Prof. Dr. Jessica Schmidt: Grenzüberschreitende Unternehmensmobilität 2.0: Die MobilRL eröffnet ab 2023 neue Wege
Schon seit 2005 existiert eine Richtlinie für grenzüberschreitende Verschmelzungen. Die dadurch geschaffene europäische “Autobahn” hat zwar noch einige “Schlaglöcher”, geübte “Fahrer” gelangen aber recht schnell an ihr Ziel. Für grenzüberschreitende Formwechsel und Spaltungen existierte hingegen bislang keine spezielle Richtlinie. Der EuGH hat zwar in drei viel diskutierten Grundsatzurteilen (Cartesio, VALE, Polbud) entschieden, dass die Niederlassungsfreiheit auch grenzüberschreitende Formwechsel schützt. Ohne einen klaren unionsrechtlichen Rechtsrahmen sind solche Transaktionen jedoch für die Unternehmen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Zudem fehlen harmonisierte Schutzvorschriften für Minderheitsgesellschafter, Gläubiger und Arbeitnehmer. Wer solche Transaktionen dennoch wagt, wandert daher eher auf einem unsicheren Gebirgspfad und blickt ständig in den grenzüberschreitenden Abgrund.
All dies wird sich ab dem 31. Januar 2023 – jedenfalls für Kapitalgesellschaften – grundlegend ändern: Denn bis dahin müssen die Mitgliedstaaten die am 1. Januar 2020 in Kraft getretene MobilRL (RL (EU) 2019/2121) umsetzen. Die MobilRL – die trotz ihres Umfangs in einer Rekordzeit von 19 Monaten verabschiedet wurde – bringt nicht nur ein “Update” der Vorschriften für grenzüberschreitende Verschmelzungen, sondern ergänzt die GesRRL auch um zwei völlige neue Kapitel zu grenzüberschreitenden Formwechseln und Spaltungen. Für die grenzüberschreitende Unternehmensmobilität in Europa ist das ein ganz großer Wurf. Kapitalgesellschaften werden künftig auf der Basis eines unionsweit harmonisierten Rechtsrahmens nicht nur grenzüberschreitend miteinander verschmelzen, sondern auch grenzüberschreitend Aufspaltungen, Abspaltungen und Ausgliederungen zur Neugründung durchführen oder sich formwechselnd in eine Kapitalgesellschaftsform eines anderen Mitgliedstaats umwandeln können.
Für alle drei Umwandlungsvarianten gilt das bewährte “europäische Modell für Strukturmaßnahmen” mit den bekannten zentralen Verfahrensschritten: Plan, Bericht des Managements, Prüfung durch einen externen Sachverständigen, Beschluss durch die Gesellschafterversammlungen der beteiligten Gesellschaften und Rechtmäßigkeitskontrolle durch die zuständigen nationalen Stellen. Allerdings mit einigen interessanten Updates: So gibt es etwa kleine Neuerungen beim Inhalt des Plans, der Bericht wurde neu konzipiert (er enthält nun separate Abschnitte für Gesellschafter und Arbeitnehmer) und die Offenlegung sowie die Rechtmäßigkeitskontrolle wurden im Einklang mit den Reformen durch die DigiRL modernisiert.
Eine bedeutsame Errungenschaft ist zudem insbesondere, dass für alle drei Umwandlungsvarianten harmonisierte Mindestschutzstandards für Minderheitsgesellschafter und Gläubiger geschaffen wurden: Für Minderheitsgesellschafter ist ein Recht zum Austritt gegen Barabfindung und ein Anspruch auf Verbesserung des Umtauschverhältnisses vorgesehen, für die Gläubiger ein Anspruch auf Sicherheitsleistung.
In Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmer überträgt die MobilRL das von der SE und der grenzüberschreitenden Verschmelzung her bekannte Grundkonzept aus Verhandlungsmodell und Auffanglösung auch auf grenzüberschreitende Spaltungen und Formwechsel – allerdings mit einigen signifikanten Neuerungen. Neu ist insbesondere die sog. “4/5”-Lösung: Sie verpflichtet bereits dann zu Verhandlungen, wenn 4/5 des im nationalen Recht vorgesehenen Schwellenwerts für die Mitbestimmung erreicht werden. Wenn keine Einigung erzielt wird, führt sie allerdings zur Mitbestimmungsfreiheit und ist damit letztlich ein “stumpfes Schwert”, das zudem Zeit frisst und Kosten generiert.
Ein weiteres Novum ist die speziell verankerte Missbrauchskontrolle: Wenn im Rahmen der Rechtmäßigkeitskontrolle im Wegzugsstaat festgestellt wird, dass die Umwandlung missbräuchlichen, betrügerischen oder kriminellen Zwecken dient, darf keine Vorabbescheinigung erteilt werden – die grenzüberschreitende Umwandlung kann also nicht durchgeführt werden. Dies ist zweifellos ein deutlicher Fortschritt gegenüber der im Kommissionsentwurf vorgesehenen Ausnahme für “künstliche Gestaltungen” (die keiner so recht definieren konnte). Der neue Missbrauchsvorbehalt bringt aber gleichwohl Rechtsunsicherheit, die Gefahr von Verzögerungen und birgt das Risiko, dass er von Mitgliedstaaten u. U. selbst dazu missbraucht wird, unliebsame Umwandlungen zu verhindern.
Wenn ein derartiges Mammutprojekt in einer solchen Rekordzeit durch das Legislativverfahren manövriert wird, überrascht es nicht, dass in Bezug auf Detailfragen Kompromisse gemacht wurden und Redaktionsfehler passiert sind. Zudem hat die MobilRL leider auch nicht alle rechtspolitischen Wünsche erfüllt: Sie ist auf Kapitalgesellschaften beschränkt, erfasst nur die Spaltung zur Neugründung (nicht zur Aufnahme) und es fehlt weiterhin eine Harmonisierung des Gesellschaftskollisionsrechts.
All dies ändert jedoch nichts daran, dass die MobilRL zweifellos ein ganz großer Meilenstein für das europäische Unternehmensrecht ist. Ab 2023 wird in der EU für grenzüberschreitende Verschmelzungen, Spaltungen und Formwechsel von Kapitalgesellschaften endlich ein voll funktionsfähiges “Autobahnnetz” existieren!
Prof. Dr. Jessica Schmidt, LL.M., ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches, europäisches und internationales Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (Zivilrecht I) an der Universität Bayreuth. Sie ist Autorin zahlreicher Veröffentlichungen zum deutschen und europäischen Unternehmensrecht und Mitglied der vom BMJV eingesetzten Expertenkommission UmRUG. Das Editorial gibt ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder.