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Arbeitsrecht
15.04.2021
Arbeitsrecht
LAG Nürnberg: Verdeckte Videoüberwachung, Verdachts- und/oder Tatkündigung sowie ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung

LAG Nürnberg, Urteil vom 8.12.2020 – 7 Sa 226/20

Volltext des Urteils://BB-ONLINE BBL2021-954-1

unter www.betriebs-berater.de

Leitsätze

1. Ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer aus dem Warenbestand des Arbeitgebers Waren zum Eigenverbrauch entnimmt oder dem dringenden Verdacht unterliegt, dies zu tun.

2. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers durch eine verdeckte Videoüberwachung muss nach § 26 BDSG dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Der Arbeitgeber muss deshalb vor der Installation der verdeckten Videokamera die dafür geeigneten und ihm zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft haben, den möglichen Täterkreis mit entsprechenden Verdachtstatsachen einzugrenzen.

3. Hat der Arbeitgeber den Betriebsrat nur zu einer Tatkündigung angehört, so kann er die Kündigung im gerichtlichen Verfahren nur auf den bloßen Verdacht der entsprechenden Handlung stützen, wenn er den Betriebsrat auch zu den entsprechenden Verdachtsmomenten angehört hat. Nur bei nachträglichem Bekanntwerden neuer Verdachtstatsachen kann der Arbeitgeber den Betriebsrat dazu nachträglich anhören und den Verdacht der entsprechenden Handlung als Kündigungsgrund im gerichtlichen Verfahren nachschieben (Anschluss an BAG, Urteil vom 16.07.2015 - 2 AZR 85/15 [BB 2016, 505 m. BB-Komm. Helwig]).

BGB § 626 Abs. 1; BetrVG § 102

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 04.01.2020 und einer weiteren ordentlichen Kündigung vom 13.01.2020.

Der am 25.10.1983 geborene Kläger war bei der Beklagten seit dem 17.05.2016 als gewerblicher Mitarbeiter und Kommissionierer im Frischebereich im Großhandelslager der Beklagten in G… beschäftigt in Vollzeit mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden und einem regelmäßigen monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von zuletzt 3.023,00 € brutto zu im Übrigen den Bedingungen des Arbeitsvertrages vom 11.05./13.05.2016. Im Großhandelslager arbeiten mehr als 400 Arbeitnehmer.

Im Großhandelslager werden die Waren eingelagert und kommissioniert für die Auslieferung an den Einzelhandel. Das Lager ist u.a. aufgeteilt in die Bereiche Obst und Gemüse, Frische und Trockensortiment. Zu letzterem zählen auch Getränke und Spirituosen. Dort hatte es in der Vergangenheit Schwund gegeben. Das Trockensortiment beansprucht die größte Teilfläche im Lager. Dort wird am Sonntag nicht gearbeitet und die Beleuchtung ist ausgeschaltet. Wegen des Schwundes an Spirituosen waren Mitarbeiter beauftragt worden, die Gänge im Bereich des Trockensortiments zu kontrollieren, ob sich dort jemand unberechtigt aufhalte. Ferner war eine versteckte Kamera angebracht worden, die den Gang mit den Spirituosen im Aufnahmebereich der Kameralinse hatte. Diese wurde eingeschaltet in den Zeiten, in denen im Trockensortiment nicht gearbeitet wurde. Die Kamera war mit einem Bewegungsmelder versehen und fertigte nur Aufzeichnungen bei Bewegungen im Aufnahmebereich.

Der Kläger arbeitete am Sonntag, den 22.12.2019 im Frischebereich. Er stempelte zu einer Rauchpause aus um 16:59 Uhr und stempelte wieder ein um 17:03 Uhr. Anschließend fuhren ein Kollege und er mit je einem Flurförderfahrzeug über den Leergutbereich knappe 200 m in das abgedunkelte Trockensortiment in den Gang, in dem unter anderem Jägermeister in Gebinden zu 0,04 l in Collis gelagert wird. Dabei fuhren die beiden ausweislich eines vorgelegten Lageplanes an der Tür zu einem Treppenhaus zur Kantine im Obergeschoss vorbei. In unmittelbarer Nähe des Lagerplatzes dieser Collis stellten die beiden die Flurförderfahrzeuge ab. Vom Abstellplatz bis zur Kantine im Obergeschoss sind ca. 136 m zurückzulegen. Der Kläger und sein Kollege begaben sich nach Abstellen der Flurförderfahrzeuge ein Stück des Anfahrweges zurück in Richtung Treppenhaus zur Kantine. Am Fuß der Treppe befindet sich ein Getränkeautomat, aus dem die Mitarbeiter Getränke ziehen können. Die Kantine hat Öffnungszeiten für die Mitarbeiter von 18:00 Uhr bis 19:30 Uhr, der Korridor für die Pausenzeit der Mitarbeiter ging am 22.12.2019 von 18:00 Uhr bis 19:45 Uhr. In der Kantine befindet sich ein weiterer Getränkeautomat. Auf dem Weg zum Treppenhaus und noch im abgedunkelten Gang direkt neben dem abgestellten Flurförderfahrzeug bückte sich der hinter dem Kollegen gehende Kläger. Anschließend setzten die beiden ihren Weg fort. Dabei wurden sie von der versteckt angebrachten Videokamera gefilmt.

