BAG: Urlaub – 15 Monatsfrist – Langzeiterkrankung – Urlaubsansprüche bei fehlender Tilgungsbestimmung
BAG, Urteil vom 28.3.2023 – 9 AZR 488/21
ECLI:DE:BAG:2023:280323.U.9AZR488.21.0
Volltext: BB-Online BBL2023-1587-2
Orientierungssätze
1. Bei Ansprüchen auf Erholungsurlaub aus einem Kalenderjahr, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen und für die unterschiedliche Regelungen gelten, handelt es sich um selbständige Urlaubsansprüche, auf die § 366 BGB Anwendung findet, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht (Rn. 21).
2. Nimmt der Arbeitgeber in einem solchen Fall bei der Urlaubsgewährung keine Tilgungsbestimmung i. S. v. § 366 Abs. 1 BGB vor, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe heranzuziehen, dass zuerst die gesetzlichen Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden (Rn. 22).
3. Gesetzlicher Mindesturlaub, den ein Arbeitnehmer in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aufgrund einer seit dem ununterbrochen fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, kann bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG grundsätzlich nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig vor Krankheitsbeginn in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen (Rn. 30).
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von dem beklagten Land die Abgeltung restlichen Urlaubs aus dem Jahr 2019.
Die mit einem GdB von 60 als schwerbehinderter Mensch anerkannte Klägerin war bei dem beklagten Land vom 1. April 2001 bis zum 31. Januar 2021 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) vom 12. Oktober 2006 Anwendung, der in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ua. regelt:
„§ 26
Erholungsurlaub
(1) 1Beschäftigte haben in jedem Kalenderjahr Anspruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Entgelts (§ 21). 2Bei Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf fünf Tage in der Kalenderwoche beträgt der Urlaubsanspruch in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage. 3Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen die Beschäftigten dienstplanmäßig oder betriebsüblich zu arbeiten haben oder zu arbeiten hätten, mit Ausnahme der auf Arbeitstage fallenden gesetzlichen Feiertage, für die kein Freizeitausgleich gewährt wird. 4Bei einer anderen Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit als auf fünf Tage in der Woche erhöht oder vermindert sich der Urlaubsanspruch entsprechend. 5Verbleibt bei der Berechnung des Urlaubs ein Bruchteil, der mindestens einen halben Urlaubstag ergibt, wird er auf einen vollen Urlaubstag aufgerundet; Bruchteile von weniger als einem halben Urlaubstag bleiben unberücksichtigt. 6Der Erholungsurlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt werden; er kann auch in Teilen genommen werden.
(2) Im Übrigen gilt das Bundesurlaubsgesetz mit folgenden Maßgaben:
a) Im Falle der Übertragung muss der Erholungsurlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres angetreten werden. Kann der Erholungsurlaub wegen Arbeitsunfähigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Gründen nicht bis zum 31. März angetreten werden, ist er bis zum 31. Mai anzutreten.
…“
Aufgrund eines Erlasses des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 9. August 2016 wird der nicht erfüllte Urlaub über die tarifvertraglichen Vorschriften hinaus bis zum 30. September des Folgejahres übertragen. In den Absätzen 2 und 3 des Erlasses heißt es:
„Abweichend von den tarifvertraglichen Übertragungsfristen (§ 26 Abs. 2 TV-L) gilt für die Tarifbeschäftigten des Landes Schleswig-Holstein die für die Beamtinnen und Beamten des Landes jeweils geltende Übertragungsregelung (zur Zeit § 6 Abs. 1 EUVO).
