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BB-Standpunkte
20.05.2019
BB-Standpunkte
Dr. Wolfgang Lipinski/Florian Denninger: Verpflichtung von Unternehmen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung kommt – heißt das wirklich „Stechuhr für alle“?

Nach dem Urteil des EuGH v. 14.5.2019 (Rs. C-55/18) müssen sämtliche EU-Mitgliedstaaten nationale Regelungen schaffen, die Unternehmen zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter verpflichten.

Das Urteil des EuGH v. 14.5.2019 (Rs. C-55/18) ist aus Arbeitgebersicht nicht zu begrüßen und erscheint als Relikt aus einer vergangenen Zeit und damit als Gefahr für die flexible Arbeitswelt. Erfreulich ist lediglich, dass das Urteil für Unternehmen keine unmittelbare Handlungspflicht begründet, sondern erst der deutsche Gesetzgeber Neuregelungen treffen muss.

Die spanische Gewerkschaft CCOO hatte gegen die Deutsche Bank in Spanien geklagt. Ziel der Klage war es, die Verpflichtung der Deutschen Bank zur Einführung eines umfassenden Arbeitszeiterfassungssystems festzustellen.

Die Verpflichtung von Arbeitgebern zur bloßen Erfassung von „Überstunden“ (wie – untechnisch gesprochen – bisher in Deutschland üblich) halten die Richter des EuGH nicht für ausreichend.

Mitgliedstaaten der EU müssen „die Arbeitgeber […] verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“ (EuGH, 14.5.2019, Rs. C-55/18, Rn. 60).

Für die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Arbeitszeiterfassungssystems haben die Mitgliedstaaten Spielraum hinsichtlich

  • der Form des Systems,

  • der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, als auch

  • der Eigenheiten bestimmter Unternehmen (Unternehmensgröße) 

Zudem sind weiterhin Ausnahmen (nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88) von der Arbeitszeiterfassungspflicht möglich, wenn es sich um Arbeitnehmer mit besonderen Tätigkeitsmerkmalen handelt.

Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich?

Aus den Urteilsgründen geht nicht hervor, ob die Delegation der Aufzeichnungspflicht auf Mitarbeiter (wie derzeit in Deutschland möglich) den Anforderungen des EuGH an ein „objektives“ System genügt.

Inwiefern jedoch das Aufschreiben bestimmter Zeiten durch den Mitarbeiter nicht „objektiv“ sein soll, das Betätigen einer Stechuhr zu bestimmten Zeiten durch den Mitarbeiter hingegen schon, erschließt sich den Verfassern nicht. Die Urteilsgründe stehen dem Modell der Vertrauensarbeitszeit damit nicht ausdrücklich entgegen.

Besonderheiten/Ausnahmen

Unklar ist weiter, welche konkreten Ausnahmen nationale Gesetze von der Arbeitszeiterfassungspflicht enthalten dürfen unter Berücksichtigung von Besonderheiten wie z.B. Tätigkeitsbereich oder Unternehmensgröße.

Praxisfolgen: Auswirkungen für Unternehmen in Deutschland?

  • Es besteht keine unmittelbare Handlungspflicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung für Unternehmen in Deutschland allein nach dem EuGH-Urteil.

  • Arbeitgeber sollten ihr Verständnis von „Arbeitszeit“ sensibilisieren: Das EuGH-Urteil betrifft die „arbeitsschutzrechtliche“ Arbeitszeit, die insbesondere bei Dienstreisen von der „vergütungsrechtlichen“ Arbeitszeit abweichen kann.

  • Systeme zur Erfassung der gesamten geleisteten täglichen Arbeitszeit werden ab Inkrafttreten einer nationalen gesetzlichen Neuregelung vorzuhalten sein.

  • Ggf. wird eine Erweiterung bereits vorgehaltener Systeme zur Erfassung der gesamten geleisteten täglichen Arbeitszeit notwendig werden, sofern „arbeitsschutzrechtliche“ Arbeitszeit nicht erfasst ist.

  • Bei Einführung und/oder Erweiterung eines Arbeitszeiterfassungssystems wird ein etwaig existierender Betriebsrat zu beteiligen sein.

  • Je nach Ausgestaltung des Arbeitszeiterfassungssystems ist ggf. eine erleichterte Geltendmachung von Überstundenvergütung durch Arbeitnehmer möglich. Zu beachten ist allerdings, dass die Erfassung der „arbeitsschutzrechtlichen“ Arbeitszeit nicht in sämtlichen Branchen zwingend auch gleichzeitig eine Dokumentation der „vergütungsrechtlichen“ Arbeitszeit darstellt. Zudem sind bestimmte Voraussetzungen für Überstundenvergütung maßgeblich.

  • Die Arbeitsvertragsgestaltung (Stichwort „Überstundenabgeltung“) sollte überprüft werden. 

Fazit: Bedeutet das Urteil mehr Bürokratie für Unternehmen? Ja. Stellt es auch ein Ende der Vertrauensarbeitszeit dar? Nicht unbedingt, zumindest nicht nach der Urteilsbegründung der Richter aus Luxemburg. Klarheit wird insoweit erst die von Bundesarbeitsminister Heil noch für 2019 angekündigte nationale gesetzliche Neuregelung schaffen, die aus Sicht der Verfasser unter Berücksichtigung flexibler Arbeitszeitmodelle wie Vertrauensarbeitszeit wirksam umgesetzt werden kann. 

Dr. Wolfgang Lipinski (li. im Bild), RA/FAArbR, und Florian Denninger, RA (re. im Bild), Beiten Burkhardt, München.

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