Prof. Dr. Sebastian Mock: Rechnungslegungsenforcement nach Wirecard – alles auf Anfang oder punktuelle Reformen?
Die bilanzrechtspolitische Debatte der vergangenen beiden Jahrzehnte war durch die Namen Enron und Worldcom geprägt, standen diese doch für zwei gewaltige Bilanzierungsskandale in den Vereinigten Staaten, die zahlreiche Reformen im Rechnungslegungsrecht in nahezu jeder Rechtsordnung der Welt ausgelöst haben. Mit Wirecard ist Deutschland nun sozusagen in den Olymp der Bilanzskandale aufgestiegen; lag dessen Börsenkapitalisierung noch vor einigen Monaten bei ca. 20 Mrd. Euro, stehen ihnen heute gerade einmal 292 Mio. Euro gegenüber. Wie es soweit kommen konnte, dürfte in dem möglicherweise zu eröffnenden Insolvenzverfahren, in den zu erwartenden staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die Geschäftsleitung oder aber in einer unendlichen Anzahl von Anlegerprozessen gegen Wirecard und viele andere mehr geklärt werden. Im Mittelpunkt der schon im vollen Gange befindlichen rechtspolitischen Debatte steht aber naturgemäß die Frage, welche Maßnahmen unternommen werden müssen, um vergleichbare Fälle in der Zukunft zu verhindern. Dem Ideenreichtum sind dabei keine Grenzen gesetzt. So reichen die allerorten gemachten Vorschläge von rechtspolitischen Dauerbrennern wie Verschärfung der Haftung der Abschlussprüfer durch Aufhebung oder Anhebung der Haftungsbeschränkung des § 323 Abs. 2 S. 2 und 3 HGB, Einführung einer Zwangsrotation von Abschlussprüfern, Trennung von Prüfung und Beratung bei Wirtschaftsprüfern, Prüfung der Corporate Governance oder jedenfalls der Entsprechenserklärung nach § 161 AktG durch den Abschlussprüfer oder stärkere Einbeziehung des Aufsichtsrats. Daneben sind aber auch allerlei neue Vorschläge in der Diskussion: So werden die Abschaffung des zweistufigen Enforcement-Verfahrens mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung e. V. (DPR) auf der ersten und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) auf der zweiten Stufe und die Konzentration des gesamten Enforcement-Verfahrens bei der BaFin oder gleich die Schaffung einer Europäischen Bilanzpolizei vorgeschlagen, die mancher auch als eine Art “schnelle Eingreiftruppe” sehen möchte. Das politische Berlin ist ebenfalls schon vollends in die Debatte um die zukünftige Gestaltung der Kontrolle der Rechnungslegung kapitalmarktorientierter Unternehmen eingestiegen. So wurden durch die Kündigung des Anerkennungsvertrags der Prüfstelle für Rechnungslegung e. V. kurzerhand – freilich nicht unumkehrbare – Fakten geschaffen. Auch der Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz ist schon vorgeprescht und hat seine Ideen für die Architektur des künftigen Rechnungslegungsenforcement skizziert, bei dem die BaFin eine größere Rolle spielen soll.
Diese zahlreichen alten und neuen Vorschläge haben naturgemäß allerlei Vorzüge und leider auch Nachteile, so dass es in den kommenden Wochen nicht so leicht werden wird, das richtige und überzeugendste Konzept zu entwickeln. Lackmustest für alle Konzepte muss dabei aber sein, ein neues Wirecard zu verhindern. Dies dürfte aber möglicherweise schwieriger sein, als es sich die meisten vorstellen. Denn alle Konzepte müssen mit dem Problem umgehen, dass bei Wirecard anscheinend Manipulationen mit nicht gerade geringer krimineller Energie vorgenommen wurden. Aber selbst wenn im künftigen Regelungskonzept des Rechnungslegungsenforcements “gute Spürnasen” an die richtige Stelle gesetzt werden, bleibt ein simples, aber nahezu unlösbares Problem: Eine Aufklärung von Bilanzierungssachverhalten bei global tätigen Unternehmen setzt voraus, dass man weltweit ermittelt, überprüft und nachforscht. Dies kann mit letzter Entschlossenheit aber weder eine privatrechtlich organisierte Prüfstelle noch eine mit welchen Eingriffsbefugnissen auch immer ausgestattete Behörde, da man in anderen Staaten nun einmal nicht einfach Ermittlungen vornehmen kann. Wenn auch mancher gerne die Mitarbeiter der BaFin im Wirecard-Fall auf den Philippinen zu Ermittlungen gesehen hätte, so muss man konstatieren, dass die Mitarbeiter der BaFin dort keine Hoheitsbefugnisse ausüben können. Bezieht man bei diesen Fällen Staaten wie China oder Russland mit in die Betrachtung ein, wird das Problem noch augenfälliger. Daher liegen diejenigen, die eine Art “schnelle Eingreiftruppe” mit Superkompetenzen fordern, unfreiwillig schon näher an der Realität, als ihnen bewusst ist, auch wenn wohl niemand auf derartige (militärische) Mittel im Wortsinne zurückgreifen möchte, um die Richtigkeit der Rechnungslegung börsennotierter Gesellschaften sicherzustellen. Insofern muss man bei Auslandssachverhalten zwangsläufig auf freiwillige Kooperationen vor Ort setzen, da die bestehende Alternative in Form der internationalen Amtshilfe der Schnelllebigkeit der Rechnungslegung kaum gerecht werden dürfte. Die Entscheidung über die künftige Ausrichtung des Enforcement-Verfahrens muss schließlich schon in den nächsten Wochen getroffen werden. Wer glaubt, dass die DPR im Fall ihrer Abschaffung bis Ende 2021 weiterhin das Enforcement-Verfahren auf der ersten Stufe durchführen kann, verkennt die Dynamik des Arbeitsmarkts für Wirtschaftsprüfer.
Falls sich am Ende dieser Diskussion möglicherweise doch nichts am zweistufigen Aufbau des Enforcement-Verfahrens ändert, haben all diejenigen, die derzeit mit Kritik und Vorschlägen nicht sparen, eine gute Gelegenheit, den eigenen Hut in den Ring zu werfen. In diesem Fall kann nämlich auch eine (neue) – wie es § 342b Abs. 1 HGB ausdrückt – privatrechtlich organisierte Einrichtung zur Prüfung von Verstößen gegen Rechnungslegungsvorschriften vom BMJV durch Vertrag anerkannt werden, da es eine solche Einrichtung aufgrund der Kündigung des BMJV ab dem 31.12.2021 (Stand jetzt) nicht mehr gibt. Insofern gilt: Freiwillige vor!
Prof. Dr. Sebastian Mock, LL.M. (NYU), Attorney-at-Law (New York), ist Universitätsprofessor am Institut für Zivil- und Zivilverfahrensrecht (Abteilung Unternehmens- und Insolvenzrecht) am Department für Privatrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Gesellschafts-, Insolvenz- und Kapitalmarktrecht. Er ist Autor zahlreicher Beiträge und Mitherausgeber eines Kommentars zum Bilanzrecht.