Die übertarifliche Regelung gilt nicht für etwaige für den Beamtenbereich getroffene Störfallregelungen (z.B. bei Krankheit), sondern nur für die reguläre Abwicklung des Erholungsurlaubes, welcher im jeweiligen Urlaubsjahr nicht in Anspruch genommen wurde.“
Der in Bezug genommene § 6 Abs. 1 der Landesverordnung über den Erholungsurlaub der Beamtinnen und Beamten und der Richterinnen und Richter (Erholungsurlaubsverordnung – EUVO -) vom 2. August 2001 regelt:
„Der Erholungsurlaub soll im Urlaubsjahr in Anspruch genommen werden. Der Urlaub ist auf Wunsch geteilt zu gewähren. Erholungsurlaub, der nicht bis zum 30. September des folgenden Jahres abgewickelt worden ist, verfällt. Konnte der Erholungsurlaub aus dringenden dienstlichen Gründen nicht bis zum 30. September abgewickelt werden, verlängert sich diese Frist bis zum 31. Dezember. Dies gilt auch für Beamtinnen und Beamte, die in der zweiten Jahreshälfte in das Beamtenverhältnis eingetreten sind.“
Im Jahr 2019 gewährte das beklagte Land der Klägerin 17 Tage Urlaub. Seit dem 24. Juli 2019 war die Klägerin bis zur rechtlichen Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses am 31. Januar 2021 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.
Das beklagte Land wandte sich mit Schreiben vom 12. Juni 2020 an die Klägerin, in dem es auszugsweise heißt:
„Sie haben derzeit noch 18 Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2019, die in das laufende Urlaubsjahr übertragen wurden und die Sie noch nicht beantragt haben. Ich weise Sie darauf hin, dass dieser übertragene Urlaub spätestens bis einschließlich 30.09.2020 abgewickelt sein muss. Übertragener Urlaub, den Sie nicht rechtzeitig vor dem 01.10.2020 genommen haben, verfällt am 01.10.2020.“
Mit Schreiben vom 30. Juni 2020 erklärte das beklagte Land, die im Jahr 2019 in Anspruch genommenen Urlaubstage seien zunächst auf den gesetzlichen Urlaub einschließlich des Zusatzurlaubs nach § 208 SGB IX anzurechnen, so dass noch ein Anspruch auf acht Tage Urlaub bestehe; der den gesetzlichen Urlaub übersteigende Tarifurlaub iHv. zehn Tagen verfalle zum 30. September 2020. Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses leistete das beklagte Land für das Jahr 2019 Urlaubsabgeltung für acht Tage gesetzlichen Urlaub.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Abgeltung von weiteren zehn Tagen Urlaub aus dem Jahr 2019 verlangt. Sie hat die Auffassung vertreten, der restliche Urlaub aus dem Jahr 2019 sei nicht mit Ablauf des 30. September 2020 erloschen. Da das beklagte Land bei der Urlaubsgewährung im Jahr 2019 nicht bestimmt habe, welchen Urlaub es zu tilgen beabsichtige, habe es vorrangig den weniger geschützten Tarifurlaub und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen erfüllen wollen, so dass es sich bei den restlichen 18 Urlaubstagen um den gesetzlichen Mindesturlaub gehandelt habe. In Anbetracht ihrer Langzeiterkrankung habe dieser nicht vor Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres erlöschen können. Dem Verfall des Resturlaubs stehe zudem entgegen, dass das beklagte Land es unterlassen habe, die Klägerin durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig in die Lage zu versetzen, ihren Urlaub zu nehmen.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an sie 1.509,80 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt. Es hat die Auffassung vertreten, die gesetzlichen Urlaubsansprüche der Klägerin aus dem Jahr 2019, die sich einschließlich des Anspruchs auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen auf insgesamt 25 Tage belaufen hätten, seien unter Berücksichtigung der gewährten 17 und der abgegoltenen acht Urlaubstage vollständig erfüllt worden. Der die gesetzlichen Urlaubsansprüche übersteigende Tarifurlaub iHv. zehn Tagen sei aufgrund der lang andauernden Erkrankung der Klägerin unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten mit Ablauf des 30. September 2020 verfallen. Die Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB finde keine Anwendung.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat das arbeitsgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der Revision begehrt das beklagte Land die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Aus den Gründen
12 Die zulässige Revision ist überwiegend unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die klageabweisende Entscheidung des Arbeitsgerichts im Ergebnis zu Recht abgeändert und das beklagte Land zur Abgeltung von weiteren zehn Urlaubstagen mit einem Betrag iHv. 1.509,80 Euro brutto verurteilt. Abweichend vom Berufungsurteil ist die Hauptforderung jedoch nicht bereits ab dem 1. Februar 2021, sondern erst ab dem 4. Februar 2021 zu verzinsen.