Als sie zu ihren Flurförderfahrzeugen zurückkamen und zurück in den Frischebereich fuhren, wurden sie von zwei Schichtleitern darauf angesprochen, was sie im Trockensortiment zu suchen hätten. Nachdem sie Auskunft gegeben hatten, fuhren sie zurück in ihren Arbeitsbereich und arbeiteten weiter. Die beiden Schichtleiter kontrollierten anschließend den Spirituosenbereich und stellten fest, dass ein bodennah gelagertes Kolli mit Jägermeisterfläschchen aufgerissen war und zwei Fläschchen fehlten.

Der zur Kündigung berechtigte Betriebsleiter wurde am folgenden Tag von dem Sachverhalt informiert.

Am 27.12.2019 wurde der Kläger in einem Gespräch mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe sich Jägermeisterfläschchen angeeignet. An dem Gespräch nahmen der Betriebsleiter, der Abteilungsleiter „Frische“, ein Mitglied des Betriebsrates und der Kläger teil. Die Videoaufzeichnungen wurden dem Kläger nicht gezeigt. Er stritt den Vorwurf ab. Danach wurde der Kläger heimgeschickt.

Am 30.12.2019 wurde der Betriebsrat für den Betrieb des Großhandelslagers zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung angehört und um Zustimmung gebeten. Zu den Sozialdaten des Klägers wird dort u. a. ausgeführt, dieser sei ledig und habe keine „unterhaltsberechtigten Kinder (soweit bekannt, gem. Lohnsteuerkarte)“.

Am 02.01.2020 teilte der Betriebsrat mit, er gebe keine Stellungnahme ab.

Mit Schreiben vom 04.01.2020, zugegangen am 06.01.2020 durch Übergabe, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich und fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin.

Mit weiterem Schreiben vom 13.01.2020 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis noch einmal vorsorglich hilfsweise ordentlich zum 20.02.2020.

Der Kläger erhob fristgerecht Kündigungsschutzklage gegen die Kündigungen.

Der Kläger trug vor dem Arbeitsgericht mit Schriftsatz vom 05.03.2020 vor:

Er sei zwei Kindern unterhaltsverpflichtet.

Es bestehe eine betriebliche Übung, sich während der Arbeitszeit zu den nahegelegenen Versorgungseinrichtungen der Beklagten zu begeben. Dies habe er auch am 22.12.2019 gemacht. Der Colaautomat im Bereich Frische sei leer gewesen. Deshalb hätten sein Kollege und er sich zu dem nächsten Colaautomaten in der Kantine begeben. Zuerst seien sie mit den „Ameisen“ zum mittleren Regal im Bereich Trockensortiment gefahren. Dort habe es noch Restlicht vom Bereich Frische gegeben. Vom Abstellplatz der „Ameisen“ hätten sie sich über das Treppenhaus in den ersten Stock zur Kantine begeben, dort eine Cola gezogen und an Ort und Stelle getrunken. Dann seien sie zurück zu den „Ameisen“ gegangen. Dort von den beiden Schichtleitern auf den Grund ihres Aufenthaltes im Bereich Trockensortiment angesprochen, hätten sie mitgeteilt, sie hätten etwas zum Trinken und Essen aus der Kantine holen wollen, hätten jedoch bis auf die Cola aus dem Automaten nichts bekommen. Wenige Tage später sei ihnen in einem Personalgespräch vorgehalten worden, auf einem angefertigten Video sei zu erkennen, wie sie sich aus einem Regal Gegenstände, Jägermeisterfläschchen, angeeignet hätten. Einen angebotenen Aufhebungsvertrag habe er nicht unterzeichnet. In einem anschließenden Gespräch mit dem Betriebsratsmitglied alleine sei diesem mitgeteilt worden, ohne Zustimmung des Betriebsrates dürfe die Kamera nicht installiert werden und deshalb sei der Verwertung der Bilder zu widersprechen.

In der Einvernahme des Klägers als Partei in der mündlichen Verhandlung vom 06.05.2020 sei der Abstellort für die Ameisen gewählt worden, weil es dort noch beleuchtet gewesen sei. Der Gang mit den Jägermeisterflaschen liege auf dem Weg zur Kantine.

Zu der Kantine seien sie gegangen, weil der Kollege ein belegtes Brötchen habe essen wollen. Die Kantine sei auch auf gewesen. Normalerweise sei diese erst ab 21:00 Uhr offen, es seien aber schon vorher Leute da, um die Brötchen vorzubereiten. Richtig sei, dass er sich von einem Kollegen ein 2,00 €-Stück geliehen habe. Dies sei ihm aus der Hand auf den Boden gefallen und er habe es gesucht. Deshalb habe er sich bücken müssen. Er habe sich am Getränkeautomaten ein Getränk gezogen. Er habe sich auch ein Brötchen holen wollen und dabei erfahren, man könne an diesem Tag nichts kaufen, weil anlässlich des Feiertages jeder in der Pausenzeit zwei Gratis-Brötchen bekäme.

