Dr. Anja Lingscheid: Mitbestimmung in Deutschland mit EU-Recht vereinbar – Ist der Spuk jetzt vorbei?
Das deutsche Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) ist mit europäischem Recht vereinbar. Die Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten deutscher Unternehmen können nur von Arbeitnehmern in Deutschland gewählt werden. Umgekehrt sind auch nur Arbeitnehmer aus Deutschland in die Aufsichtsräte wählbar. Arbeitnehmer der Konzerne im EU-Ausland werden dadurch nicht diskriminiert. Das hat der EuGH am 18.7.2017 – C-566/15 – im Vorabentscheidungsverfahren Konrad Erzberger ./. TUI AG klargestellt (BB 2017, 1785 ff. m. BB-Komm. Monz/Wendler). Er folgte damit den Schlussanträgen des Generalanwalts Henrik Saugmandsgaard Øe von Anfang Mai.
Die Luxemburger Richter hielten fest, dass die Vertretung der Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsorgan einer Gesellschaft nationalen Rechts bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung oder auch nur einer Koordinierung auf Unionsebene gewesen sei. Es sei daher eine legitime Entscheidung Deutschlands, die Anwendung seiner nationalen Vorschriften im Bereich der Mitbestimmung auf die bei einem inländischen Betrieb tätigen Arbeitnehmer zu beschränken.
Hintergrund ist ein Verfahren vor dem Kammergericht Berlin, angestrengt von Konrad Erzberger, einem Kleinaktionär der TUI AG. Der Konzern beschäftigt außerhalb Deutschlands in der EU fast 40 000 Arbeitnehmer. Nach Ansicht von Herrn Erzberger müssten im Aufsichtsrat der TUI AG nur noch Vertreter der Anteilseigner sitzen und nicht zur Hälfte Arbeitnehmervertreter. Die Wahl der Arbeitnehmervertreter verstoße gegen europäisches Recht, weil Arbeitnehmer im EU-Ausland kein aktives und passives Wahlrecht hätten. Das Kammergericht Berlin hielt einen Verstoß für möglich und hatte daher dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das MitbestG mit dem Unionsrecht vereinbar ist (KG, 16.10.2015 – 14 W 89/15, RIW 2015, 845).
Das hat der EuGH nun unmissverständlich beantwortet und die recht konstruierten Argumente von Herrn Erzberger widerlegt. Die in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer seien gar nicht in ihrer Freizügigkeit betroffen. Diese Bestimmungen seien nicht auf Arbeitnehmer anwendbar, die nie von ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch gemacht hätten oder Gebrauch machen wollten. In Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer, die zu einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft wechselten, würden zwar das aktive und passive Wahlrecht für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat der deutschen Muttergesellschaft sowie ggf. ihr Aufsichtsratsmandat verlieren. Das stelle jedoch keine Behinderung der Freizügigkeit dar. Diese garantiere einem Arbeitnehmer nicht, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat neutral sein werde. Vielmehr könne dieser je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile haben.
Das Kammergericht Berlin muss das zugrundeliegende Verfahren jetzt wieder aufnehmen und wird den Erzberger-Antrag zurückweisen. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der TUI AG bleibt unverändert. Auch das OLG Frankfurt wird das ausgesetzte Beschwerdeverfahren gegen die Entscheidung des LG Frankfurt, dass Arbeitnehmer im EU-Ausland bei dem Schwellenwert des MitbestG (mehr als 2.000 in der Regel beschäftigte Arbeitnehmer) zu berücksichtigen sind, nun entscheiden (OLG Frankfurt, 17.6.2016 – 21 W 91/15; LG Frankfurt, 16.2.2015 – 3-16 O 1/14). Das Urteil des Landgerichts in Sachen Deutsche Börse AG hatte Unternehmen ins Schwitzen gebracht, da eine Zurechnung von Arbeitnehmern im EU-Ausland für viele bedeutet hätte, dass sie entweder erstmals einen mitbestimmten Aufsichtsrat einrichten müssten oder von der drittelparitätischen Mitbestimmung in die paritätische Mitbestimmung rutschen würden. Bei Unternehmen, die bereits dem MitbestG unterliegen, hätte aufgrund der höheren Arbeitnehmerzahl eine Vergrößerung des Aufsichtsrats erforderlich werden können.
Alles wieder in Ordnung, könnte man meinen. Nicht ganz: Im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 kündigt die SPD in ihrem Wahlprogramm an, dass sie den Schwellenwert für das MitbestG auf 1 000 Arbeitnehmer senken werde. Die Beschäftigung jenseits der „Kernbelegschaften“ müsse bei den Schwellenwerten berücksichtigt werden. Außerdem werde man sich dafür „einsetzen“, dass Schlupflöcher, wie sie bei der Gründung einer SE zur Vermeidung von Mitbestimmung genutzt werden könnten, geschlossen werden. Ferner ist die SPD dafür, dass die Mitbestimmung in einer SE neu verhandelt werden müsse, wenn die Zahl der Beschäftigten in Deutschland über die Schwellenwerte der deutschen Mitbestimmungsgesetze steige. Es bleibt also spannend!
Dr. Anja Lingscheid ist Of Counsel in der Arbeitsrechtspraxis von Norton Rose Fulbright in Frankfurt. Die Fachanwältin für Arbeitsrecht berät Unternehmen umfassend in allen Bereichen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die arbeitsrechtliche Begleitung bei Unternehmenskäufen und -verkäufen, Verschmelzungen und bei Restrukturierungen. Außerdem vertritt sie Unternehmen in arbeitsgerichtlichen Verfahren und bei Verhandlungen mit Betriebsräten. Darüber hinaus hat sie sich auf Fragen des Personalabbaus, der Mitbestimmung in Unternehmen, Internal Investigations und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) spezialisiert.