BAG: Vorlage an den EuGH zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei Massenentlassungen
BAG, Beschluss vom 16.11.2017 – 2 AZR 90/17 (A)
ECLI:DE:BAG:2017:161117.B.2AZR90.17A.0
Volltext: BB-ONLINE BBL2018-307-1
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Amtliche Leitsätze/Vorlagefragen
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
1. Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (RL 98/59/EG) dahin auszulegen, dass zur Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb tätigen Arbeitnehmer auf die Anzahl der im Zeitpunkt der Entlassung bei gewöhnlichem Geschäftsgang beschäftigten Arbeitnehmer abzustellen ist?
2. Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer dort eingesetzte Leiharbeitnehmer mitzählen können?
Sofern die zweite Frage bejaht wird:
3. Welche Voraussetzungen gelten für die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer?
Sachverhalt
A. Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
Die Beklagte betreibt Bildungseinrichtungen. Anfang November 2014 vereinbarte sie mit dem bei ihr gebildeten Betriebsrat einen Interessenausgleich über ihre Absicht, insgesamt vier Einrichtungen zu schließen. Am 24. November 2014 kündigte sie das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 31. Juli 2015. In der Zeit vom 24. November 2014 bis einschließlich 23. Dezember 2014 erklärte die Beklagte mindestens elf weitere Kündigungen. Eine Massenentlassungsanzeige erstattete sie nicht.
Mit der vorliegenden Kündigungsschutzklage hat die Klägerin ua. geltend gemacht, es habe sich um eine nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG anzeigepflichtige Massenentlassung gehandelt. Die Beklagte habe in der Regel nicht mehr als 120 Arbeitnehmer beschäftigt. Maßgeblicher Referenzzeitraum sei das Schuljahr 2014/2015. Die bei der Beklagten eingesetzten Leiharbeitnehmer müssten außer Betracht bleiben. Deshalb hätten bereits zwölf Kündigungen dazu geführt, dass die Beklagte zehn vom Hundert der in ihrem Betrieb in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer entlassen habe.
Demgegenüber hat die Beklagte gemeint, sie habe durchschnittlich über 130 Arbeitnehmer beschäftigt. Zum einen sei ein Referenzzeitraum von zwölf Monaten vor Zugang der streitbefangenen Kündigung zugrunde zu legen. Zum anderen seien vier bei ihr dauerhaft eingesetzte Leiharbeitnehmer aus einem anderen Konzernunternehmen bei der Berechnung der „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Daher habe sie keine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Nach seiner Auffassung hat die Beklagte angesichts von zwölf Kündigungen innerhalb des 30-Tage-Zeitraums eine Massenentlassungsanzeige erstatten müssen. Sie habe im Entlassungszeitpunkt regelmäßig nicht mehr als 120 Arbeitnehmer beschäftigt. In ihrem Betrieb eingesetzte Leiharbeitnehmer seien nicht zu berücksichtigen. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
B. Das einschlägige nationale Recht
I. Kündigungsschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. August 1969 (BGBl. I S. 1317):
„§ 17
Anzeigepflicht
(1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er
1. in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern mehr als 5 Arbeitnehmer,
2. in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,
3. in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Arbeitnehmern mindestens 30 Arbeitnehmer
innerhalb von 30 Kalendertagen entläßt.
…“
II. Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738):
„§ 134
Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“
C. Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (RL 98/59/EG, ABl. EG L 225 vom 12. August 1998 S. 16):
„Artikel 1
(1) Für die Durchführung dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
a) ‚Massenentlassungen‘ sind Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt und bei denen - nach Wahl der Mitgliedstaaten - die Zahl der Entlassungen
i) entweder innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen
- mindestens 10 in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern,
- mindestens 10 v. H. der Arbeitnehmer in Betrieben mit in der Regel mindestens 100 und weniger als 300 Arbeitnehmern,
- mindestens 30 in Betrieben mit in der Regel mindestens 300 Arbeitnehmern,
ii) oder innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind,
beträgt;
...
Artikel 3
(1) Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.
