, Missbrauchseffekte von Preis- und Konditionensystemen, Vertriebsstrategien). Schwerpunkte bestehen seit vielen Jahren in der Automobilindustrie, in der Ernährungswirtschaft (Landwirtschaft, Industrie, Lebensmittelhandel) sowie in ausgewählten Zweigen der Energiewirtschaft. Er ist Honorarprofessor an der Universität Göttingen, wo er sich vor allem mit wettbewerbsökonomischen und strategischen Fragen vertikaler Wettbewerbsprozesse in der Konsumgüterwirtschaft befasst.