13 I. Die Klage ist zulässig. Sie genügt insbesondere den gesetzlichen Bestimmtheitsanforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, dem zufolge die Klageschrift neben einem bestimmten Antrag eine bestimmte Angabe des Gegenstands und des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten muss.
14 1. Bei Ansprüchen auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG, des Tarifurlaubs und Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen handelt es sich um verschiedene Streitgegenstände. Ihnen liegen eigenständige, auf unterschiedlichen Lebenssachverhalten beruhende Anspruchsvoraussetzungen zugrunde. Während der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub regelmäßig allein das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt, bestehen die Ansprüche auf Tarifurlaub und Zusatzurlaub nur, wenn weitere Tatbestandsmerkmale erfüllt sind (insbesondere die Anwendbarkeit des Tarifvertrags bzw. das Bestehen einer Schwerbehinderung). Soweit sich gesetzlicher Mindesturlaub und Tarifurlaub überschneiden, liegt eine Anspruchskonkurrenz vor (BAG 1. März 2021 – 9 AZR 353/21 – Rn. 12).
15 2. Unabhängig davon, dass die Klägerin mit ihrer Klage die Auffassung vertreten hat, dass es sich bei den zehn abzugeltenden Urlaubstagen um den gesetzlichen Mindesturlaub handelt, hat sie den Streitgegenstand nicht auf die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs beschränkt. In der gebotenen rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl. BAG 19. November 2015 – 6 AZR 559/14 – Rn. 16, BAGE 153, 271) begehrt die Klägerin die Abgeltung der verbleibenden Urlaubsansprüche, die weder durch die Gewährung von 17 Urlaubstagen im Jahr 2019 erfüllt noch durch die Vergütung von acht Urlaubstagen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgegolten worden sind. Streitgegenstand des Rechtsstreits ist somit die Abgeltung der zehn Urlaubstage, die nach Auffassung der Klägerin bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch zusätzlich zu den abgegoltenen acht Arbeitstagen Urlaub bestanden.
16 II. Die Klage ist weitestgehend begründet. Die Klägerin hat gegen das beklagte Land gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG iVm. § 26 Abs. 2 TV-L einen Anspruch auf Abgeltung weiterer zehn Arbeitstage Urlaub mit einem Betrag iHv. 1.509,80 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 4. Februar 2021.
17 1. Gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG ist der Urlaub abzugelten, wenn er wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann. Ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung setzt deshalb voraus, dass zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch offene Urlaubsansprüche bestehen, die nicht mehr erfüllt werden können, weil das Arbeitsverhältnis beendet ist.
18 2. Der Klägerin stand für das Kalenderjahr 2019 ein Urlaubsanspruch iHv. insgesamt 35 Arbeitstagen zu. Dieser setzte sich aus dem gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) einschließlich des deckungsgleichen Teils des Tarifurlaubs von einheitlich 20 Arbeitstagen, dem diesen übersteigenden – übergesetzlichen – Teil des Tarifurlaubs von zehn Arbeitstagen (§ 26 Abs. 1 Satz 2 TV-L) sowie dem Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen von fünf Arbeitstagen (§ 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) zusammen.
19 3. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Klägerin gegen das beklagte Land Anspruch auf Abgeltung weiterer zehn Arbeitstage Urlaub hat. Die vom beklagten Land nicht abgegoltenen zehn Urlaubstage sind nicht verfallen.
