BAG: Zahlung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an Treuhänder im Verbraucherinsolvenzverfahren
BAG, Urteil vom 29.1.2014 - 6 AZR 642/12
Sachverhalt
Der klagende Treuhänder verlangt die Zahlung der pfändbaren Arbeitsvergütung des Schuldners T zur Insolvenzmasse. Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Arbeitgeberin des Schuldners die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens bei der Auszahlung an den Schuldner nicht kannte iSv. § 82 Satz 1 InsO.
Am 6. September 2006 wurde über das Vermögen des Schuldners das Insolvenzverfahren eröffnet und der Kläger zum Treuhänder bestellt. Zwischen dem Schuldner und der Beklagten bestand von August 2007 bis 31. März 2009 ein erstes Arbeitsverhältnis. Der Kläger forderte die beklagte GmbH mit an die Lohnbuchhaltung gerichtetem Schreiben vom 9. Juni 2009 auf, den pfändbaren Teil des Arbeitsentgelts des Schuldners ab sofort ausschließlich an ihn als Treuhänder im Insolvenzverfahren zu leisten. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit, der Schuldner sei bereits seit Ende März 2009 nicht mehr ihr Arbeitnehmer. Ende März 2010 vernichtete die Beklagte die Personalakte des Schuldners. Seit 1. Juli 2010 besteht zwischen dem Schuldner und der Beklagten wieder ein Arbeitsverhältnis. Von Juli 2010 bis Mai 2011 erzielte der Schuldner pfändbares Arbeitseinkommen iHv. insgesamt 4.118,40 Euro netto, das die Beklagte an ihn leistete. Der Kläger forderte die Beklagte unter dem 10. Juni 2011 erneut auf, den pfändbaren Teil des Arbeitsentgelts des Schuldners an ihn zu leisten. Dem kam die Beklagte seit Juni 2011 nach.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, für die Frage der positiven Kenntnis von der Insolvenzeröffnung sei nicht auf den Geschäftsführer der beklagten GmbH als natürliche Person abzustellen. Der juristischen Person sei auch die Kenntnis von Arbeitnehmern zuzurechnen, wenn deren Wissen bei ordnungsgemäßer Organisation des Geschäftsbetriebs aktenkundig festzuhalten und vor Vertragsschluss abzufragen gewesen sei. Bei ordnungsgemäßer Betriebsorganisation seien Personalakten mindestens bis zum Ende der dreijährigen Verjährungsfrist für Vergütungsansprüche aufzubewahren. Die Beklagte sei gehalten gewesen zu prüfen, ob das Insolvenzverfahren beendet sei, zumal das online unkompliziert möglich sei.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.118,40 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, sie habe in der Zeit von Juli 2010 bis Mai 2011 keine positive Kenntnis von der Insolvenzeröffnung iSv. § 82 Satz 1 InsO gehabt. Ihr Geschäftsführer habe von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erst aufgrund des zweiten Schreibens des Treuhänders vom 10. Juni 2011 erfahren. Deshalb müsse sie sich das früher erlangte Wissen einer ihrer Arbeitnehmerinnen nicht zurechnen lassen, zumal dieser Umstand nicht in der Personalakte des Schuldners festgehalten worden sei. Zum Zeitpunkt des Zugangs des ersten Schreibens des Klägers vom 9. Juni 2009 habe zudem keine rechtliche Beziehung zwischen ihr und dem Schuldner bestanden. Sie sei daher nicht berechtigt gewesen, die Information über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu speichern. Bei der Begründung des zweiten Arbeitsverhältnisses sei sie nicht verpflichtet gewesen zu prüfen, ob ein früheres Arbeitsverhältnis bestanden habe und es Informationen aus dieser früheren rechtlichen Bindung gebe.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision will die Beklagte die Klage weiter abgewiesen wissen.
Aus den Gründen
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A. Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben der Klage zu Recht stattgegeben.
