Prof. Dr. Volker Beuthien: Spartentarifverträge und betriebliche Verteilungsgerechtigkeit
1. Drohende Ungerechtigkeit
Tarifautonomie genießen alle Gewerkschaften, sobald sie die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen der Tariffähigkeit erfüllen. Das gilt auch für die seit geraumer Zeit auf den Plan getretenen Spartengewerkschaften, in denen sich Arbeitnehmergruppen zusammenschließen, die auf besondere betriebliche Funktionen spezialisiert sind. Landläufiges Beispiel dafür sind insbesondere die jüngst wieder streikenden Lokführer und Flugkapitäne. Dem tarifvertragsrechtlichen Kriterium der Arbeitskampffähigkeit genügen diese beruflich gruppierten Spartengewerkschaften mühelos, da sie wegen ihrer betrieblichen Schlüsselfunktion über ein hohes Störpotenzial verfügen und ihre vergleichsweise wenigen Mitglieder gut mobilisieren können. Infolgedessen fällt es Spartengewerkschaften verhältnismäßig leicht, für ihre Mitglieder besonders günstige Arbeitsbedingungen zu erstreiken. Das aber bedroht die betriebliche Verteilungsgerechtigkeit. Es gilt jedoch, den von der Gesamtbelegschaft erarbeiteten Unternehmensertrag (soweit er nicht an die Unternehmensleitung und die Kapitaleigner auszukehren ist oder für die Rücklagen benötigt wird) leistungsgerecht allen funktional verschiedenen Arbeitnehmergruppen zuzuweisen. Keine Arbeitnehmergruppe darf dabei einen relativ zu großen Unternehmensertragsanteil für sich beanspruchen. Sonst wird in einem arbeitsteiligen Unternehmen, in dem nicht nur die hoch oder höher qualifizierten Arbeitskräfte unverzichtbare spezialisierte Aufgaben erfüllen, ständig der letztlich für alle unerlässliche Betriebsfrieden gestört.
2. Nur gesamtbetriebliche Unternehmenstarifverträge
Die traditionellen Gewerkschaften nehmen für sich in Anspruch, in den von ihnen bevorzugten Einheitstarifverträgen auch für die betriebliche Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen. Dazu aber sind sie, seitdem das Bundesarbeitsgericht das bisher geübte Prinzip der Tarifeinheit aufgegeben hat (BAG, Urt. v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08 (BAGE 135, 80 ff.) u. BAG, Beschluss v. 23.6.2010 – 10 AS 3/10 (AP Nr. 47 zu § 3 TVG)), nicht mehr vollends imstande. Deshalb muss die betriebliche Verteilungsgerechtigkeit nunmehr auf andere Weise sichergestellt werden. Ein tauglicher Weg dazu ist, die Tarifautonomie dahin zu beschränken, dass Unternehmenstarifverträge nur noch für die Gesamtbelegschaft abgeschlossen werden dürfen. Die Spartengewerkschaften können dann keine nur für einzelneBerufsgruppen geltende Unternehmenstarifverträge mehr abschließen, sondern nur noch betriebsübergreifende Tarifverträge (also z. B. nur für alle von ihr vertretenen Piloten, nicht nur die bei der Lufthansa beschäftigten).
Eine solche Regelung passt gut in das vorbildlich knapp gehaltene Tarifvertragsgesetz und lässt sich ohne förmliche Gesetzesänderung richterrechtlich als immanente Schranke der Tarifautonomie entwickeln. Anzuknüpfen ist daran, dass die Tarifautonomie dazu bestimmt ist, die Arbeitsbedingungen in sozial befriedender Weise kollektiv zu regeln und insoweit eine arbeitsverfassungsrechtliche Ordnungsfunktion (näher dazu Scholz, in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand Februar 1999, Rn. 164 f. u. Wiedemann, in Wiedemann (Hrsg.), Tarifvertragsgesetz, 5. Aufl. 2007, Einl. Rn. 16 ff. mit umfassenden, auch kritischen Schrifttumsnachweisen.)hat. Diese Ordnungsfunktion sorgt sowohl gegenüber dem Arbeitgeber als auch innerhalb der Belegschaft für ein soziales Gleichgewicht. Sie gründet sich darauf, dass die Tarifvertragsparteien mit der ihnen vom Staat zu grundsätzlich freier sozialer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung überlassenen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (Art. 9 III GG, § 1 TVG) eine gesamtwirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich wesentliche und damit sozialstaatlich im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe wahrnehmen. Demgemäß haben sie das Arbeitsleben durch Tarifverträge (wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 4, 96 (107), 18, 18 (26) u. 50, 290 (371)) zu Recht mehrfach hervorgehoben hat) sinnvoll, d.h. strukturell verfahrensgerecht, zu ordnen. Diese strukturelle Tarifrechtsordnung aber wird durch einzelbetriebliche Spartentarifverträge ernstlich gestört.