...“
Aus den Gründen
12 D. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörterung der Vorlagefragen
13 I. Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
14 1. Die Kündigung vom 21. November 2014 wäre mangels Erstattung einer Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG iVm. § 134 BGB nichtig, wenn die Beklagte innerhalb von 30 Kalendertagen mindestens zehn vom Hundert der in ihrem Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer entlassen haben sollte.
15 2. Da § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG unionsrechtskonform auszulegen ist, kommt es für die Entscheidung über die Revision der Beklagten auf den Inhalt von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG an. Hierüber kann der Senat nicht ohne Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) nach Art. 267 AEUV befinden. Die Revision wäre zurückzuweisen, wenn die Anwendung von § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KSchG in unionsrechtskonformer Auslegung auf den vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt ergeben sollte, dass die Beklagte schon dadurch zehn vom Hundert der regelmäßig in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer entlassen hat, dass sie zwölf Kündigungen innerhalb von 30 Tagen erklärt hat. Anderenfalls wäre die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Dieses müsste im fortgesetzten Berufungsverfahren ggf. aufklären, ob die Beklagte im 30-Tage-Zeitraum sogar dreizehn Entlassungen vorgenommen hat oder die Kündigung vom 21. November 2014 aus weiteren, von der Klägerin geltend gemachten Gründen unwirksam ist.
16 II. Erläuterung der ersten Vorlagefrage
17 1. Zweifel bestehen bereits bei der Frage, wie - allgemein - die Zahl der „in der Regel“ in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG zu bestimmen ist. Die Generalanwältin hat in ihren Schlussanträgen vom 3. September 2015 in der Sache Pujante Rivera (- C-422/14 - Rn. 36) gemeint, es könne weder auf eine Stichtags- noch auf eine Durchschnittsbetrachtung ankommen, sondern es sei die Anzahl der bei gewöhnlichem Geschäftsgang beschäftigten Arbeitnehmer maßgeblich. Der Gerichtshof hat sich diese Sichtweise in seiner Entscheidung indes nicht deutlich zu eigen gemacht. Die Auffassung der Generalanwältin ist aus Sicht des Senats überzeugend. Sie hätte zur Folge, dass nicht die zufällige Arbeitnehmerzahl im Zeitpunkt der Entlassung, sondern die Personalstärke maßgeblich wäre, die im Allgemeinen für den Betrieb kennzeichnend ist. Hierzu bedürfte es eines Rückblicks auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und einer Einschätzung seiner künftigen Entwicklung. Zeiten außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsgangs wären nicht zu berücksichtigen.
18 2. Ein befristet beschäftigter Arbeitnehmer wäre zB mitzurechnen, wenn er einen gewöhnlich vorhandenen Beschäftigungsbedarf abdeckt, nicht aber dann, wenn sein Einsatz nur ausnahmsweise erfolgt, etwa um Auftragsspitzen oder dergleichen aufzufangen. So könnte es auch liegen, wenn Arbeitnehmer jedes Jahr befristet eingestellt werden, um ein saisonal erhöhtes Arbeitsvolumen zu bewältigen. In solchen Fällen schwankender Personalstärke könnte auf den während des überwiegenden Teils des Jahres vorhandenen Personalbestand abzustellen sein. Hingegen käme es auf die Dauer der Beschäftigung des einzelnen Arbeitnehmers nicht an (so schon EuGH 11. November 2015 - C-422/14 - [Pujante Rivera] Rn. 32). Auch durch den ständigen Austausch befristet beschäftigter Arbeitnehmer kann ein regelmäßiger Beschäftigungsbedarf befriedigt werden.
19 3. Die Zahl der in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer erhöhte sich nicht, wenn während der Abwesenheit eines Arbeitnehmers (zB bei Mutterschutz, Elternzeit, Krankheit) ein Vertreter eingestellt würde. Der Betrieb würde in diesem Fall - vorbehaltlich sonstiger Änderungen - während des Vertretungsfalls mit derselben Personalstärke betrieben wie zuvor. Für ihn kennzeichnend wäre nur die Beschäftigung entweder des vertretenen Arbeitnehmers oder seines Vertreters. Eine Doppelzählung der beiden Arbeitnehmer erfolgte nicht.