Der Kläger beantragte vor dem Arbeitsgericht,

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund der Kündigung der Beklagten vom 04.01.2020 nicht aufgelöst ist, und

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund der Kündigung der Beklagten vom 13.01.2020 nicht aufgelöst ist.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trug vor:

Unterhaltspflichten des Klägers seien zu bestreiten. Diese seien der Beklagten nicht bekannt.

Ein Recht, während der Arbeitszeit die Versorgungseinrichtungen aufzusuchen, gebe es nicht. Es gebe fest geregelte Pausenzeiten, in denen die Kantine aufgesucht werden könne. Darüber hinaus gebe es eine Betriebsvereinbarung zu Raucherpausen. Danach sei es den Mitarbeitern gestattet, für eine Kurzpause auszustempeln und einen der Raucherbereiche aufzusuchen. Diese lägen aber außerhalb des Gebäudes. Einen Getränkeautomaten für die Mitarbeiter gebe es auch im Bereich Frische. Es sei zu bestreiten, dass dieser zum Zeitpunkt des Vorfalles leer gewesen sei.

Im Rahmen der Befragung am 27.12.2019 habe der Kläger erklärt, der Getränkeautomat im Bereich Frische sei leer gewesen. Ein 2,00 €-Stück sei ihm aus der Tasche gefallen und er habe sich bücken müssen, um selbiges zu suchen. Er habe nicht darauf hingewiesen, dass er den Getränkeautomaten in der Kantine habe aufsuchen müssen. Der Kläger und sein Kollege seien zielgerichtet in den Bereich Trockensortiment gefahren.

Es sei nicht darum gegangen, sich Getränke in der Kantine zu holen. Dabei handele es sich um eine Schutzbehauptung. Der Getränkeautomat im Bereich Frische sei nicht leer gewesen. Andernfalls hätte es Mitarbeiterbeschwerden gegeben. Der Weg zur Kantine habe mit den Flurförderfahrzeugen knappe 200 m betragen und von deren Abstellplatz bis zur Kantine über das Treppenhaus noch einmal ca. 136 m. Der Fußweg sei nicht erforderlich gewesen. Am Fuß der Treppe habe ein befüllter Getränkeautomat gestanden. Der Kläger habe einen Diebstahl begangen. Es sei der Beklagten nicht zumutbar, den Kläger nur abzumahnen. Die Beklagte sei in hohem Maße auf die Loyalität und Ehrlichkeit ihrer Kommissionierer angewiesen. Diese wüssten auch, dass Verstöße dagegen erheblich geahndet würden.

Jedenfalls sei eine Verdachtskündigung gerechtfertigt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Beklagte keinen Tatnachweis habe liefern können. Das Video sei nicht in den Prozess eingeführt worden. Auf die Rahmenerzählungen des Klägers, die möglicherweise schwammig und widersprüchlich seien, komme es nicht an. Es stehe nicht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass der Kläger einen Diebstahl begangen habe, als er sich bückte, um nach seiner Darstellung ein 2,00 €-Stück aufzuheben. Aus den eigenen Einlassungen des Klägers im Rahmen seiner Parteieinvernahme ergebe sich ein Diebstahl nicht.

Auf eine Verdachtskündigung könne sich die Beklagte ebenfalls nicht erfolgreich stützen. Es seien weder ausreichende Verdachtsmomente gegeben noch sei ersichtlich, dass der Betriebsrat neben der Kündigung wegen eines Diebstahls auch zu einer Kündigung wegen des Verdachtes eines Diebstahls angehört worden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des arbeitsgerichtlichen Urteils wird auf Bl. 81 bis 94 der Akte verwiesen.

Das Urteil wurde der Beklagten am 20.05.2020 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 08.06.2020, beim Berufungsgericht am gleichen Tag eingegangen, legte die Beklagte Berufung ein. Mit Schriftsatz vom 20.07.2020, beim Berufungsgericht am gleichen Tag eingegangen, wurde die Berufung begründet.

Die Beklagte trägt in der Berufung vor:

Der Klage sei zu Unrecht stattgegeben worden. Der Kläger habe sich erheblicher Vertragspflichtverletzungen in Gestalt eines Diebstahles schuldig gemacht. Die Kamera sei mit Zustimmung des Betriebsrates installiert worden. Die Aufzeichnung der Kamera dokumentiere für die Zeit von 17:07 Uhr ab Sekunde 9 für die Dauer von insgesamt etwa 20 Sekunden, wie der Kläger und sein Kollege in den Gang einfahren und die Flurfahrzeuge abstellen würden. Sodann würde der Kläger einige Schritte gehen, sich zu dem Colli mit den Jägermeisterflaschen bewegen, diese aufreißen und 2 Flaschen entnehmen.

Die Beklagte legt dazu acht Screenshots aus der Videosequenz vor und bietet Beweis durch Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen an.

Im Übrigen macht die Beklagte unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens weiter geltend, bei dem Sachvortrag des Klägers handele es sich um Schutzbehauptungen. Ursprünglich habe der Kläger das Bücken damit erklärt, dass ihm ein Geldstück aus der Tasche gefallen sei. Nach Hinweis, dass dies nur schwer möglich sei, habe er behauptet, es sei ihm aus der Hand gefallen und er habe sich gebückt, um es aufzuheben. Nunmehr zeige sich, dass sich der Kläger nicht nach unten gebückt habe, um ein Geldstück aufzuheben, sondern nach rechts in den Regalbereich hinein.