3. Gebot der innerbetrieblichen Solidarität
Unternehmenstarifverträge dienen ähnlich wie Betriebsvereinbarungen der solidarischen Interessenverfolgung der Betriebsgemeinschaft. Dem innerbetrieblichen Solidaritätsgebotunterliegen alle im Betrieb vertretenen Berufsgruppen. Deshalb ist es nicht damit getan, der mitgliederstärksten Spartengewerkschaft eine vorrangige Tarifzuständigkeit zuzuerkennen. Denn damit wird zu sehr auf die innerbetriebliche Konkurrenz zweier oder mehrerer Spartengewerkschaften geschaut. Es gilt aber, auf die Interessen aller anderen im Betrieb vertretenen Berufsgruppen Rücksicht zu nehmen. Auch wird auf diese Weise zu stark in die eigenständige Tarifautonomie der jeweils konkurrierenden Spartengewerkschaft eingegriffen. Eine betrieblich allseits ausgewogene Tarifrechtsstruktur lässt sich daher nur erreichen, wenn die besonderen Interessen einzelner Berufsgruppen tarifvertraglich nur überbetrieblich verfolgt werden dürfen.
4. Umfassende Friedenspflicht
In das betriebliche Lohn- und Gehaltsgefüge greifen zwar auch überbetriebliche Spartentarifverträge ein, die sich wegen der grundsätzlich zulässigen Tarifpluralität nicht unterbinden lassen. Aber mit dem Abschluss solcher Tarifverträge ist, da die betrieblichen Verhältnisse dafür meist zu verschieden liegen, selten zu rechnen. Sie sind daher sozial weniger störend. Es bleibt freilich die Gefahr, dass sich einzelne Beschäftigtengruppen zu einer Zeit, in der die anderen Arbeitnehmergruppen noch der tariflichen Friedenspflicht unterliegen, mittels eines Spartentarifvertrages einen gleichbehandlungswidrigen Vergütungsvorsprung zu sichern versuchen. Dem ist dadurch zu begegnen, dass niemand einen Spartentarifvertrag erstreiken darf, solange in einem der arbeitskampfbetroffenen Unternehmen noch eine Friedenspflicht besteht. Praktisch führt das zu einer zeitlichen Koordinierung aller überbetrieblichen Spartentarifverträge. Für die übrigen Arbeitnehmergruppen gewährleistet das die Chance, ihrerseits zeit- und chancengleich in einen Arbeitskampf um bessere betriebliche Arbeitsbedingungen einzutreten.
5. Ergebnis
Damit ergibt sich:Das Prinzip der Tarifeinheit ist nicht gesetzlich festzuschreiben, sondern ist nur eine mögliche, von den Tarifpartnern frei wählbare Tarifordnung. Arbeitsrechtlich bindend ist diese nicht. Vielmehr dürfen sich Gewerkschaften auch berufsgruppenbezogen aufstellen. Aber es ist ihnen insoweit verwehrt, gruppenegoistische Unternehmenstarifverträge anzustreben.
Prof. Dr. Volker Beuthien (Jahrgang 1934), Promotion in Kiel bei Larenz, Habilitation in Tübingen bei Medicus, war bis September 2002 geschäftsführender Direktor der Betriebseinheit für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht und war geschäftsführender Direktor des Instituts für Genossenschaftswesen und der Forschungsstelle für Medienrecht und Medienwirtschaft an der Philipps-Universität Marburg. Er lehrt seit Oktober 1970 in Marburg. Das Wirtschaftsrecht (vor allem Kartellrecht) behandelt er vornehmlich in regelmäßigen Seminaren, an denen sich oft besonders berufserfahrene Praktiker beteiligen.
Das besondere wissenschaftliche Interesse Prof. Beuthiens gilt den Grundlagen und Systemzusammenhängen des Privatrechts, dem Unternehmensorganisations-, Mitbestimmungs- und Vermögensbildungsrecht, dem Recht der Unternehmenskooperation sowie dem Genossenschaftsrecht. Prof. Beuthien hat in allen seinen Arbeitsgebieten veröffentlicht. Er wirkt an der 12. Auflage des Großkommentars von Soergel zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit, ist Mitherausgeber des Studienkommentars zum BGB und des Juristischen Studienkurses sowie Verfasser eines Kommentars zum Genossenschaftsgesetz.