20 a) Der Verfall des Resturlaubs ist allein am Maßstab des § 26 Abs. 2 Buchst. a Satz 2 TV-L iVm. dem Erlass des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein zu prüfen. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts setzen sich die vom beklagten Land nicht abgegoltenen weiteren zehn Urlaubstage nicht aus 5,5 Tagen gesetzlichem Urlaub, dessen Verfall in § 7 Abs. 3 BUrlG geregelt ist, und 4,5 Tagen tariflichem Mehrurlaub zusammen. Mit der bezahlten Freistellung der Klägerin von der Arbeitspflicht an 17 Arbeitstagen im Jahr 2019 und Zahlung von Urlaubsabgeltung für acht Urlaubstage nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat die Beklagte die gesetzlich begründeten Urlaubsansprüche aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG und § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX getilgt. Offen ist damit noch der übergesetzliche Teil des Tarifurlaubs iHv. zehn Arbeitstagen.
21 aa) Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Arbeitgeber gewähre gesetzlichen Urlaub, Zusatzurlaub wegen Schwerbehinderung und tariflichen Mehrurlaub anteilig zu gleichen Teilen, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaub im Jahr einer Langzeiterkrankung nicht vollständig in Anspruch genommen und der Arbeitgeber keine Tilgungsbestimmung vorgenommen habe, trifft nicht zu. Nach der weiterentwickelten Rechtsprechung des Senats, die das Landesarbeitsgericht seiner Entscheidung noch nicht zugrunde legen konnte, ist im Verhältnis von gesetzlichen Urlaubsansprüchen aus Mindesturlaub und Zusatzurlaub wegen Schwerbehinderung zu arbeits- und tarifvertraglichem Mehrurlaub nicht von einer einheitlichen Forderung auszugehen (grundl. BAG 1. März 2022 – 9 AZR 353/21 – Rn. 18 ff.; anders noch BAG 19. Januar 2016 – 9 AZR 507/14 – Rn. 10; 17. November 2015 – 9 AZR 275/14 – Rn. 18; 7. August 2012 – 9 AZR 760/10 – Rn. 12, BAGE 143, 1). Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhende Ansprüche auf Erholungsurlaub zu, für die unterschiedliche Regelungen gelten, handelt es sich um selbständige Urlaubsansprüche. Deshalb findet § 366 BGB Anwendung, wenn die Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber nicht zur Erfüllung sämtlicher Urlaubsansprüche ausreicht.
22 bb) Nimmt der Arbeitgeber keine Tilgungsbestimmung iSv. § 366 Abs. 1 BGB vor, ist die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe heranzuziehen, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden, um anderenfalls eintretende systemwidrige und dem hypothetischen Parteiwillen widersprechende Ergebnisse zu vermeiden (grds. BAG 1. März 2022 – 9 AZR 353/21 – Rn. 34 mwN). Ohne entsprechende Anpassung würde die Anwendung der Auslegungsregel des § 366 Abs. 2 BGB dazu führen, dass der übergesetzliche Teil eines Tarifurlaubs, der anders als der gesetzliche Mindesturlaub frei geregelt werden (BAG 9. März 2021 – 9 AZR 310/20 – Rn. 15) und deshalb gegenüber dem gesetzlichen Mindesturlaub unter geringeren Voraussetzungen erlöschen kann, die geringere Sicherheit bietet und damit zuerst getilgt würde (BAG 1. März 2022 – 9 AZR 353/21 – Rn. 35). Ein solches Ergebnis stünde nicht im Einklang damit, dass der nach § 13 BUrlG unabdingbare und als besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union besonders geschützte Mindesturlaub (vgl. EuGH 25. Juni 2020 – C-762/18 und C-37/19 – [Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria] Rn. 64) das nicht unterschreitbare Grunderholungsbedürfnis eines jeden Arbeitnehmers abbildet. Dieser Mindestanforderung für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung (vgl. EuGH 13. Januar 2022 – C-514/20 – [Koch Personaldienstleistungen] Rn. 29) soll im Zweifel mit den ersten gewährten Urlaubstagen nachgekommen werden, bevor der durch Arbeits- oder Tarifvertrag zusätzlich eingeräumte Urlaub gewährt wird (BAG 1. März 2022 – 9 AZR 353/21 – Rn. 35). Aufgrund seiner sog. urlaubsrechtlichen Akzessorietät gilt Entsprechendes für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen, der zusammen mit dem bezahlten Erholungsurlaub aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG den Mindesturlaub für diese Personengruppe bildet.
