Daniela Pezzella, RAin, und Dr. Stephan Schäfer, RA: Coronavirus und Vertragsrecht – was tun, wenn Lieferketten zusammenbrechen?
Das Coronavirus (COVID-19) stört Lieferketten, branchen- und staatenüberschreitend. Ausgehend von China – der „Werkbank der Welt“ – wurde ein Domino-Effekt in Gang gesetzt, der die Weltwirtschaft taumeln lässt. Noch funktionieren die Warenströme zwar leidlich, allerdings sieht sich die vernetzte deutsche Wirtschaft großen Risiken ausgesetzt.
Unternehmen sorgen sich vor allem um die Erfüllung der eigenen Lieferverpflichtungen gegenüber den Kunden. Es drohen Schadensersatzrisiken bei Lieferverzögerungen. Viele haben sich zudem vertraglich zur Zahlung pauschaler Vertragsstrafen bei Lieferverzögerungen verpflichtet. Vor Augen schwebt vielen Unternehmen dabei das Horrorszenario eines Betriebsstillstands aufgrund von Quarantänemaßnahmen, Erkrankung oder wegfallender Mobilität der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Nicht weniger dramatisch ist freilich das Szenario kollabierender Transportwege und Logistiknoten, insbesondere im Bereich internationaler Luft- und Seefracht. Es fällt den Unternehmen schwer einzuschätzen, welche konkreten Gefahren aus diesen abstrakten Risiken und deren Kombination herrühren.
Fest steht, dass der Druck in allen Teilen der Supply Chain wächst. Wie (relativ) gelassen dem das einzelne Unternehmen entgegen sehen kann, hängt in letzter Instanz von der Ausgestaltung der jeweiligen vertraglichen Leistungsbeziehung mit den Kunden ab.
Was sollten Lieferanten mit Blick auf Ihre Kundenverträge jetzt tun?
Zunächst führt kein Weg an einer Detailauswertung der bestehenden Kundenverträge vorbei. Vieles hängt davon ab, wie leicht oder schwer diese Verträge in der jetzigen Ausnahmesituation eine Anpassung zulassen. Dem Lieferanten geht es darum, die eigenen Lieferverpflichtungen bei Bedarf zeitlich hinausschieben zu können. Anknüpfungspunkt hierfür ist die im kaufmännischen Verkehr weithin übliche Klausel zu force majeure (höhere Gewalt). Ist keine derartige Klausel wirksam vereinbart, kann eine Anpassung nur über das dispositive Gesetzesrecht erfolgen.
1. Wenn eine Klausel zu force majeure (höhere Gewalt) im Kundenvertrag enthalten ist:
Lieferverträge enthalten häufig Klauseln, die bei außergewöhnlichen Umständen eine Anpassung des Vertrags, insbesondere im Hinblick auf den Lieferzeitpunkt, ermöglichen. Grundsätzlich sind derartige Klauseln auch in allgemeinen Geschäftsbedingungen zulässig, wenn die jeweilige Situation, die eine Anpassungsmöglichkeit auslöst, für die Partei, die sich hierauf beruft, unvorhersehbar, unvermeidbar und objektiv außergewöhnlich ist. Zunächst folgt aus dem Vorliegen höherer Gewalt, dass Lieferhindernisse für die Dauer ihres Bestehens keinen Verzug und damit auch keine Schadenersatzansprüche oder Vertragsstrafen zu Gunsten des Abnehmers auslösen. Ob darüber hinaus eine Anpassung des Vertrags verlangt werden kann, hängt von der konkreten Ausgestaltung der Klausel ab.
Regelmäßig handelt es sich nach dem Willen der Parteien bei „höherer Gewalt“ um „ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, dass nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist“ (vgl. statt vieler nur: BGH, 16.10.2007 – VI ZR 173/06).
Bei der konkreten Ausgestaltung der Klausel gibt es freilich Spielräume, sodass es letztlich von der Einzelfallauslegung abhängt, ob die Verbreitung von Epidemien/Pandemien als gravierender Grund hierunter zu fassen ist. Man wird dies regelmäßig bejahen können, wobei es zum einen zu berücksichtigen gilt, dass die Verbreitung der Krankheit selbst in Stufen abläuft, zum anderen viele der gegenwärtigen Probleme für die Lieferkette aus administrativen Reaktionen auf die Krankheit herrühren. In einer Entscheidung zum Reiserecht hat das AG Augsburg die SARS-Epidemie 2003 als Fall höherer Gewalt anerkannt (AG Augsburg, BeckRS 2004, 16212). Immer dort, wo staatliche Maßnahmen im Zuge der Pandemie eingreifen, wird meist höhere Gewalt bejaht werden können (z. B. Grenzschließungen, Maßnahmen der Außenwirtschaftskontrolle für bestimmte Medizinprodukte, behördliche Betriebsschließungen, Bewegungsverbote etc.).
