Dr. Andreas Bartosch: Die neue Welt der Verfolgung von Steuerhinterziehungen vermittels des Beihilfenrechts
Noch in der Amtszeit des früheren Wettbewerbskommissars verkündete die EU-Kommission Mitte des Jahres 2014 ihre Botschaft, bilaterale Steuervereinbarungen, die international tätige Konzerne mit unterschiedlichen Steuerverwaltungen geschlossen hatten, vermittels des Instruments der EU-Beihilfenkontrolle verfolgen zu wollen. Dies war vom Ansatz her neu, waren es doch in der ersten großen Säuberungswelle, die die Brüsseler Behörde Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts im fiskalischen Bereich losgetreten hatte, stets Steuersysteme der Mitgliedstaaten gewesen, die als sog. „schädlicher Steuerwettbewerb“, weil einseitig darauf ausgerichtet, derartige Großunternehmen ins Land zu locken, ausradiert werden sollten. Der neue Ansatz griff dagegen individuelle sog. Transferpreisvereinbarungen auf, welche multinational tätige Konzerne mit bestimmten europäischen Steuerverwaltungen abgeschlossen haben. Diese Vereinbarungen regeln die Preise, die die einzelnen Konzerngesellschaften in untereinander abgeschlossenen Transaktionen zur Anwendung bringen; solche Transaktionen legen dabei vor allem die Preise fest, die eine Konzerngesellschaft einer anderen für eine bestimmte, von ihr gelieferte Ware oder eine bestimmte, von ihr erbrachte Dienstleistung in Rechnung stellt. Die Unterschiede zwischen den Hochsteuer- und den Niedrigsteuerstaaten in der EU haben international operierende Unternehmensgruppen dazu veranlasst, ihre Transferpreise so zu gestalten, dass die in einem Niedrigsteuerstaat ansässige Konzerngesellschaft A die Preise, die sie gegenüber der in einem Hochsteuerstaat ansässigen Konzerngesellschaft B zur Anwendung bringt, (weit) über das Niveau hinaus anhebt, wie es im Verhältnis nicht konzernverbundener Unternehmen zueinander nach sog. „arm´s length“-Grundsätzen vereinbart worden wäre. Auf diese Weise wird der in dem Hochsteuerstaat zu versteuernde Gewinn gemindert oder fällt erst gar nicht an, wohingegen die zu versteuernden (hohen) Gewinne in dem Niedrigsteuerstaat anfallen.
Zur Bewältigung dieser Aufgabe wurde, gleichsam als Prätorianergarde der Generaldirektion Wettbewerb, eine eigene Steuerhinterziehungsbekämpfungssondereinheit, amtstechnisch als „Task Force Tax Planning Practices“ tituliert, geschaffen.
Die ersten Eröffnungsentscheidungen, die Mitte bis Ende 2014 ans Licht der interessierten Öffentlichkeit traten, zeigten ein erschütterndes Bild; gezeichnet von rechtsdogmatischer Verwirrtheit standen sie als wenig geistiges Licht spendende Leuchttürme verloren in der Landschaft. Dies hat sich dann bis zu der Annahme der ersten verfahrensabschließenden Entscheidungen in den Fällen Starbucks/Niederlande und Fiat/Luxemburg deutlich verändert; die juristische Prüfung der Kommission, vor allem die Analyse, wieso die Maßnahme das diffizile Tatbestandsmerkmal der sog. materiellen Selektivität als eines der insgesamt fünf Voraussetzungen für das Eingreifen des EU-beihilferechtlichen Verbotstatbestands erfüllt, hatte bis dahin einen merklichen intellektuellen Reifungsprozess durchlaufen.
Erstaunlich war indes doch gewesen, dass – bedenkt man die mediale Aufmerksamkeit, die diese Fälle genossen – die Rückforderungsbeträge, wie sie Ende 2015 verkündet wurden, gemessen an der Größe und der Steuerzahllast der betroffenen Unternehmen deutlich weniger spektakulär ausfielen. Dies änderte sich dann, als die EU-Wettbewerbskommissarin am 30. August dieses Jahres den Abschluss des Verfahrens gegen die Steuervorteile verkündete, die Apple angeblich in der Republik Irland genossen haben soll; im Raum steht seitdem die höchste Rückforderungssumme, die die Kommission jemals verhängt hat.
Bemerkenswert ist aber hier nicht nur die schiere Größe des Betrages, sondern aus Sicht der Rechtsdogmatiker vor allem ein Satz in der entsprechenden Presseerklärung, in dem es heißt, dass sich diese Rückforderungssumme reduzieren könnte, wenn das Unternehmen von den Steuerverwaltungen anderer EU-Mitgliedstaaten aufgefordert werden würde, diesen für den prüfungsgegenständlichen Zeitraum von zehn Jahren mehr Steuern zu bezahlen. An dieser Stelle muss jeder des Beihilfenrechts Kundige mehrmals schlucken, ist doch das vorerwähnte Tatbestandsmerkmal der materiellen Selektivität ein solches, welches nicht etwa Ungleichbehandlungen, wie sie zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten existieren, sondern solche, wie sie innerhalb ein und desselben Mitgliedstaates bestehen, betrifft. Ob ein Vorteil, der einem Unternehmen in dem Mitgliedstaat A zukommt, diesem im Mitgliedstaat B verweigert wird, ist dagegen vollkommen unerheblich. Ist es daher durchaus nachvollziehbar, dass die Kommission Steuervorteile angreift, die bestimmten Unternehmen in einem bestimmten Mitgliedstaat gewährt werden und die anderen Unternehmen in demselben Mitgliedstaat nicht zur Verfügung stehen, so fällt es doch schwer, das Verhalten anderer Mitgliedstaaten dergestalt, dass diese die Mindereinnahmen Irlands ausgleichen sollen, heranzuziehen, um den Wert der Beihilfe, den Apple erhalten haben soll, herabzusetzen.
Die Entscheidung vom 30. August ist bislang nicht veröffentlicht. Die hier aufgeworfene Frage wird zur Klärung an den Europäischen Gerichtshof versandt werden. Wenn dieser dann in ca. 3 Jahren seine Antwort erteilen wird, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bricht die Welt der Verfolgung von Steuerhinterziehungen einzelner Unternehmen wie ein Kartenhaus in sich zusammen oder viele Beihilfenrechtler eingeschlossen mich selbst werden sich eingestehen müssen, dass sie trotz vieler Jahre der Beschäftigung mit dieser Materie doch gar nichts davon verstanden haben.
Dr. Andreas Bartosch ist Rechtsanwalt und auf EU-Recht spezialisierter Partner der Sozietät Lutz Abel. Seit zwei Jahrzehnten ist er in Brüssel mit einer besonderen Schwerpunktsetzung auf dem EU-Beihilfenrecht tätig. Unter seinen zahlreichen Publikationen zu diesem Thema ist insbesondere sein 2016 in 2. Auflage erschienener Kommentar „EU-Beihilfenrecht“ zu erwähnen.
Kann die Steuernachforderung eines anderen Mitgliedstaates die Rückforderung eines selektiven Steuervorteils reduzieren?