23 cc) Die Anwendungsvoraussetzungen des (modifizierten) § 366 Abs. 2 BGB liegen vor.
24 (1) Das beklagte Land nahm bei der Gewährung der 17 Urlaubstage im Jahr 2019 keine nach Anspruchsgrundlagen differenzierende Leistungsbestimmung iSv. § 366 Abs. 1 BGB vor. Die bezahlte Freistellung von der Arbeit als solche lässt sich nach §§ 133, 157 BGB nicht so verstehen, dass bestimmte Urlaubsansprüche vorrangig erfüllt werden sollen (BAG 1. März 2022 – 9 AZR 353/21 – Rn. 37). Mit dem Schreiben vom 30. Juni 2020 hat das beklagte Land keine wirksame Festlegung der Tilgungsreihenfolge vorgenommen. Die Tilgungsbestimmung muss „bei Leistung“ getroffen werden. Eine nachträgliche Bestimmung kommt nicht in Betracht (vgl. zu etwaigen Ausn. Grüneberg/Grüneberg 82. Aufl. § 366 BGB Rn. 7).
25 (2) Die Länge der für den tarifvertraglichen Mehrurlaub maßgeblichen Verfallfristen ist gegenüber den gesetzlichen Urlaubsansprüchen eigenständig geregelt. Nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG muss der Urlaub im Fall der Übertragung in den ersten drei Monaten des Folgejahres gewährt und genommen werden. Demgegenüber reicht es gemäß § 26 Abs. 2 Buchst. a Satz 1 TV-L aus, dass der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres lediglich angetreten wird. Kann der Erholungsurlaub wegen Arbeitsunfähigkeit oder aus betrieblichen/dienstlichen Gründen nicht bis zum 31. März angetreten werden, ist er – ebenfalls abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen – bis zum 31. Mai des folgenden Jahres anzutreten. Durch den Erlass des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 9. August 2016 ist der Übertragungszeitraum um vier Monate bis zum 30. September des Folgejahres verlängert worden. Im Falle einer langanhaltenden Erkrankung ist der für den tarifvertraglichen Mehrurlaub maßgebliche Übertragungszeitraum damit fünf Monate kürzer als der für den gesetzlichen Mindesturlaub einschlägige Übertragungszeitraum von 15 Monaten (vgl. dazu BAG 20. Dezember 2022 – 9 AZR 401/19 – Rn. 20).
26 b) Der den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Tarifurlaub aus dem Jahr 2019 ist nicht gemäß § 26 Abs. 2 Buchst. a Satz 2 TV-L iVm. dem Erlass des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 9. August 2016 mit Ablauf des 30. September 2020 verfallen.
27 aa) Das beklagte Land hat die Klägerin nicht durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig in die Lage versetzt, diesen Anspruch auszuüben.