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I. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Empfangszuständigkeit für alle Leistungen, die auf zur Insolvenzmasse gehörende Forderungen erbracht werden, auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Nach § 82 Satz 1 InsO wird der Leistende jedoch von seiner Schuld befreit, wenn er die Eröffnung des Verfahrens zur Zeit der Leistung an den Schuldner nicht kannte (vgl. BGH 16. Juli 2009 - IX ZR 118/08 - Rn. 7, BGHZ 182, 85). In diesem Fall wird der Leistende in seinem Vertrauen auf die Empfangszuständigkeit seines Gläubigers - des Insolvenzschuldners - geschützt, wenn ihm die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unbekannt geblieben ist, solange er den Leistungserfolg noch verhindern kann (vgl. BGH 12. Juli 2012 - IX ZR 210/11 - Rn. 6; 16. Juli 2009 - IX ZR 118/08 - Rn. 9, aaO). Der aus Billigkeitsgründen eingeräumte Gutglaubensschutz ist eine besondere Vergünstigung im Sinn einer Ausnahme. Wird die Leistungshandlung - wie hier - nach der öffentlichen Bekanntmachung der Verfahrenseröffnung iSv. § 9 Abs. 1 InsO vorgenommen, trifft den Leistenden die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht kannte (vgl. BGH 16. Juli 2009 - IX ZR 118/08 - Rn. 8, 13, aaO). Nur positive Kenntnis von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schließt den Gutglaubensschutz des § 82 Satz 1 InsO aus. Grob fahrlässige Unkenntnis genügt nicht (vgl. BFH 12. Juli 2011 - VII R 69/10 - Rn. 12, BFHE 234, 114; VG Düsseldorf 24. September 2012 - 23 K 7855/11 - zu 2 der Gründe).
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II. Die Ansprüche des Klägers auf die der Höhe nach unstreitigen pfändbaren Teile des Arbeitsentgelts für Juli 2010 bis Mai 2011 sind nach diesen Grundsätzen vom Insolvenzbeschlag erfasst. Sie beruhen auf § 611 Abs. 1 BGB iVm. § 35 Abs. 1, § 80 Abs. 1, § 304 Abs. 1 InsO. Die Beklagte konnte die pfändbaren Teile der Arbeitsvergütung für die Monate Juli 2010 bis Mai 2011 von insgesamt 4.118,40 Euro nicht mit schuldbefreiender Wirkung (§ 362 Abs. 1 BGB) an den Schuldner leisten. Ihr kommt der Gutglaubensschutz des § 82 Satz 1 InsO nicht zugute, weil sie wusste, dass über das Vermögen des Schuldners die Verbraucherinsolvenz eröffnet war. Die durch das Schreiben des Klägers vom 9. Juni 2009 vermittelte Kenntnis einer Arbeitnehmerin in der Lohnbuchhaltung von der Insolvenzeröffnung ist der juristischen Person der als GmbH organisierten Beklagten zuzurechnen. Die Beklagte reagierte auch auf das Schreiben des Klägers vom 9. Juni 2009. Ihre Kenntnis dauerte fort, obwohl der Schuldner bei Zugang des Schreibens nicht in einem Arbeitsverhältnis mit ihr stand und seine Personalakte Ende März 2010 vernichtet wurde.
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1. Die organisatorische Aufspaltung von Zuständigkeiten der Arbeitnehmer einer juristischen Person und ihrer Organe kann dazu führen, dass der Vertragspartner einer juristischen Person schlechter als der Vertragspartner einer natürlichen Person gestellt ist. Dieser Nachteil wird dadurch ausgeglichen, dass der juristischen Person das Wissen auch der Arbeitnehmer zuzurechnen ist, das bei ordnungsgemäßer Organisation in den Akten festzuhalten, weiterzugeben und abzufragen ist (vgl. BGH 13. Oktober 2000 - V ZR 349/99 - zu II 3 b der Gründe). Jede am Rechtsverkehr teilnehmende Organisation ist verpflichtet, Informationen verkehrsgerecht zu verwalten. Ordnungsgemäß zugegangene Informationen sind innerhalb der Organisation weiterzugeben (vgl. BGH 15. April 2010 - IX ZR 62/09 - Rn. 11). Die einer solchen Organisation ordnungsgemäß zugegangenen rechtserheblichen Informationen müssen von ihren Entscheidungsträgern zur Kenntnis genommen werden können. Die Organisation muss es deswegen so einrichten, dass ihre Repräsentanten, die dazu berufen sind, im Rechtsverkehr bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung wahrzunehmen, die erkennbar erheblichen Informationen tatsächlich an die entscheidenden Personen weiterleiten. Erkenntnisse, die von einzelnen Arbeitnehmern gewonnen werden, aber auch für andere Arbeitnehmer oder Entscheidungsträger und spätere Geschäftsvorgänge erheblich sind, müssen die erforderliche Breitenwirkung erzielen. Dazu kann ein Informationsfluss von unten nach oben notwendig sein. Die Organisation hat entsprechende organisatorische Maßnahmen zu treffen. Jedenfalls dann, wenn derartige organisatorische Maßnahmen fehlen, muss sich die juristische Person das Wissen einzelner Arbeitnehmer unabhängig davon zurechnen lassen, auf welcher Ebene sie angesiedelt sind. Die juristische Person hat darzulegen, welche Organisationsstrukturen sie geschaffen hat, um rechtserhebliche Informationen aufzunehmen und intern weiterzugeben (vgl. BGH 15. Dezember 2005 - IX ZR 227/04 - Rn. 13 f.; s. auch OLG Hamm 25. November 2009 - 31 U 15/04, I-31 U 15/04 - zu B 4.5 der Gründe).
