Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer: Das EuGH-Urteil zu Sozialhilfeleistungen für EU-Ausländer
Die weithin zustimmend aufgenommene Entscheidung des EuGH vom 11.11.2014 in der Rechtssache Dano (C-333/13) präzisiert das bisher noch nicht hinreichend geklärte Verhältnis zwischen dem Europäischen koordinierenden Sozialrecht und der Unionsbürgerfreizügigkeit. Jene ist in der VO (EG) Nr. 883/2004 niedergelegt, diese in der Richtlinie 2004/38/EG ausgeformt. Beide regeln das Recht auf den Bezug von Leistungen des SGB II für EU-Bürger gegensätzlich.
Das koordinierende Sozialrecht verbietet unter EU-Bürgern jede Diskriminierung (Art. 4 VO (EG) Nr. 883/2004) wegen der Staatsangehörigkeit auch bei der "beitragsunabhängigen Geldleistung" Grundsicherung (Art. 3 Abs. 3, Art. 70 VO [EG] Nr. 883/2004 mit Anh. X). Dagegen gestattet Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG den Mitgliedstaaten, EU-Bürger aus anderen Staaten von „Sozialhilfe“ auszuschließen, wenn sie bei Einreise nicht über zureichende Existenzmittel verfügen. Der deutsche Gesetzgeber hat darauf gestützt in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II die im Inland wohnenden Ausländer aus dem Kreis der SGB II-Berechtigten ausgeschlossen. Seither ist umstritten, ob dies europarechtlich statthaft ist.
Der EuGH bejahte dies vorliegend für die aus Rumänien nach Leipzig gezogenen Antragsteller. Sie hatten SGB II-Leistungen beantragt, obwohl die erwachsene Antragstellerin bisher weder gearbeitet hatte noch Arbeit suchte. Das gegen die Ablehnung angerufene und zuständige SG Leipzig unterbreitete dem EuGH die Fragen, ob die Grundsicherung eine Diskriminierung im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit erlaube, wiewohl sie eine "beitragsunabhängige Geldleistung" sei, und falls ja, ob jene durch Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG europarechtlich gerechtfertigt sei.
Der EuGH bejahte beide Vorlagefragen. Die Grundsicherung sei eine beitragsunabhängige Geldleistung, weil sie für die Berechtigten eine Mindestsicherung biete, ohne auf vorherigen Beitragszahlungen zu beruhen. Diese habe der Wohnstaat zu leisten, und sie sei auf die Lebensbedingungen im Wohnstaat ausgerichtet, um das Existenzminimum dort und darin zu sichern. Weil bei Wohnsitzverlegung des Berechtigten in einen anderen Mitgliedstaat die Grundsicherung nicht zu exportieren sei, sondern endige, erwachse als Gegenstück eine Berechtigung auf vergleichbare Leistungen im neuen Wohnstaat, ohne dass eine Differenzierung nach der Staatsbürgerschaft statthaft sei. Diese Regel sei auch auf das Recht der Grundsicherung zu erstrecken.
Daraus folge aber nicht, dass der zur Gewährung von Grundsicherung zuständige Mitgliedstaaten zur umfassenden Gleichbehandlung aller EU-Bürger verpflichtet wäre. Denn die Mitgliedstaaten seien nach Art 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG befugt, für ausländische Arbeitsuchende wie Nichterwerbstätige Ausnahmen bei der Gewährung von Sozialhilfe vorzusehen. Dazu zähle auch die Grundsicherung für Arbeitsuchende.
EU-Recht gestatte, die nicht erwerbstätigen Unionsbürger, welche sich länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, von Sozialleistungen auszuschließen, falls diese die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EG nicht erfüllen. Diese sind erfüllt, wenn der nicht erwerbstätige Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen keine ausreichenden Existenzmittel hat. Ob ein Zuwanderer über ausreichende Existenzmittel verfügt, ist in jedem Einzelfall anhand der wirtschaftlichen Lage des Antragstellers zu prüfen; vom Ergebnis dieser Prüfung hängt dann das Recht auf Aufenthaltsbegründung ab.
Wer als EU- Ausländer mithin verarmt in einen anderen Mitgliedstaat übersiedelt, darf vom Bezug beitragsunabhängige Geldleistungen durch den neuen Wohnstaat ausgeschlossen werden, selbst wenn er diese seinen eigenen Staatsangehörigen bei Wohnsitz im Inland gewährt. Das EU-Recht billige ausnahmsweise diese Ungleichbehandlung. Andernfalls könnten Personen, denen nach der Richtlinie 2004/38 kein Aufenthaltsrecht zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen. Dies liefe dem Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern. Weil Art 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Personen hinsichtlich der Voraussetzung, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen, unterscheidet und erstgenannten ein Aufenthaltsrecht auch ohne ausreichende Existenzmittel einräumt, wird von nicht erwerbstätigen Personen verlangt, über ausreichende eigene Existenzmittel zu verfügen.
Diese Bestimmung soll also primär nicht erwerbstätige Unionsbürger hindern, aus dem System der sozialen Sicherheit des aufgesuchten Aufnahmemitgliedstaats den Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese Regelung würde leer laufen, wenn sie bei Niederlassung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, automatisch in den Genuss beitragsunabhängiger Geldleistung zur Sicherung ihres Elementarunterhalts gelangten.
Die Entscheidung verbindet Koordinierungsrecht mit Aufenthaltsrecht, klärt aber vor allem – was bisher noch umstritten war –, ob im Rahmen des Vorliegens eines den Anspruch begründenden Inlandswohnsitzes (§ 7 Abs. 1 Nr.4 SGB II) nicht nur dessen faktische Existenz, sondern auch dessen aufenthaltsrechtliche Zulässigkeit geprüft und gegeben sein muss. Sie stellt klar, dass ein anspruchsbegründender Inlandswohnsitz nur besteht, falls der Berechtigte auch im Inland aufenthaltsberechtigt ist. Diese Klärung ist neu, wichtig und im Interesse der Konsistenz des EU-Rechts auch richtig.
Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Universität Jena