Die Beklagte habe ferner nach der Entscheidung des Arbeitsgerichtes den Betriebsrat erneut angehört, um zum einen die Kündigung auch auf den Verdacht des Diebstahls stützen zu können und zum anderen, um die Erkenntnisse aus der Kameraaufzeichnung zur Stützung der vorliegenden Kündigungen nachschieben zu können. Ferner sei die Anhörung des Betriebsrates erfolgt in Vorbereitung einer neuerlichen Kündigung. Die Anhörung sei erfolgt mit Schreiben vom 09.06.2020, dem Betriebsrat zugegangen am 10.06.2020. Mit Rücklauf vom 15.06.2020 habe der Betriebsrat der Kündigung nicht zugestimmt und dies mit Begleitschreiben vom gleichen Tag begründet.

Der Kläger sei erneut gekündigt worden mit Schreiben vom 02.07.2020, zugestellt am 04.07.2020, zum 31.08.2020.

Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt:

Unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Würzburg vom 07.05.2020, 4 Ca 65/20, wird die Klage abgewiesen.

Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt:

Die Berufung wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Der Kläger trägt in der Berufung vor:

Der Beklagten sei der Tatnachweis vor dem Arbeitsgericht nicht gelungen. Auch aus den nunmehr vorgelegten Lichtbildern ergebe sich behauptete Tat nicht. Diese seien unscharf. Es sei zu bestreiten, dass es sich bei der Person, die sich nach unten bücke, um den Kläger handele. Es sei zu bestreiten, dass es sich bei der Palette, zu der sich die Person hinunterbücke, um die Palette mit den Jägermeister-Colli handele. Es sei zu bestreiten, dass die Lichtbilder um 17:00 Uhr gefertigt wurden. Es sei auch nicht klar, wann die Beklagte die Collis zuletzt auf Unversehrtheit überprüft habe.

Richtig sei nur, dass die beiden von der Beklagten benannten Zeugen den Kläger und seinen Kollegen beobachtet hätten, als diese aus dem Trockensortiment herauskamen. Auch ein hinreichender Tatverdacht liege nicht vor. Es sei nichts dafür ersichtlich, dass die Einlassung des Klägers weniger glaubhaft sei als die der Beklagten. Auch das Hineinbücken in ein Regal spreche nicht für Täterschaft, da dies auch nur deshalb erfolgt sein könnte, um sich abzustützen, um das 2,00 €-Stück aufzuheben.

Auch die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung sei zu bestreiten. Es werde mit Nichtwissen bestritten, dass die Betriebsratsanhörung mit Schreiben vom 30.12.2019 die Sozialdaten des Klägers enthalten habe. Es werde ferner bestritten, dass der Betriebsrat zu einer Verdachtskündigung angehört worden sei. Dieses Säumnis könne nicht dadurch geheilt werden, dass der Betriebsrat nach Ausspruch der Kündigung dazu angehört werde.

Ferner sei der Kläger nicht vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß angehört worden. Das Video hätte ihm gezeigt werden müssen, um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich zu erklären und so ggf. zu exkulpieren.

Es bestehe auch ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der Videoaufzeichnungen. Es liege keine Einigung mit dem Betriebsrat über Installation und Handhabung der Kamera vor. Es liege eine anlasslose heimliche Videoüberwachung vor. Schwund im Bereich Spirituosen sei zu bestreiten.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die Berufungsbegründung der Beklagten vom 20.07.2020, die Berufungserwiderung des Klägers vom 21.09.2020 und den weiteren Schriftsatz der Beklagten vom 06.10.2020 sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen nach § 69 Abs. 2, 3 Satz 2 ArbGG.

Aus den Gründen

 

A. Die Berufung ist zulässig.

Die Berufung ist statthaft nach §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2b ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden nach § 66 Abs.1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO.

B. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Arbeitsgerichtes Würzburg hat keinen Erfolg, sie ist unbegründet. Das Arbeitsgericht Würzburg hat der Kündigungsschutzklage des Klägers im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist nicht durch die außerordentliche, fristlose Kündigung der Beklagten vom 04.01.2020 zum 06.01.2020 aufgelöst worden. Das Arbeitsverhältnis wurde auch nicht durch die hilfsweise ordentliche und fristgerechte Kündigung vom 04.01.2020 zum 29.02.2020 aufgelöst worden. Schließlich hat auch die weitere ordentliche und fristgerechte Kündigung vom 13.01.2020 das Arbeitsverhältnis nicht zum 29.02.2020 aufgelöst.

Das Erstgericht ist insoweit mit zutreffender Begründung zum zutreffenden Ergebnis gelangt. Das Gericht nimmt daher Bezug auf die sorgfältigen und richtigen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Erstgerichtes und macht sich diese zu eigen, § 69 Abs. 2 ArbGG.

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen führt das Gericht noch aus:

 

I. Die außerordentliche Kündigung vom 04.01.2020 entbehrt des wichtigen Grundes.

 

1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist.

Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht.