28 (1) Unabhängig von den eigenständigen Regelungen über die Länge der für den tarifvertraglichen Urlaub geltenden Verfallfristen setzt die hier allein in Rede stehende Ingangsetzung des Fristenlaufs die Erfüllung der dem Arbeitgeber obliegenden Mitwirkungshandlungen voraus. Ebenso wie bei dem gesetzlichen Mindesturlaub im Umfang von 20 Arbeitstagen (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) und dem akzessorischen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen im Umfang von fünf Arbeitstagen (§ 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) trifft den Arbeitgeber unter dem Anwendungsbereich des § 26 TV-L die Obliegenheit, dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, den tariflichen Mehrurlaub zu nehmen (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 541/15 – Rn. 37). Daran ändert auch der Erlass des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 9. August 2016 iVm. der Erholungsurlaubsverordnung nichts. Deren Bestimmungen weisen keine deutlichen Anhaltpunkte (vgl. zu diesem Erfordernis BAG 29. September 2020 – 9 AZR 113/19 – Rn. 12 mwN) dafür auf, dass die darin aufgeführten Verfallfristen unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten in Gang gesetzt werden sollen.
29 (2) Der Arbeitgeber hat zur Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er muss den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsobliegenheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern, den Urlaub wahrzunehmen. Er darf ihn insbesondere nicht mit Umständen konfrontieren, die ihn davon abhalten könnten, seinen Jahresurlaub zu nehmen (st. Rspr., vgl. BAG 29. September 2020 – 9 AZR 113/19 – Rn. 23; 21. Mai 2019 – 9 AZR 579/16 – Rn. 50).
30 (3) Der Anspruch eines Arbeitnehmers auf den gesetzlichen Mindesturlaub, den er in einem Bezugszeitraum erworben hat, in dessen Verlauf er tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aufgrund einer seitdem fortbestehenden Krankheit arbeitsunfähig geworden ist, kann bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG grundsätzlich nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten erlöschen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig vor Krankheitsbeginn in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch zu realisieren (BAG 20. Dezember 2022 – 9 AZR 401/19 – Rn. 12). Der Urlaubsanspruch verfällt nach Ablauf der 15 Monatsfrist jedoch dann unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig war oder es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, den Arbeitnehmer vor dessen Erkrankung in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub zu nehmen (vgl. BAG 31. Januar 2023 – 9 AZR 107/20 – Rn. 10).
31 bb) Unter Berücksichtigung dieser – auf den tarifvertraglichen Mehrurlaub anwendbaren – Grundsätze hat das beklagte Land den Anspruch der Klägerin auf den tariflichen Mehrurlaub iHv. zehn Arbeitstagen für das Jahr 2019 nicht der Fristenregelung des § 26 Abs. 2 Buchst. a TV-L unterworfen. Es ist seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht nachgekommen, obwohl es angesichts des Krankheitsbeginns am 24. Juli 2019 ausreichend Zeit hatte, die Klägerin in die Lage zu versetzen, ihren Urlaub zu nehmen. Das erst nach Krankheitsbeginn an die Klägerin gerichtete Schreiben vom 12. Juni 2020, in dem diese darauf hingewiesen worden ist, ihre aus dem Jahr 2019 übertragenen 18 Urlaubstage verfielen am 1. Oktober 2020, wenn sie sie nicht vorher rechtzeitig genommen habe, war nicht mehr dazu geeignet, die Klägerin zur Inanspruchnahme ihres Urlaubs zu veranlassen. Entsprechendes gilt für das Schreiben vom 30. Juni 2020.
32 4. Der seiner Höhe nach unstreitige Abgeltungsbetrag iHv. 1.509,80 Euro ist ab dem 4. Februar 2021 mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen (§§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das angefochtene Urteil hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand, soweit das Landesarbeitsgericht der Klägerin Zinsen bereits ab dem 1. Februar 2021 zugesprochen hat. Die Klägerin hat zuletzt eine Verzinsung ab Rechtshängigkeit verlangt. Der bezifferte Leistungsantrag vom 2. Februar 2021 ist dem beklagten Land am 3. Februar 2021 zugestellt worden, so dass Prozesszinsen ab dem 4. Februar 2021 zu zahlen sind (§ 187 Abs. 1 BGB).
33 III. Das beklagte Land hat die Kosten der Revision zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).