20 4. Schließlich geht der Senat davon aus, dass es den nationalen Gerichten obliegt, im Einzelfall zu bewerten, ob der Einsatz bestimmter Arbeitnehmer die regelmäßige Belegschaftsstärke im Zeitpunkt der Entlassung iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG kennzeichnete.
21 III. Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
22 1. Mit der zweiten Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG dahin auszulegen ist, dass bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens tätigen Arbeitnehmer dort eingesetzte Leiharbeitnehmer mitzählen können.
23 2. Der Senat geht davon aus, dass Leiharbeitnehmer von dem entleihenden Unternehmen nicht iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG „entlassen“ werden können. Entlassung iSd. Vorschrift ist jede vom Arbeitnehmer nicht gewollte, also ohne seine Zustimmung erfolgte, Beendigung des Arbeitsvertrags (EuGH 11. November 2015 - C-422/14 - [Pujante Rivera] Rn. 48). Leiharbeitnehmer sind mit dem entleihenden Unternehmen nicht durch einen Arbeitsvertrag verbunden, sondern werden aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem verleihenden und dem entleihenden Unternehmen diesem überlassen und dort tätig. Eine Vertragsbeziehung besteht zwischen Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen nicht (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit, RL 2008/104/EG, ABl. EU L 327 vom 5. Dezember 2008 S. 9). In diesem Sinn versteht der Senat auch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH 21. Oktober 2010 - C-242/09 - [Albron Catering] Rn. 20, Slg. 2010, I-10309: „nichtvertraglicher Arbeitgeber“). Die Beendigung des Vertragsverhältnisses zwischen Leiharbeitsunternehmen und entleihendem Unternehmen stellt keine Entlassung der betreffenden Leiharbeitnehmer iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG dar. Die Arbeitsverträge von Leiharbeitnehmern mit dem Leiharbeitsunternehmen werden hiervon nicht unmittelbar betroffen. Auch kann das entleihende Unternehmen nicht wissen, welche Folgen die Beendigung seiner Vertragsbeziehung zum Leiharbeitsunternehmen ggf. für die Arbeitsverträge zwischen diesem und den betroffenen Leiharbeitnehmern haben wird. Es könnte deshalb die Informations-, Konsultations- und Meldepflichten nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 3 sowie Art. 3 Abs. 1 und Abs. 2 RL 98/59/EG überhaupt nicht erfüllen. Diese treffen vielmehr - allein - das entleihende Unternehmen (vgl. EuGH 10. September 2009 - C-44/08 - [Akavan Erityisalojen Keskusliitto ua.] Rn. 57, Slg. 2009, I-8163). Danach dürften Leiharbeitnehmer Massenentlassungsschutz ausschließlich im Vertragsverhältnis zum Leiharbeitsunternehmen genießen können.
24 3. Allerdings erscheint es nicht ausgeschlossen, Arbeitnehmer, die ihrerseits bei einem Arbeitgeber keinen Schutz nach der RL 98/59/EG beanspruchen können, bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in dessen Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG mitzuzählen (sog. gespaltene Berücksichtigung).
25 a) Der Gerichtshof hat - soweit ersichtlich - an keiner Stelle ausdrücklich gesagt oder seinen Ausführungen implizit zugrunde gelegt, es könne sich bei in der Regel in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG ausschließlich um solche Arbeitnehmer handeln, die mit dem Betriebsinhaber einen Arbeitsvertrag geschlossen haben.
26 b) Die Antwort auf diese Frage ist auch nicht offenkundig.
27 aa) Der Wortlaut der RL 98/59/EG lässt gleichermaßen ein Verständnis zu, wonach es sich um „eigene“ Arbeitnehmer des Betriebsinhabers handeln muss, als auch ein solches, demzufolge alle Arbeitnehmer zählen, die in dem betreffenden Betrieb in Weisungsabhängigkeit vom Betriebsinhaber beschäftigt werden, unabhängig davon, ob sie mit diesem einen Arbeitsvertrag geschlossen haben.
