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BB-Standpunkte
10.11.2015
BB-Standpunkte
Prof. Dr. Thomas Kadner Graziano: Angehörigen- oder Trauerschmerzensgeld – nach dem Germanwings-Absturz wieder auf der rechtspolitischen Agenda

Am 24.3.2015 kamen beim Absturz eines Airbus der deutschen Fluggesellschaft Germanwings auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in den südfranzösischen Alpen 150 Menschen ums Leben. Die Angehörigen verloren bei dem Absturz Ehegatten oder Lebenspartner, Kinder, Eltern oder Geschwister. Sie durchleben seither großes Leid, das oft weit über den Schmerz wegen einer Verletzung an der eigenen Gesundheit hinausgeht. Im Anschluss an dieses tragische Ereignis stellt sich einmal mehr die Frage, ob den Angehörigen wegen dieses erheblichen Leids ein eigenes Angehörigen- oder Trauerschmerzensgeld zustehen soll. Dieselbe Frage stellte sich bereits z. B. nach den tragischen Vorfällen bei der Love-Parade in Duisburg.

Im deutschen Recht wird diese Frage nach wie vor verneint – anders als in fast allen anderen europäischen Rechtsordnungen. Dort wird bei einem Haftungsfall Trauerschmerzensgeld jedenfalls im Todesfall von Angehörigen gewährt, in einer zunehmenden Zahl von Rechtsordnungen auch bei deren schwerer bleibender Verletzung.

Beim Trauerschmerzensgeld geht es nicht darum, den Wert eines Menschenlebens in Geld zu bemessen. Seine Funktion besteht vielmehr darin, die Situation der Angehörigen zumindest ein wenig erträglicher zu gestalten und den vielleicht schlimmsten Schmerz, den Menschen erleiden können, zumindest ein wenig zu lindern: den Schmerz über den unfallbedingten Verlust oder die schwerste Verletzung eines Kindes, des Partners oder eines Elternteils.

Entgegen zum Teil vertretener Auffassung zeigen die Erfahrungen im Ausland, dass Trauerschmerzensgeld ohne weiteres versicherbar ist und es keine spürbaren Auswirkungen auf die Höhe von Haftpflichtversicherungsprämien haben muss. Ganz im Gegenteil zeigen die Erfahrungen im Ausland, so etwa in der Schweiz, dass die anstandslose Zahlung eines Trauerschmerzensgeldes dazu beitragen kann, das Klima für die Gesamtregulierung zu verbessern. So kann es zwischen Versicherern und Angehörigen ein Klima der Kooperation fördern und die Bereitschaft der Angehörigen erhöhen, bei der Bewältigung von Verletzungen der unmittelbaren Opfer konstruktiv mitzuwirken. Bei Schwerstverletzungen kann Trauerschmerzensgeld auf diese Weise zur Stabilisierung oder sogar Senkung der Pflegekosten beitragen (dazu und auch zu den folgenden Argumenten vgl. eingehender Kadner Graziano, RIW 2015, 549).

Nicht zuletzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den letzten Jahren wiederholt entschieden, dass die Europäische Menschenrechtskonvention jedenfalls in bestimmten Konstellationen ein Trauerschmerzensgeld für nächste Angehörige erfordert.

Es ist daher nachdrücklich zu begrüßen, dass der Koalitionsvertrag von 2013 ausdrücklich die Einführung eines Angehörigenschmerzensgeldes vorsieht.

Die Erfahrungen im Ausland zeigen, dass Trauerschmerzensgeld nicht nur im Todesfall, sondern auch bei Schwerstverletzungen gewährt werden sollte. Zudem belegen die ausländischen Erkenntnisse und auch die Entwicklungen zum Schmerzensgeld in Deutschland generell, dass dieses sowohl auf Grundlage der Verschuldenshaftung als auch bei Gefährdungshaftung gewährt werden sollte. Der Kreis der Anspruchsberechtigten lässt sich ohne weiteres auf besonders enge Angehörige (Eltern, Kindern, Ehe- oder Lebenspartner, u. U. Geschwister) beschränken. Vor dem Hintergrund der ausländischen Praxis könnte beim Todesfall oder schwerster Verletzung eines nahen Angehörigen an Trauerschmerzensgelder in einer Größenordnung von 30000 EUR bis 50000 EUR gedacht werden.

Auch wenn die Flüchtlingsproblematik zurzeit alle anderen Themen zu überschatten scheint, sollte nicht auf einen weiteren tragischen Haftungsfall gewartet, sondern diese Lücke im deutschen Haftungsrecht alsbald geschlossen werden.

Prof. Dr. Thomas Kadner Graziano, LL.M. (Harvard), ist ordentlicher Professor für Europäisches, Internationales und vergleichendes Privatrecht an der Universität Genf.

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