BAG: Widerrufsvorbehalt in AGB
BAG, Urteil vom 20.4.2011 - 5 AZR 191/10
Leitsätze
1. Ein Widerrufsvorbehalt in einer Allgemeinen Geschäftsbedingung muss seit Inkrafttreten der §§ 305 ff. BGB den formellen Anforderungen von § 308 Nr. 4 BGB genügen. Der Verwender muss vorgeben, was ihn zum Widerruf berechtigen soll.
2. Fehlt die Angabe von Widerrufsgründen in einem vor dem 1. Januar 2002 abgeschlossenen Arbeitsvertrag, kommt eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht.
sachverhalt
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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit des Widerrufs einer Zulage.
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Der Kläger ist langjährig beim Beklagten als Tierarzt beschäftigt. Der Beklagte zahlt eine Vergütung, die der Beamtenbesoldungsgruppe A14 entspricht.
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In § 3 des vom Beklagten formulierten Arbeitsvertrags haben die Parteien folgende Nebenabreden vereinbart:
„...
2)
Zum Ausgleich der Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen wird eine nicht gesamtversorgungsfähige Zulage in entsprechender Höhe gewährt.
3)
Die Nebenabreden unter 1) und 2) sind widerruflich."
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Der Beklagte passte die Zulage zunächst an die Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge an. Diese Anpassung widerrief er zum 30. Juni 1992 und behielt sich dabei ausdrücklich vor, auch den „eingefrorenen" Bestand ganz oder teilweise zu widerrufen, wenn dies aus wirtschaftlichen Gründen geboten sei. Das Bundesarbeitsgericht bestätigte mit Urteil vom 10. Juli 1996 (- 5 AZR 977/94 -) die Wirksamkeit dieses Widerrufs. Mit Schreiben vom 10. September 2007 widerrief der Beklagte die Zulage aus wirtschaftlichen Gründen insgesamt.
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Der Kläger hat geltend gemacht, der Widerruf sei unwirksam, und beantragt,
1.
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 2.503,26 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Klageerhebung zu zahlen;
2.
festzustellen, dass der Widerruf des Ausgleichsbetrags für die Sozialversicherungsbeiträge mit Schreiben vom 10. September 2007 rechtsunwirksam ist.
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Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er befinde sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Der Widerruf führe zu einer relativ geringen Minderung des Gesamteinkommens des Klägers und entspreche billigem Ermessen. Den Gleichbehandlungsgrundsatz habe er beachtet.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Zurückweisung der Berufung.
aus den gründen
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Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung (§ 563 Abs. 1 ZPO). Die Rechtswirksamkeit des Widerrufs kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Es bedarf hierfür weiterer tatsächlicher Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht.
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I. Die arbeitsvertragliche Regelung des Widerrufs in § 3 Abs. 3 ist gemäß § 308 Nr. 4 BGB unwirksam. Das haben die Vorinstanzen zutreffend erkannt.
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1. Der im Arbeitsvertrag der Parteien geregelte Widerrufsvorbehalt ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung iSd. §§ 305 ff. BGB. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass der Arbeitsvertragstext beim Beklagten standardmäßig Verwendung fand. Der Widerrufsvorbehalt, der das Recht des Beklagten begründete, die versprochene Leistung einseitig zu ändern, stellt eine von Rechtsvorschriften abweichende Regelung iSv. § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB dar, weil ein Vertrag grundsätzlich bindend ist. Nach § 308 Nr. 4 BGB ist die Vereinbarung des Widerrufsrechts zumutbar, wenn der Widerruf nicht grundlos erfolgen soll, sondern wegen der unsicheren Entwicklung der Verhältnisse als Instrument der Anpassung notwendig ist. Das gilt auch im Arbeitsverhältnis. Ein Widerrufsvorbehalt muss seit Inkrafttreten der §§ 305 ff. BGB den formellen Anforderungen von § 308 Nr. 4 BGB gerecht werden. Bei den Widerrufsgründen muss zumindest die Richtung angegeben werden, aus der der Widerruf möglich sein soll, zB wirtschaftliche Gründe, Leistung oder Verhalten des Arbeitnehmers (BAG 12. Januar 2005 - 5 AZR 364/04 - BAGE 113, 140; 11. Oktober 2006 - 5 AZR 721/05 - Rn. 33 f., AP BGB § 308 Nr. 6 = EzA BGB 2002 § 308 Nr. 6; 13. April 2010 - 9 AZR 113/09 - EzA BGB 2002 § 308 Nr. 11). Dabei ist zu beachten, dass der Verwender vorgibt, was ihn zum Widerruf berechtigen soll.
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2. Diesen Anforderungen entspricht § 3 Abs. 3 des Arbeitsvertrags nicht, denn darin wird kein Widerrufsgrund angegeben. Der Widerrufsvorbehalt ist seit dem 1. Januar 2003 (vgl. Art. 229 § 5 EGBGB) gemäß § 308 Nr. 4, § 306 BGB unwirksam.
