Jens Berger: Keine (Bilanzierungs-)Angst vor IBOR, den Schrecklichen
Vielleicht erinnern Sie sich noch an IBAN, den Schrecklichen: die Personifizierung aller Probleme bei der Einführung der internationalen Kontonummer. Ähnliches Ungemach droht von einem entfernten Verwandten, vielmehr einer ganzen Sippe. Die Familie der IBORs, der Interbankenzinssätze (interbank offered rates) erfindet sich – nicht ganz freiwillig – neu.
Wer noch nie von den IBORs gehört hat: Hierbei handelt es sich um Referenzzinssätze, die sich Banken bei Ausleihungen gegenseitig in Rechnung stellen und mit denen sowohl die Verzinsung variabler Kredite und Anleihen als auch die Verzinsung derivativer Finanzprodukte berechnet wird. Im Euroraum kommt hierfür zumeist der EURIBOR zur Anwendung. Bislang wurden IBORs i. W. durch ein Quotierungsverfahren der teilnehmenden Banken ermittelt (so wie bei seinen Verwandten USD-LIBOR, GBP-LIBOR, etc.). Im Nachgang zur Finanzmarktkrise wurden diese vom Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board) der G20 als Reaktion v. a. auf Manipulationen dieser Referenzzinsätze zur Disposition gestellt. Ziel war es, die Referenzzinsätze nahezu risikofrei und vor allem transaktionsbasiert auszugestalten. Dies hat die EU-Kommission mit der sog. Benchmark-Verordnung umgesetzt. Bis Ende 2019 soll der EURIBOR nun auf neue Beine gestellt werden – alter Name, neuer Inhalt. Ähnliche Initiativen gab und gibt es in den anderen bedeutenden Volkswirtschaften, z. B. in Großbritannien oder den USA.
Neben vielen Umsetzungsfragen vertraglicher, prozessualer und juristischer Natur ergeben sich auch Bilanzierungsfragestellungen. Hier kommt erschwerend hinzu, dass gerade in den International Financial Reporting Standards (IFRS) häufig Bilanzwerte diskontierte Werte sind. Für die Diskontierung kommt entweder unmittelbar ein Referenzzinssatz wie EURIBOR zur Anwendung, oder er ist die Ausgangsbasis zur Ermittlung eines adäquaten Diskontierungszinses. Als 2018 das Momentum hinsichtlich der Umsetzung der Vorgaben des Finanzstabilitätsrats weltweit deutlich zugenommen hat, ist auch der International Accounting Standards Board auf den Plan getreten und hat ein Projekt zu den Auswirkungen der IBOR-Ablösung auf die IFRS-Bilanzierung auf seine Agenda genommen. Insbesondere ein Thema hat sich dabei als besonders akut herausgestellt: die Auswirkung auf die bilanzielle Abbildung von Sicherungsbeziehungen, gemeinhin unter dem Begriff „Hedge Accounting“ bekannt. Was nach einem Bankenthema klingt, ist aber auch täglich Brot vieler Nichtfinanzdienstleister. Schlimmer noch: Genau das dort häufig eingesetzte Cashflow Hedge Accounting ist besonders betroffen. Dahinter steckt die Absicherung der Zinsänderungsrisiken aus variabel verzinslichen Instrumenten, die auf einem IBOR basieren. Die Variabilität soll im Rahmen des Risikomanagements häufig durch Derivate reduziert oder eliminiert werden. Wenn aber die künftigen Zinszahlungen nicht mehr auf dem ursprünglichen IBOR basieren, wie kann man es dann im Hedge Accounting designieren? Ist die Antwort, dass diese Cashflows in der designierten Form nicht mehr kommen, dann muss man zwingend das Hedge Accounting einstellen. Die beim Cashflow Hedge Accounting im Eigenkapital geparkten Beträge sind dann sofort in die GuV umzubuchen – und das sind häufig keine Beträge von untergeordneter Bedeutung. Irrwitzig, da sich ja an der Sicherungsstrategie nichts geändert hat.
Daher hat der IASB seine Arbeit zweigeteilt und in Themen getrennt, die vor der Ablösung der IBORs entstehen, und solche, die erst im Zeitpunkt der Umstellung schlagend werden. Im September hat der IASB dann Änderungen an IAS 39 und IFRS 9 verabschiedet, die eine Erleichterung für diejenigen Unternehmen darstellen, die Hedge Accounting für Zinsänderungsrisiken anwenden. Der Kern der Änderungen ist die Hypothese, dass – solange Unsicherheit hinsichtlich Zeitpunkt und Höhe der Cashflows aufgrund der Ablösung des jeweiligen IBORs besteht – der Bilanzierende unter der Annahme arbeiten soll, dass der alte IBOR fortbesteht. M. a. W. ändert sich an der grundlegenden Hedge-Accounting-Beziehung erst einmal nichts. Sollten sich Unterschiede im Rahmen der Bewertung ergeben, sind diese als sog. Ineffektivität zu erfassen und berühren grundsätzlich die GuV. Zumindest für EURIBOR und €STER sollten sich diese Effekte in Grenzen halten.
Anzuwenden sind diese Änderungen zwingend ab dem 1.1.2020. Zwar ist die vorzeitige Anwendung zulässig, jedoch für IFRS-Bilanzierer in der EU erst dann möglich, wenn die Standardänderung in EU-Recht übernommen wurde – das sog. Endorsement. Und dieser Prozess dauert i. d. R. einige Monate, da diverse Verfahrensschritte zu durchlaufen sind. Alle Beteiligten haben bekundet, dass sie so schnell wie möglich agieren wollen. Liegt aber ein Quartals- oder ein Jahresstichtag zwischen Veröffentlichung der Änderungen und der Übernahme in EU-Recht, dann hat der Bilanzierende ein Problem: Er kann die Erleichterung durch die Änderung noch nicht anwenden, da der Abschluss in Einklang mit den IFRS, wie sie in der EU zur Anwendung kommen, aufgestellt werden muss. Als einziger Ausweg bleibt, auch weiterhin davon auszugehen, dass die IBOR-Zinsen eintreffen, wie sie erwartet wurden und man gar nicht in den Anwendungsbereich der Änderungen kommt. Je näher aber der Zeitpunkt einer IBOR-Ablösung rückt, desto weniger trägt diese Argumentation.
Daher ist es wichtig, dass alle Betroffenen den Verantwortlichen in Berlin und Brüssel deutlich machen, den Prozess der Indossierung der Änderungen in der EU so schnell wie möglich voranzutreiben und alle möglichen Abkürzungen zu nutzen, was auch Verkürzungen von den teilweise großzügigen Fristen umfassen kann. Die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) hat schon den ersten Aufschlag mit einer sehr schnellen Übernahmeempfehlung gemacht. Zumindest aus Bilanzierungssicht kann so den IBORs der Schrecken teilweise genommen werden.
Dipl.-Kfm. Jens Berger, CPA, ist Partner beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte in Frankfurt a. M. und Leiter des deutschen IFRS Centre of Excellence.
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