Jens Berger: IFRS – nachhaltig fit für die EU? – Carve-ins sind kein Mittel der Wahl
Die Europäische Kommission ist in vielen Bereichen umtriebig. Auch das Thema „Nachhaltigkeit“ ist eines der Felder, in dem die Kommission Handlungsbedarf sieht und hier insbesondere im Bereich der nachhaltigen Finanzierung (sustainable finance). Mit einem Aktionsplan will Brüssel nun die Investitionen ankurbeln, welche die EU in eine nachhaltig wirtschaftende Gemeinschaft verwandeln sollen. Ebenso soll bei Finanzierungen Nachhaltigkeit einer der entscheidungsrelevanten Faktoren werden. Der Aktionsplan sieht ein umfangreiches, noch zu entwickelndes Maßnahmenpaket vor, das z. B. auch ein EU-Ökosiegel für Finanzprodukte enthalten soll, mit dem Ziel, zum dritten Quartal 2019 die Maßnahmen i. W. abgeschlossen zu haben – geht es nach dem Willen der EU-Kommissare. Von dieser Umtriebigkeit bleibt auch die Finanzberichterstattung nicht verschont.
Folgende Aufgaben hat man sich gestellt:
– Fitness-Check hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der EU-Rechtsvorschriften über die öffentliche Berichterstattung von Unternehmen (einschließlich der Corporate-Social-Responsibility-[CSR-]Richtlinie),
– Überarbeitung der Leitlinien für nichtfinanzielle Informationen, um den Unternehmen weitere Vorgaben für die Offenlegung klimarelevanter Informationen im Einklang mit den Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) zu machen,
– bis zum dritten Quartal 2018 die Einrichtung eines European Corporate Reporting Lab bei der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG),
– die Möglichkeit zu eruieren, ob die Kommission der EFRAG bei der Übernahme der International Financial Reporting Standards (IFRS) als Kriterium die Nachhaltigkeit der zu beurteilenden Vorschriften aufgibt,
– Prüfung der International-Accounting-Standards-(IAS-)Verordnung mit dem Ziel einer Beurteilung, ob spezifische Eingriffe in die IFRS im Rahmen des Endorsement zweckdienlich sind.
Der Aktionsplan basiert auf den Ergebnissen der sog. High-Level Expert Group, die von der EU-Kommission eingesetzt wurde, um strategische Maßnahmen für ein Finanzsystem vorzuschlagen, das nachhaltige Investitionen unterstützt.
Aus Sicht der IFRS-Bilanzierer sollten vor allem die letzten beiden Punkte aufhorchen lassen. Schon jetzt entzünden sich regelmäßig im Rahmen des Indossierungsprozesses Diskussionen, ob ein neuer Standard bzw. eine Standardänderung dem europäischen Gemeinwohl zuträglich ist. Dies kann man sehr gut an den Diskussionen zum Versicherungsstandard IFRS 17 verfolgen. Einen möglichen weiteren Faktor „Nachhaltigkeit“ hinzuzufügen, der ähnlich schwierig greifbar ist wie das „europäische Gemeinwohl“, macht die Übernahme eines Standards nicht einfacher. Einen Vorgeschmack darauf kann man bei den Nachwehen zu IFRS 9 bekommen, bei denen sich die EFRAG mit der Frage beschäftigen muss, ob für Eigenkapitalinstrumente, die im sonstigen Ergebnis (other comprehensive income – OCI) zum Fair Value bewertet werden, nicht doch ein Recycling für die Erfolgsmessung bei Abgang sinnvoll wäre – womit man dann wieder unmittelbar bei der Frage eines Impairmentmodells wäre. Das Modell unter IAS 39 hat sich als wenig zielführend erwiesen, was in der Finanzmarktkrise mehr als deutlich wurde. Es wird noch viele Diskussionen zu diesem Thema geben, obwohl jetzt schon absehbar ist, dass nur wenige Unternehmen (v. a. Versicherer) davon in größerem Umfange betroffen sind und es keine einfachen Alternativen ohne andere Probleme geben wird.
Die Prüfung auf Nachhaltigkeit mag noch irgendwie verständlich und vielleicht auch vertretbar sein. Weitaus schwerer wiegt aus meiner Sicht jedoch der mögliche Eingriff in die vom International Accounting Standards Board (IASB) verabschiedeten Standards. Bislang sieht die für den Übernahmeprozess in der EU den Rahmen vorgebende IAS-Verordnung nur die Möglichkeit eines Carve-Out vor, d. h. es können Passagen in einem Standard entfernt werden. Davon wurde in der Vergangenheit i. W. bei IAS 39 Gebrauch gemacht. Sog. Carve-Ins, also Ergänzungen und Hinzufügungen, sind bislang nicht möglich – obwohl es sicherlich die eine oder andere Jurisdiktion gibt, die sich dieses Mittel schon länger als Teil des Instrumentariums wünscht. Man mag dies als reine Formalie abtun – die Auswirkungen wären jedoch dramatisch. Nicht nur würde der Indossierungsprozess um eine weitere Facette ergänzt, nämlich Diskussionen darüber, ob punktuell in die Standards eingegriffen werden soll (hier stellt sich dann auch die Frage, ob dies nur für neue Standards gilt oder auch für den bestehenden Kanon der IFRS). Bislang war das wesentliche politische Faustpfand – auch gegenüber dem IASB – die Nicht-Übernahme eines kompletten Standards in europäisches Recht. Eine solche Maßnahme ist wohl als Mittel der letzten Wahl zu bezeichnen. Viel einfacher ist es jedoch, an einzelnen nicht passenden Passagen feilen zu können. Dass es hier zu Arbitrage-Vorgängen zwischen den Akteuren kommen würde, dürfte Kenner des politischen Prozesses in Brüssel wenig überraschen. Über mittlere und lange Frist würde dies dazu führen, dass EU Generally Accepted Accounting Priciples (EU-GAAP) entstehen, welche mehr oder weniger weit entfernt von den in London veröffentlichten IFRS sind. Dies würde nicht nur der Marke „IFRS“ weltweit schaden, sondern vor allem auch den eigentlichen Zweck ad absurdum führen, eine (immerhin gewisse) Vergleichbarkeit der Unternehmen weltweit sicherzustellen auf Basis von durch einen transparenten Prozess entstandenen Rechnungslegungsnormen. Und: der Kapitalmarkt würde dies nicht unbeantwortet lassen. Die Risiken aus einer „unbekannten“ und ggf. nicht transparenten Rechnungslegung würden sich vermutlich in höheren Risikoprämien niederschlagen.
Auch wenn die IFRS weit davon entfernt sind, die perfekte Rechnungslegungsnorm zu sein, so ist doch eine europäische Alternative aus vielerlei Gründen die deutlich schlechtere. Daher kann das Petitum an die deutsche Wirtschaft nur lauten: Bringen Sie sich in den Meinungsbildungsprozess der EU ein!
Dipl.-Kfm. Jens Berger, CPA, ist Partner beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte in Frankfurt a. M. und Leiter des deutschen IFRS Centre of Excellence.