Dabei gilt ein objektiver Maßstab. Nach § 626 Abs. 1 BGB bestimmt sich der wichtige Grund anhand des Vorliegens von objektiven Tatsachen, nicht von subjektiven Sorgen und Befürchtungen des Arbeitgebers. Maßgeblich ist nicht, ob ein bestimmter Arbeitgeber meint, ihm sei die Einhaltung der Kündigungsfrist nicht zuzumuten, und ob er weiterhin hinreichendes Vertrauen in einen Arbeitnehmer hat. Es kommt darauf an, ob die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist dem Kündigenden aus der Sicht eines objektiven und verständigen Betrachters unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist oder nicht, BAG, Urteil vom 13.05.2015 – 2 AZR 531/14 -, Rn. 28f, zitiert nach juris [BB 2015, 2682].

Dabei liegt die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, die als wichtige Gründe geeignet sein können, beim kündigenden Arbeitgeber. Diese Darlegungsund Beweislast erstreckt sich auch auf diejenigen Tatsachen, die einen vom gekündigten Arbeitnehmer substantiiert in das Verfahren eingeführten Rechtfertigungsoder Entschuldigungsgrund ausschließen.

 

2. Ein wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Diebstahls konnte von der Beklagten nicht dargelegt und bewiesen werden.

 

(1) Eigentums- und Vermögensdelikte des Arbeitnehmers zu Lasten des Arbeitgebers stellen regelmäßig einen wichtigen Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Darin liegt ein erheblicher Verstoß gegen die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers nach § 611a BGB iVm § 241 Abs. 2 BGB. Auf die strafrechtliche Würdigung kommt es dabei nicht an, sondern auf den mit dieser Pflichtverletzung begangenen schweren Vertrauensbruch, BAG, Urteil vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18 -, Rn. 17, zitiert nach juris [BB 2019, 636, CB 2019, 167]. Dies gilt auch bei einem rechtwidrigen Zugriff auf Eigentum des Arbeitgebers von geringem Wert, BAG, Urteil vom 31.07.2014 – 2 AZR 407/13-, Rn. 27, zitiert nach juris.

 

(2) Die Beklagte konnte im vorliegenden Fall einen Diebstahl von kleinen Flaschen Jägermeister durch den Kläger am Sonntag, den 22.12.2019 kurz nach 17:00 Uhr im Zusammenhang mit der Fahrt mit dem Flurförderfahrzeug aus dem Frischebereich in den Bereich des Trockensortimentes nicht beweisen. Der Kläger hat einen Diebstahl bestritten. Tatzeugen wurden von der Beklagten zur Beweisführung nicht angeboten. Das Gericht gewinnt auch aus den Begleitumständen nicht die Überzeugung, dass der Kläger zwei kleine Flaschen Jägermeister rechtswidrig an sich genommen hat.

Die Beklagte hat zur Beweisführung die Inaugenscheinnahme der Aufzeichnungen einer Videoanlage angeboten und einzelne screen shots aus dieser Videoaufnahme mit der Berufungsbegründung vorgelegt. Diese screen shots konnten ebenso wie die Videoaufzeichnung selbst nicht durch das Gericht verwertet werden. Der Kläger hat der entsprechenden Verwertung widersprochen im Hinblick auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht. Der Verwertung stand das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers in der Ausprägung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung und darin liegenden Rechtes am eigenen Bild nach Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG entgegen.

 

a. Der Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gebietet es, ihren Sachvortrag und die von ihr angebotenen Beweismittel im gerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen. Anderes kann nur gelten, wenn eine grundrechtlich geschützte Position der anderen Partei dadurch verletzt würde und der Schutzzweck der grundrechtlich gesicherten Position der Verwertung des Beweismittels entgegensteht. Soweit es sich bei der grundrechtlich geschützten Position um das Recht auf informationelle Selbstbestimmung handelt, kann in diesem Zusammenhang auf die Bestimmungen des BDSG abgestellt werden. Dessen Zweck ist neben der Ergänzung der DS-GVO der vorbeugende Schutz des Einzelnen vor zweckwidrigem und rechtsmissbräuchlichen Umgang mit seinen personenbezogenen Daten. Erlaubt das BDSG die Datenverarbeitung, so kann der Verwertung der gewonnenen Daten im gerichtlichen Verfahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung regelmäßig nicht entgegenstehen, BAG, Urteil vom 28.03.2019 -8 AZR 421/17 -, Rn. 30, zitiert nach juris für das BDSG 1990. In diesem Fall steht einer Verwertung auch nicht entgegen, dass der Betriebsrat bei der Installation der Überwachungskamera und bei der Auswertung der damit gewonnenen Erkenntnisse nicht beteiligt war nach Maßgabe des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, BAG, Urteil vom 20.10.2016 – 2 AZR 395/15 -, Rn. 36, zitiert nach juris. Erlaubt das BDSG die Datenverarbeitung nicht, führt dies nicht automatisch zur Unzulässigkeit der Verwertung der Bildaufnahmen im gerichtlichen Verfahren. Nach der Rechtsprechung des BAG kommt es dabei auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vorfeld der verdeckten Überwachung durch die beweisbelastete Partei an. Der Eingriff in das Recht am eigenen Bild steht danach einer Verwertung der Bilder im gerichtlichen Verfahren dann nicht entgegen, wenn der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer anderen schweren Verfehlung zu Lasten des Arbeitgebers besteht, weniger einschneidende Mittel zur Aufklärung des Verdachtes ergebnislos ausgeschöpft sind, die verdeckte Kameraüberwachung damit das praktisch einzig verbleibende Mittel darstellt und diese insgesamt nicht unverhältnismäßig ist, grundlegend BAG, Urteil vom 27.03.2003 – 2 AZR 51/02 -, Rn. 28, zitiert nach juris [BB 2003, 2578], und in jüngerer Zeit BAG, Urteil vom 20.10.2016 – 2 AZR 395/15 -, Rn. 22, zitiert nach juris.