28 bb) Der Unionsgesetzgeber wäre nicht aus systematischen Gründen gehindert, auch solche Arbeitnehmer bei der Bestimmung der Zahl der in der Regel in einem Betrieb Beschäftigten iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG zu berücksichtigen, die von dem Betriebsinhaber nicht „entlassen“ werden können. Die Betriebsgröße, dh. die Anzahl der in einem Betrieb eingesetzten Arbeitnehmer muss sich nicht zwingend danach richten, wie viele Arbeitnehmer zum Betriebsinhaber selbst in einem Vertragsverhältnis stehen und ihm gegenüber ggf. Massenentlassungsschutz beanspruchen können.
29 cc) Aus der Entstehungsgeschichte lässt sich ein bestimmter Regelungswille nicht ableiten. Soweit ersichtlich ist im Gesetzgebungsverfahren weder zu der aktuellen Bestimmung in Art. 1 RL 98/59/EG noch zu der Vorläuferregelung in Art. 1 Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. EG L 48 vom 22. Februar 1975 S. 29) erörtert worden, ob Leiharbeitnehmer bei der Bestimmung der Größe des Betriebs eines entleihenden Unternehmens zu berücksichtigen sein können. Umgekehrt lässt sich aus dem Umstand, dass dazu keine ausdrückliche Regelung getroffen ist, nicht schließen, ihre Berücksichtigung solle ausgeschlossen sein. Gesichert ist allein, dass nach dem Vorschlag der Kommission eine Massenentlassung lediglich eine Mindestzahl von zehn Entlassungen voraussetzen sollte. Erst auf Anraten des Wirtschafts- und Sozialausschusses der Europäischen Gemeinschaften wurde eine Regelung geschaffen, die die Anzahl der Entlassungen ins Verhältnis zur Zahl der in der Regel in dem betreffenden Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer setzt.
30 dd) Nach alledem könnte sich die zutreffende Lesart von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG ergeben aus dem Zweck der Verwendung einer „Quotenlösung“ unter Berücksichtigung einerseits der Zahl der in Regel in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer und andererseits der Zahl der in einem bestimmten Zeitraum von dem Betriebsinhaber vorgenommenen Entlassungen. Insofern steht nach der Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache Pujante Rivera (- C-422/14 - Rn. 40) fest, dass auch die „Gesamtbeschäftigtenzahl“ des fraglichen Betriebs eine Rolle spielen soll, um den Arbeitgebern nicht eine „im Verhältnis zur Größe ihres Betriebs übermäßige Belastung aufzuerlegen“. Sollte es dabei um die finanzielle Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit des entleihenden Unternehmens gehen, machte es keinen Unterschied, ob dort vorhandene Arbeitsplätze mit eigenen Arbeitnehmern oder mit Leiharbeitnehmern besetzt sind. Durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern entstehen vergleichbare Personalkosten. Der Entleiher hat zwar den Leiharbeitnehmern kein Arbeitsentgelt, er hat jedoch dem Leiharbeitsunternehmen das vereinbarte Entgelt für deren Überlassung zu entrichten.
31 ee) Eine „gespaltene“ Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Anwendung von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG hätte bei abstrakter Betrachtung ambivalente Auswirkungen auf die Stammbelegschaft. Sie wirkte sich teils zu deren Gunsten, teils zu ihren Lasten aus.
32 (1) Nach Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a (i) RL 98/59/EG liegt eine Massenentlassung nur dann vor, wenn eine bestimmte Entlassungsquote erfüllt ist. Dabei regelt die Vorschrift in Form eines „Stufenmodells“, dass diese Quote umso geringer sein muss, je mehr Arbeitnehmer in der Regel in dem betreffenden Betrieb tätig sind: In Betrieben mit bis einschließlich 20 Arbeitnehmern führt selbst eine Entlassungsquote von 100 vH nicht zur Anzeigepflicht. In Betrieben mit zwischen 21 und 99 Arbeitnehmern löst eine Entlassungsquote zwischen fast 50 vH (10 von 21 Arbeitnehmern) und mehr als 10 vH (10 von 99 Arbeitnehmern) die Anzeigepflicht aus (1. Stufe). In Betrieben zwischen 100 und 299 Arbeitnehmern muss die - insoweit festgeschriebene - Entlassungsquote stets bei 10 vH liegen (2. Stufe). In Betrieben mit 300 und mehr Arbeitnehmern ist zunächst ebenfalls eine Entlassungsquote von 10 vH (30 von 300 Arbeitnehmern) erforderlich, mit zunehmender Personalstärke sinkt die erforderliche Entlassungsquote angesichts des Abstellens auf eine absolute Mindestentlassungszahl indes kontinuierlich ab (3. Stufe).