Regelmäßig erfordern Klauseln zur höheren Gewalt aber auch, dass der Eintritt des Ereignisses zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vorhersehbar war, da sonst das Risiko bei der Partei verbleibt, die in Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis eines Ereignisses vertragliche Verpflichtungen eingeht. Das ist mit Blick auf bereits laufende Verträge mit Lieferverpflichtungen nicht sehr kritisch, jedoch bei jetzt neu abgeschlossenen Verträgen ein Punkt, den es dringend zu beachten gilt.
Riskant hingegen bleiben Maßnahmen der betrieblichen Eigenvorsorge, die ein Unternehmen rein präventiv ergreift. Hier dürfte es am für force majeure notwendigen Zwangselement fehlen, wenn es allein aufgrund solcher Maßnahmen zu Lieferverzögerungen kommt.
2. Wenn eine Klausel zu force majeure (höhere Gewalt) im Kundenvertrag nicht enthalten ist
Unterliegt der Vertrag deutschem Recht sind die Regeln über die Unmöglichkeit (§ 275 BGB) sowie die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) zu beachten. Hinzu tritt ggf. Art. 79 des UN-Kaufrechts, sofern dessen Anwendung nicht ausgeschlossen ist.
Ob eine Leistungsverweigerung auf Basis dieser gesetzlichen Regelungen im Einzelfall möglich ist, ist abstrakt kaum zu beantworten, da es auf den jeweiligen vertraglichen und tatsächlichen Einzelfall ankommt. Anders als bei einer explizit in den Vertrag (oder in die vertraglich einbezogenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen) aufgenommenen force-majeure-Klausel greift nämlich hier die grundsätzliche vertragliche Risikoverteilung, die es pauschal dem Lieferanten auferlegt, seinen Beschaffungspflichten nachzukommen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Gattungsschulden handelt.
3. Maßnahmen zur Vermeidung von Verzug und Schadensersatzrisiken
In jedem Fall angezeigt sind die folgenden Maßnahmen zur Minderung von Schadensrisiken:
- Den Vertragspartner frühzeitig über das Vorliegen eines (potentiellen) Falls höherer Gewalt informieren und auf Verzögerungen bei den Lieferungen vorbereiten.
- Mit Blick auf die eigenen Zulieferer die Belastbarkeit der Lieferkette evaluieren und ggf. alternative Deckungsmöglichkeiten suchen und diese dokumentieren. Das entspricht auch der eigenen Schadensminderungsobliegenheit.
- Mit Blick auf die eigene Organisation Pandemiepläne und weitere Mechanismen (z. B. Schichtsysteme etc.) erstellen, die die Betriebsabläufe – soweit vertretbar – sicherstellen und auch diese Bemühungen dokumentieren.
- Soweit gegenwärtig neue Lieferverträge abgeschlossen werden, sollte die Corona-Krise explizit im Vertragstext berücksichtigt werden, da eine force majeure Klausel (aufgrund der Vorhersehbarkeit etwaiger Engpässe zum jetzigen Zeitpunkt) hier sonst weitgehend leerläuft.
- Vorsorglich sollte auch der eigene Versicherungsschutz abgeglichen – und sofern noch möglich – aktualisiert werden.
Daniela Pezzella ist Rechtsanwältin bei ZENK in Berlin und seit 2019 Fachanwältin für Handels- und Gesellschaftsrecht. Sie ist schwerpunktmäßig im Bereich des Handels- und Gesellschaftsrechts sowie Insolvenzrecht bei der Beratung und Begleitung von mittelständischen und großen Unternehmen tätig.
Dr. Stephan Schäfer ist Rechtsanwalt in der Kanzlei ZENK in Berlin. Er ist schwerpunktmäßig im Bereich des Gesellschafts- und Vertragsrechts bei der Beratung und Begleitung von privaten oder öffentlichen Unternehmen sowie Start- ups tätig, insbesondere bei Umstrukturierungen, Gesellschafterstreitigkeiten sowie bei der Gestaltung und Verhandlung von Verträgen mit einem Schwerpunkt auf Entwicklungs- und Lieferleistungen. Herr Dr. Schäfer ist Lehrbeauftragter an der Universität Bayreuth