 

b. Hier konnte die Beklagte nicht zur Überzeugung des Gerichtes darstellen, dass sie vor der Installation und Inbetriebnahme der Überwachungskamera andere, nicht in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eingreifende Mittel zur Aufklärung des Verdachtes des Diebstahles von Spirituosen ausgeschöpft hat und die Kameraüberwachung das praktisch einzig verbliebene Mittel zur Aufklärung der Täterschaft war. Die Beklagte hat in der Berufung nur vorgetragen, dass es einen gewissen „Schwund“ bei den Spirituosen gegeben hatte. Zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hat sie schriftsätzlich nicht vorgetragen. Dazu befragt hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, aus ihrer Sicht sei der Täterkreis im Rahmen ihrer Möglichkeiten eingegrenzt worden. Die Mitarbeiter, die regelhaft im Trockensortiment arbeiten, seien als potentielle Täter ausgeschlossen worden. In Zeiten, in denen im Trockensortiment gearbeitet werde, seien so viele Mitarbeiter auf der Fläche, dass die Gefahr der Beobachtung bei frischer Tat viel zu hoch sei. Deshalb seien nur Mitarbeiter als Täter in Betracht gekommen, die in den anderen Bereichen arbeiten, während im Trockensortiment die Arbeit ruhe. Diese Überlegungen sind nachvollziehbar. Die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergibt sich daraus jedoch noch nicht. Es ist nicht ersichtlich, dass es der Beklagten nicht möglich gewesen wäre, noch andere Mittel zur Eingrenzung des Kreises der Tatverdächtigen anzuwenden. Dabei ist beispielhaft zu denken an einen Abgleich der Anwesenheitszeiten von Mitarbeitern aus den anderen Bereichen mit den Zeitpunkten, zu dem Spirituosenschwund aufgetreten ist. Damit würde der Kreis der Tatverdächtigen weiter eingegrenzt werden, Die Mitarbeiter, die im Zeitpunkt des Spirituosenschwundes jeweils betriebsabwesend waren, würden dann unproblematisch ebenfalls aus dem Kreis der potentiell für den Schwund verantwortlichen Mitarbeiter ausscheiden.

Der Verwertung der Screen shots wie auch der Videosequenz stand daher entgegen, dass der Kläger mit der Verwertung nicht einverstanden war und die Beklagte nicht im Vorfeld die Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, den Verdacht so weit als möglich aufzuklären.

Vor diesem Hintergrund verbleibt es bei den schon erstinstanzlich von der Beklagten vorgetragenen Umständen, die aus Sicht der Beklagten einen Diebstahl des Klägers zu Lasten der Beklagten beweisen. Diese Umstände mögen einen Tatverdacht gegen den Kläger begründen, einen Tatnachweis stellen sie jedoch nicht dar. Das Erstgericht hat diese Umstände im Einzelnen betrachtet und gewertet und ist zu dem richtigen und überzeugenden Schluss gelangt, dass sich aus diesen Umständen eine Täterschaft des Klägers nicht ableiten lässt. Diese zutreffenden Überlegungen schließt sich das Berufungsgericht nach eigener eingehender Prüfung an nach § 69 Abs. 2 ArbGG an und verzichtet insoweit auf eine eigene Darstellung.

 

3. Ein wichtiger Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen des Verdachtes eines Diebstahls konnte von der Beklagten ebenfalls nicht dargelegt und bewiesen werden.

 

(1) Als wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB „an sich“ geeignet sind nicht nur erhebliche Pflichtverletzungen im Sinne von nachgewiesenen Taten. Auch der dringende, auf objektive Tatsachen gestützte Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Es handelt sich nicht um eine „unterentwickelte Tatkündigung“, BAG, Urteil vom 31.01.2019 - 2 AZR 426/18 -, Rn. 23, zitiert nach juris [BB 2019, 1395 Ls, K&R 2020, 466]. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Der Verdacht muss auf konkrete, vom Kündigenden darzulegende und gegebenenfalls zu beweisende Tatsachen gestützt sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus, BAG, Urteil vom 25.10.2012 – 2 AZR 700/11 -, Rn. 14, zitiert nach juris.

 

(2) Hier kann im Ergebnis unentschieden bleiben, ob hinreichende Verdachtsmomente gegen den Kläger vorliegen und er in ausreichendem Maße vor Ausspruch der Kündigung zu diesen Verdachtsmomenten angehört wurde. Als Kündigungsgrund kann nur berücksichtigt werden, was auch gegenüber dem Betriebsrat im Rahmen der Anhörung nach § 102 BetrVG als solcher geltend gemacht wurde.