33 (2) Die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Zahl der in der Regel in einem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG führte dazu, dass die „Eingangsschwelle“ von mehr als 20 Arbeitnehmern früher bzw. öfter überschritten würde. Insoweit würde der Massenentlassungsschutz für Stammbelegschaften ausgedehnt.
34 (3) Ein für die Stammarbeitnehmer des Betriebsinhabers nachteiliger Effekt könnte auf der zweiten Stufe von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a (i) RL 98/59/EG auftreten. Dort bemisst sich nämlich die Mindestanzahl entlassener Arbeitnehmer „starr“ prozentual nach der Anzahl der in der Regel Beschäftigten.
35 (4) Demgegenüber ist dies auf der ersten und dritten Stufe der Vorschrift nicht der Fall. Dort führte die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern dazu, dass die erforderliche Entlassungsquote kontinuierlich absänke (in diesem Sinne auch EuGH Schlussanträge der Generalanwältin 3. September 2015 - C-422/14 - [Pujante Rivera] Rn. 34 allerdings für befristet beschäftigte Arbeitnehmer, die beide Schwellenwerte zugunsten „eigener“ Arbeitnehmer des Betriebsinhabers beeinflussen können, weil sie von diesem ggf. auch entlassen werden können).
36 4. Schließlich stellt sich für den Senat die Frage, ob Leiharbeitnehmer zumindest dann wie „eigene“ Arbeitnehmer des Betriebsinhabers bei der Zahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens iSv. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a RL 98/59/EG berücksichtigt werden müssen, wenn sie dort entgegen Art. 1 Abs. 1 RL 2008/104/EG nicht bloß vorübergehend, sondern dauerhaft eingesetzt werden.
37 IV. Erläuterung der dritten Vorlagefrage
38 1. Falls die zweite Vorlagefrage nicht nur für die in Rn. 36 beschriebene Konstellation bejaht werden sollte, käme es darauf an, welche Voraussetzungen für die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Bestimmung der Anzahl der in der Regel in einem Betrieb eines entleihenden Unternehmens beschäftigten Arbeitnehmer gelten. Nach Auffassung des Senats sollte sich das „Mitzählen“ von Leiharbeitnehmern - gemäß den Ausführungen zur ersten Vorlagefrage - (allein) danach richten, ob mit ihrer Hilfe ein regelmäßig vorhandener Beschäftigungsbedarf abgedeckt wird, ihr Einsatz also die regelmäßige Belegschaftsstärke kennzeichnet.
39 2. Das bedeutete: Werden Leiharbeitnehmer zur Vertretung von Stammpersonal beschäftigt, rechnen sie grundsätzlich nicht mit (kein Doppelzählen). Sie bleiben - ebenso wie vorübergehend beschäftigte eigene Arbeitnehmer - auch dann außer Betracht, wenn sie lediglich zur Bewältigung von Auftragsspitzen eingesetzt werden, die den allgemeinen Geschäftsbetrieb nicht kennzeichnen. Hingegen sind sie mitzuzählen, sofern ihre Beschäftigung dem „Regelzustand“ des Betriebs entspricht, soweit also bestimmte Arbeitsplätze im fraglichen Referenzzeitraum stets mit Arbeitnehmern besetzt waren bzw. sein werden, sei es mit eigenen Arbeitnehmern des Betriebsinhabers, sei es, etwa nach deren Ausscheiden oder „immer schon“ mit (wechselnden) Leiharbeitnehmern. Danach käme es nicht darauf an, für welche Zeitdauer der jeweils einzelne Leiharbeitnehmer im Betrieb eingesetzt ist. Selbst wenn nur ein jeweils vorübergehender Einsatz der einzelnen Leiharbeitnehmer als Personen erfolgte, könnte durch ihren ständigen Austausch doch ein regelmäßiger Beschäftigungsbedarf abgedeckt werden.