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2. Nach diesen Grundsätzen ist das im Juni 2009 erlangte Wissen der Arbeitnehmerin in der Lohnbuchhaltung um die Insolvenz des Schuldners der Beklagten zuzurechnen. Die Beklagte kannte die Insolvenzeröffnung iSv. § 82 Satz 1 InsO, als sie die Vergütungen für Juli 2010 bis Mai 2011 an den Schuldner leistete.
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a) Die Beklagte hat bereits nicht vorgetragen, welche Organisationsstrukturen bei ihr bestehen, um den ordnungsgemäßen Informationsfluss sicherzustellen. Sie hat lediglich ausgeführt, der Umstand der Insolvenzeröffnung sei nicht in der damals noch vorhandenen Personalakte festgehalten worden. Die Information wurde nach ihrem Vorbringen auch nicht an die im Unternehmen zuständigen Entscheidungsträger weitergeleitet. An diesen Versäumnissen wird deutlich, dass die Information nicht verkehrsgerecht verwaltet wurde. Das Wissen der Arbeitnehmerin in der Lohnbuchhaltung ist der Beklagten deshalb zuzurechnen. Die Beklagte wusste damit um die Insolvenzeröffnung. Das schließt den nur ausnahmsweise gegebenen Gutglaubensschutz des § 82 Satz 1 InsO aus.
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b) Dem steht nicht entgegen, dass der Schuldner bei Zugang des Schreibens vom 9. Juni 2009 seit etwas mehr als zwei Monaten nicht mehr für die Beklagte arbeitete und die Beklagte seine Personalakte Ende März 2010 vernichtete.
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aa) Die Beklagte war trotz des beendeten Arbeitsverhältnisses gehalten, die Information der Insolvenzeröffnung ordnungsgemäß zu verwalten. Zu dem innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist des § 195 BGB gelegenen Zeitpunkt der erlangten Kenntnis im Juni 2009 war nicht auszuschließen, dass der Schuldner noch Ansprüche aus dem ersten Arbeitsverhältnis gegen sie erheben und durchsetzen würde. Für diese zusätzlichen Beträge wären Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen gewesen. Die Beklagte konnte im Juni 2009 auch nicht sicher davon ausgehen, dass es nicht zu Prüfungen der Finanzverwaltung oder der Sozialversicherungsträger kommen würde, die den Zeitraum des ersten Arbeitsverhältnisses zwischen ihr und dem Schuldner umfassten.
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bb) Die Kenntnis der Beklagten endete auch nicht, bevor sie das Entgelt für Juli 2010 bis Mai 2011 an den Schuldner leistete.
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(1) Vergisst der Dritte die Insolvenzeröffnung, ist das unerheblich (vgl. Niedersächsisches FG 29. September 2010 - 2 K 222/08 - zu 3 b aa der Gründe). Die einmal erlangte positive Kenntnis über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens dauert fort, solange der Dritte nicht zuverlässig davon erfährt, dass das Insolvenzverfahren abgeschlossen ist (vgl. LG Dresden 2. November 2007 - 10 O 929/07 - zu I 2 der Gründe). Dafür ist der Dritte wegen des Ausnahmecharakters des § 82 Satz 1 InsO ebenso darlegungsbelastet wie für die organisatorischen Vorkehrungen, die er dafür getroffen hat, dass die Information über die Insolvenzeröffnung verkehrsgerecht an die zuständigen Entscheidungsträger im Unternehmen weitergegeben wird. Der Dritte muss damit rechnen, dass ein Insolvenzverfahren geraume Zeit dauert. Der Abschluss des Verfahrens ist ohne Weiteres durch eine Internetrecherche festzustellen (vgl. BGH 15. April 2010 - IX ZR 62/09 - Rn. 14). Zu entsprechenden Bemühungen ist der Dritte schon im eigenen Interesse gehalten, weil er nach erlangter Kenntnis iSv. § 82 Satz 1 InsO nur nach Abschluss des Insolvenzverfahrens schuldbefreiend an den früheren Schuldner leisten kann (vgl. LG Dresden 2. November 2007 - 10 O 929/07 - aaO).
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(2) Die Beklagte hat sich hier - aus ihrer Sicht konsequent - nicht darauf berufen, dass sie den Abschluss des Insolvenzverfahrens festgestellt habe. Sie nimmt vielmehr in einem logisch früheren Schritt an, die im Juni 2009 erlangte Kenntnis der Arbeitnehmerin in der Lohnbuchhaltung sei ihr nicht zuzurechnen. Das ist, wie schon dargelegt, unzutreffend.
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III. Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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B. Die Beklagte hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.