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II. Eine aus formellen Gründen unwirksame und vor dem 1. Januar 2002 vereinbarte Klausel entfällt nicht ersatzlos.
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1. Da der Verwender bei Abschluss des Arbeitsvertrags die §§ 305 ff. BGB nicht berücksichtigen konnte und die Klausel nur unwirksam ist, weil sie in formeller Hinsicht den neuen Anforderungen nicht genügt, bedarf es zur Schließung der entstandenen Lücke der ergänzenden Vertragsauslegung (grundsätzlich zur Lückenschließung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch ergänzende Vertragsauslegung: BAG 12. Januar 2005 - 5 AZR 364/04 - BAGE 113, 140; 11. Oktober 2006 - 5 AZR 721/05 - Rn. 33 f., AP BGB § 308 Nr. 6 = EzA BGB 2002 § 308 Nr. 6; BGH 13. November 1997 - IX ZR 289/96 - BGHZ 137, 153; 10. Juni 2008 - XI ZR 211/07 - NJW 2008, 3422; 13. April 2010 - XI ZR 197/09 - BGHZ 185, 166). Andernfalls liefe die Anwendung der Anforderungen an die Vertragsformulierung auf einen vor dem 1. Januar 2002 abgeschlossenen Sachverhalt auf eine echte Rückwirkung des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes hinaus. Es ist deshalb zu fragen, was die Parteien vereinbart hätten, wenn ihnen die gesetzlich angeordnete Unwirksamkeit der Widerrufsklausel bekannt gewesen wäre (BAG 12. Januar 2005 - 5 AZR 364/04 - aaO; 11. Oktober 2006 - 5 AZR 721/05 - Rn. 33 f., aaO; ErfK/Preis 11. Aufl. §§ 305 - 310 BGB Rn. 20).
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2. Einer ergänzenden Vertragsauslegung steht nicht entgegen, dass der Arbeitgeber während der gemäß Art. 229 § 5 EGBGB für vor dem 1. Januar 2002 begründete Dauerschuldverhältnisse eingeräumten Übergangsfrist von einem Jahr keine Vertragsanpassung vorgenommen und dem Arbeitnehmer kein Vertragsänderungsangebot unterbreitet hat. Eine Verhandlungsobliegenheit, deren Nichtbeachtung Rechtsfolgen nach sich ziehen soll, lässt sich Art. 229 § 5 EGBGB ebenso wenig entnehmen wie eine Verpflichtung des Arbeitnehmers, ein entsprechendes Vertragsangebot des Arbeitgebers gerade im Jahre 2002 redlicherweise annehmen zu müssen (HWK/Gotthardt 4. Aufl. § 310 BGB Rn. 14; Gaul/Ludwig BB 2010, 55, 57 f.; Gaul/Mückl NZA 2009, 1233 ff.; Stoffels ZfA 2009, 861, 893 f.; Schlewing JbArbR Band 47, 47, 66; Singer RdA 2006, 362). Eine Möglichkeit der einseitigen Durchsetzung gesetzeskonformer Verträge nach Inkrafttreten der §§ 305 ff. BGB gab es nicht. Änderungskündigungen hätten dem Gebot der Verhältnismäßigkeit (vgl. BAG 29. November 2007 - 2 AZR 789/06 - Rn. 12; 15. Januar 2009 - 2 AZR 641/07 - Rn. 15, AP KSchG 1969 § 2 Nr. 141; 8. Oktober 2009 - 2 AZR 235/08 - Rn. 18, AP KSchG 1969 § 2 Nr. 143 = EzA KSchG § 2 Nr. 75) nicht standhalten können. Ohne konkreten Anlass unterbreitete Angebote des Arbeitgebers zum Zwecke der Anpassung der Altverträge an die neue Rechtslage hätten zur Verunsicherung ganzer Belegschaften geführt und diese um den ungefährdeten Bestand ihrer Arbeitsverhältnisse fürchten lassen. Zudem wäre die Formulierung gesetzeskonformer Verträge im Jahre 2002 auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen, weil die Entwicklung der Rechtsprechung noch nicht abzusehen war. Dem steht die Gesetzesbegründung zu Art. 229 § 5 EGBGB (BT-Drucks. 14/6040 S. 273) nicht entgegen, denn diese erläutert nur die Möglichkeit einer Anpassung der Verträge während der Übergangsfrist, schließt eine ergänzende Vertragsauslegung nach deren Ablauf jedoch nicht aus. Dementsprechend nimmt der Bundesgerichtshof bei vor dem 1. Januar 2002 vereinbarten und nach dem 1. Januar 2003 gemäß § 308 Nr. 4 BGB unwirksamen Widerrufsklauseln eine ergänzende Vertragsauslegung vor, ohne die Übergangsfrist auch nur zu erwähnen (vgl. zB 10. Juni 2008 - XI ZR 211/07 - Rn. 18, NJW 2008, 3422; 13. April 2010 - XI ZR 197/09 - Rn. 18, BGHZ 185, 166). Im Übrigen wäre es widersprüchlich, eine ergänzende Vertragsauslegung bei Neuverträgen zuzulassen (vgl. zB BAG 14. Januar 2009 - 3 AZR 900/07 - Rn. 30, BAGE 129, 121), sie aber bei Altverträgen als ausgeschlossen anzusehen (Rüdiger Linck FS Bauer S. 657, 658).