 

a. Da es sich bei der Kündigung wegen des Verdachtes einer Straftat um eine andere als eine Kündigung wegen einer Straftat handelt, ist vor Ausspruch einer Verdachtskündigung der Betriebsrat nach § 102 BetrVG zu eben einer solchen anzuhören. In der Anhörung des Betriebsrates zu einer Tatkündigung liegt nicht gleichsam als „Minus“ eine Anhörung zu einer Verdachtskündigung. Allerdings ist es erforderlich, dass der Betriebsrat zumindest erkennen kann, dass er (auch) zu einer Verdachtskündigung angehört werden soll, BAG, Urteil vom 20.06.2013 – 2 AZR 546/12 -, Rn. 38, 39, zitiert nach juris [BB 2014, 890 m. BB-Komm. Ihle]. Hat der Arbeitgeber dem Betriebsrat nur mitgeteilt, er beabsichtige, das Arbeitsverhältnis wegen einer nach dem geschilderten Sachverhalt für erwiesen erachteten Handlung zu kündigen, und stützt er die Kündigung im Prozess bei unverändert gebliebenem Sachverhalt auch darauf, der Arbeitnehmer sei dieser Handlung zumindest verdächtig, so ist er mit dem Kündigungsgrund des Verdachts wegen fehlender Anhörung des Betriebsrats ausgeschlossen, BAG, Urteil vom 20.06.2013 – 2 AZR 546/12 -, Rn. 40, zitiert nach juris [BB 2014, 890 m. BB-Komm. Ihle]. Die Darlegungs- und Beweislast für eine ordnungsgemäße Beteiligung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG liegt beim Arbeitgeber.

 

b. Die Beklagte hat im vorliegenden Fall in der Berufung nur die Seite 1 der Anhörung des Betriebsrates mit Schreiben vom 30.12.2019 vorgelegt. Daraus sind nur die Sozialdaten des Klägers, soweit der Beklagten bekannt, zu entnehmen. Die weiteren Seiten mit der Darstellung des Kündigungsgrundes wurden nicht vorgelegt. Die Beklagte ist nach allgemeinen Grundsätzen der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG in der Darlegungs- und Beweislast. Die Beklagte hat jedoch weder im Verfahren vor dem Erstgericht noch vor dem Berufungsgericht geltend gemacht, den Betriebsrat mit Schreiben vom 30.12.2019 zu einer Verdachtskündigung angehört zu haben. Für die Entscheidungsfindung war daher davon auszugehen, dass der Betriebsrat mit Schreiben vom 30.12.2019 nicht zum Kündigungsgrund des Verdachtes des Diebstahles von zwei Flaschen Jägermeister angehört wurde.

An diesem Ergebnis ändert sich nichts dadurch, dass die Beklagte mit Schreiben vom 09.06.2020 zu ihrer Absicht angehört hat, den Kläger noch einmal kündigen zu wollen auch unter dem Aspekt der Verdachtskündigung und die bereits ausgesprochenen Kündigungen nunmehr auch auf den Verdacht des Diebstahls von Jägermeisterflaschen stützen zu wollen.

 

c. Hat der Arbeitgeber vor Ausspruch der Kündigung den Betriebsrat nur zu einer aus seiner tatsächlich erfolgten schweren Vertragspflichtverletzung in Gestalt eines Eigentumsdeliktes zu seinen Lasten angehört, kann er sich im späteren Kündigungsschutzverfahren nicht auf den bloßen Verdacht eines Diebstahls stützen, wenn ihm die entsprechenden Verdachtsmomente bereits bei Ausspruch der Kündigung bekannt waren. Das Nachschieben des Verdachtes des Diebstahls als Kündigungsgrund ist nur möglich, wenn dem Arbeitgeber nachträglich neue Verdachtsmomente bekannt geworden sind und die maßgebenden Verdachtsmomente objektiv schon vor Zugang der Kündigung vorlagen. In diesem Fall kann er den Kündigungsgrund des Verdachtes des Diebstahls nachschieben, wenn er den Betriebsrat dazu nachträglich ergänzend angehört hat, BAG, Urteil vom 16.07.2015 – 2 AZR 85/15 -, Rn. 25, zitiert nach juris [BB 2016, 505 m. BB-Komm. Helwig].

 

d. Hier sind der Beklagten nahezu keine neuen Verdachtsmomente bekannt geworden nach der Kündigung vom 04.01.2020. Bereits bei der Begegnung mit den beiden Schichtleitern bei der Rückkehr aus dem Trockensortiment war ein vernünftiger Grund für den Kläger und seinen Kollegen, die beiden Flurförderfahrzeuge im dunklen Bereich des Trockensortimentes abzustellen, nicht ersichtlich. Wenn die beiden sich aus dem Getränkeautomaten in der Kantine ein Getränk holen wollten, hätte es nahegelegen, die Flurförderfahrzeuge schon beim Treppenhaus zur Kantine abzustellen und nicht noch weiter ins abgedunkelte Trockensortiment zu fahren, um dann zurückgehen zu müssen zum Treppenhaus. Dies war schon bei der Anhörung des Betriebsrates mit Schreiben vom 30.12.2019 zu den streitgegenständlichen Kündigungen bekannt. Bekannt war zu diesem Zeitpunkt auch schon, dass am Fuß der Treppe ein Getränkeautomat stand und sich die beiden dort schon ihr Getränk hätten holen können. Auch das Entlastungsvorbringen des Klägers im Rahmen seiner Anhörung am 27.12.2019 war bekannt. Aus dieser Anhörung war auch schon bekannt, dass der Kläger im Bereich des Trockensortiments in der Nähe der Colli mit den Jägermeisterfläschchen ein 2,00 €-Stück verloren haben und es dort suchen wollte. Vor der Kündigung war schließlich auch schon bekannt, dass die beiden Schichtleiter nach der Begegnung mit dem Kläger und dessen Kollegen das aufgerissene Colli mit den fehlenden Flaschen festgestellt hatten. All diese Tatsachen sind Umstände, die einen Tatverdacht gegen den Kläger begründen. Zu einer Kündigung wegen eines dringenden Tatverdachtes wurde der Betriebsrat bei den streitgegenständlichen Kündigungen aber gerade nicht angehört. In der Anhörung mit Schreiben vom 09.06.2020 finden sich als neues und im Zeitpunkt der Kündigung unbekanntes Verdachtsmoment die Aussagen des Klägers im Rahmen seiner Einvernahme als Partei vor dem Erstgericht am 06.05.2020. Diese können als weitere Verdachtsmomente im Rahmen einer neuerlichen Kündigung wegen des Verdachtes einer Straftat Berücksichtigung finden, nicht aber bei der Beurteilung der Kündigung vom 04.01.2020.

Die außerordentliche Kündigung vom 04.01.2020 ist daher rechtsunwirksam, im Hinblick auf eine Kündigung wegen Diebstahls mangels Tatnachweises, im Hinblick auf eine Kündigung wegen des Verdachtes des Diebstahls mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates.

 

II. Die hilfsweise ordentliche Kündigung vom 04.01.2020 zum 29.02.2020 ist ebenfalls rechtsunwirksam, im Hinblick auf eine Kündigung wegen Diebstahls mangels Tatnachweises, im Hinblick auf eine Kündigung wegen des Verdachtes des Diebstahls mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates.

 

III. Auch die weitere hilfsweise ordentliche Kündigung vom 13.01.2020 zum 29.02.2020 ist rechtsunwirksam, im Hinblick auf eine Kündigung wegen Diebstahls mangels Tatnachweises, im Hinblick auf eine Kündigung wegen des Verdachtes des Diebstahls mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates.

 

Diese Kündigung begegnet insgesamt Bedenken, was eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates nach § 102 BetrVG betrifft.

 

1. Nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam. Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Dieses Beteiligungsverfahren nach § 102 BetrVG entfaltet deshalb nur für die Kündigung Wirksamkeit, für die es eingeleitet worden ist, BAG, Urteil vom 10.11.2005 – 2 AZR 623/04 -, Rn. 41, zitiert nach juris. Der Arbeitgeber hat demnach grundsätzlich für jede Kündigung ein Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen. Einer – erneuten – Anhörung des Betriebsrats bedarf es schon immer dann, wenn der Arbeitgeber bereits nach Anhörung des Betriebsrats eine Kündigung erklärt hat, d. h., wenn die erste Kündigung dem Arbeitnehmer zugegangen ist und der Arbeitgeber damit seinen Kündigungswillen verwirklicht hat und nunmehr eine neue (weitere) Kündigung aussprechen will. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stützt. Das Gestaltungsrecht und die damit im Zusammenhang stehende Betriebsratsanhörung ist mit dem Zugang der Kündigungserklärung verbraucht, BAG, Urteil vom 10.11.2005 – 2 AZR 623/04-, Rn. 42, zitiert nach juris. Das gilt insbesondere auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber wegen Bedenken gegen die Wirksamkeit der ersten Kündigung vorsorglich erneut kündigt. Das durch die ordnungsgemäße Anhörung erworbene Recht zum Ausspruch der Kündigung ist durch den Zugang der Kündigung verbraucht, BAG, Urteil vom 03.04.2008 – 2 AZR 965/06 -, Rn. 26, zitiert nach juris.

 

2. Hier wurde der Betriebsrat mit Schreiben vom 30.12.2019 zur Absicht der Beklagten gehört, den Kläger außerordentlich zum nächstmöglichen Termin und hilfsweise ordentlich mit der maßgeblichen Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende zu kündigen. Diese außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung wurde nach der Stellungnahme des Betriebsrates vom 02.01.2020, dass er keine Stellungnahme abgibt, auf den Weg gebracht mit dem Kündigungsschreiben vom 04.01.2020. Damit war die Betriebsratsanhörung zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung verbraucht. Eine neuerliche Anhörung des Betriebsrates zu der nachgeschobenen weiteren hilfsweisen und ordentlichen Kündigung mit Schreiben vom 13.01.2020 ist weder aus der Akte ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen.

 

C. Die Beklagte trägt die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels, § 97 Abs.1 ZPO.

 

D. Die Revision war nicht zuzulassen nach § 72 Abs. 1 und 2 Nr. 1 ArbGG.

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