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3. Einer Vorlage an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts gemäß § 45 ArbGG bedarf es nicht.
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a) Eine Vorlagepflicht nach § 45 ArbGG besteht nur, wenn eine entscheidungserhebliche Abweichung zu der identischen Rechtsfrage vorliegt. Diese Voraussetzung betrifft die zu treffende Entscheidung wie die vorhergehende Entscheidung, von der abgewichen werden soll (BAG 22. Juli 2010 - 6 AZR 847/07 - Rn. 37 ff. mwN, EzA BGB 2002 § 611 Kirchliche Arbeitnehmer Nr. 15; 23. Oktober 1996 - 1 AZR 299/96 - zu II 3 a der Gründe, EzA BetrVG 1972 § 87 Betriebliche Lohngestaltung Nr. 59; BGH Vereinigte Große Senate 5. Mai 1994 - VGS 1-4/93 - BGHZ 126, 63, 71).
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b) Der Neunte und Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts sind nicht entscheidungserheblich von der vom Fünften Senat in ständiger Rechtsprechung vertretenen Rechtsauffassung abgewichen. Der Zehnte Senat hat ausdrücklich offengelassen, ob ein im Jahr 2002 unterlassener Anpassungsversuch einer ergänzenden Vertragsauslegung in Altfällen entgegensteht (24. Oktober 2007 - 10 AZR 825/06 - Rn. 33, BAGE 124, 259; 10. Dezember 2008 - 10 AZR 1/08 - Rn. 19, AP BGB § 307 Nr. 40 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 40; 11. Februar 2009 - 10 AZR 222/08 - Rn. 36, EzA BGB 2002 § 308 Nr. 9). Soweit der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts diese Auffassung in den Urteilen vom 19. Dezember 2006 (- 9 AZR 294/06 - AP BGB § 611 Sachbezüge Nr. 21 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 17) und 11. April 2006 (- 9 AZR 610/05 - BAGE 118, 36) vertreten hat, konnte er mangels Entscheidungserheblichkeit selbst von einer Anfrage beim Fünften Senat bzw. einer Vorlage an den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts absehen. Sein jeweils ausführlich begründeter Hinweis auf die einjährige Übergangsfrist mit der Anpassungsobliegenheit stellte lediglich ein weiteres Begründungselement innerhalb der bei der ergänzenden Vertragsauslegung anzustellenden Gesamtinteressenabwägung dar.
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4. Ausgehend von den zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts liegt es im Streitfall zumindest nahe, dass die Parteien bei Kenntnis der neuen gesetzlichen Anforderungen die Widerrufsmöglichkeit für den Fall wirtschaftlicher Verluste des Beklagten vorgesehen hätten. Eine solche Bestimmung wäre für den Kläger zumutbar gewesen und hätte ihn nicht benachteiligt. Bei Kenntnis der neuen gesetzlichen Anforderungen hätten redliche Parteien die Widerrufsmöglichkeit für den Fall wirtschaftlicher Verluste vereinbart, zumal der Beklagte schon anlässlich des Widerrufs der Dynamisierung der Zulage im Jahr 1992 auf die Möglichkeit eines weiteren Widerrufs aus wirtschaftlichen Gründen hingewiesen hatte. Danach ist der Vortrag des Beklagten erheblich. Doch hat das Berufungsgericht von der Feststellung der notwendigen Tatsachen abgesehen. Dies ist nachzuholen.
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5. Die Rechtskraft des Urteils vom 10. Juli 1996 (- 5 AZR 977/94 -) steht einer ergänzenden Vertragsauslegung und damit einem Widerruf der „eingefrorenen" Zulage nicht entgegen.
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III. Neben der Inhaltskontrolle steht weiterhin die Ausübungskontrolle im Einzelfall gemäß § 315 BGB. Die Erklärung des Widerrufs stellt eine Bestimmung der Leistung durch den Arbeitgeber nach § 315 Abs. 1 BGB dar. Der Widerruf muss im Einzelfall billigem Ermessen entsprechen. Daran hat die generelle Regelung der §§ 305 ff. BGB nichts geändert.
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IV. Der Senat hat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO iVm. § 72 Abs. 5 ArbGG Gebrauch gemacht.