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Arbeitsrecht
11.12.2014
Arbeitsrecht
EuGH: Tarifvertrag – Bestimmung, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer

EuGH (1. Kammer), Urteil vom 4.12.2014 – C-413/13

Leitsatz

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass eine tarifvertragliche Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die einer der angeschlossenen Arbeitnehmervereinigungen angehören und für einen Arbeitgeber auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags die gleiche Tätigkeit ausüben wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten Arbeitnehmer, nur dann vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen ist, wenn die Leistungserbringer „Scheinselbständige“ sind, d. h. sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.

Aus den Gründen

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 101 Abs. 1 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Gewerkschaftsverband FNV Kunsten Informatie en Media (im Folgenden: FNV) und dem Staat der Nederlanden über die Begründetheit eines Reflexionspapiers, in dem sich die Nederlandse Mededingingsautoriteit (niederländische Wettbewerbsbehörde, im Folgenden: NMa) auf den Standpunkt gestellt hat, dass eine tarifvertragliche Bestimmung, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsehe, nicht vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sei.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 1 des Tarifvertragsgesetzes (Wet op de collectieve arbeidsovereenkomst) bestimmt:

„(1) Unter einem Tarifvertrag ist ein Vertrag zu verstehen, der zwischen einem oder mehreren Arbeitgebern oder einer oder mehreren voll rechtsfähigen Vereinigungen von Arbeitgebern und einer oder mehreren voll rechtsfähigen Vereinigungen von Arbeitnehmern geschlossen wird und hauptsächlich oder ausschließlich die Arbeitsbedingungen regelt, die im Rahmen der Arbeitsverträge zu beachten sind.

(2) Er kann auch Verträge über die Herstellung eines Werkes und über die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand haben. Die Vorschriften des vorliegenden Gesetzes über Arbeitsverträge, Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten in diesem Fall entsprechend.“

4

Art. 6 Abs. 1 des Wettbewerbsgesetzes (Mededingingswet, im Folgenden: Mw), der im Wesentlichen Art. 101 Abs. 1 AEUV entspricht, bestimmt:

„Verboten sind Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmervereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs auf dem niederländischen Markt oder einem Teil davon bezwecken oder bewirken.“

5

Art. 16 Buchst. a Mw sieht vor:

„Art. 6 Abs. 1 gilt nicht für

a) einen Tarifvertrag im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6

Nach den Angaben in den Akten können sich niederländische selbständige Dienstleistungserbringer in den Niederlanden jeder Gewerkschaft, Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigung anschließen. Daher können die Arbeitgeber- und die Arbeitnehmervereinigungen nach dem Tarifvertragsgesetz einen Tarifvertrag nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für die ihnen angeschlossenen selbständigen Dienstleistungserbringer schließen.

7

In den Jahren 2006 und 2007 schlossen die FNV und die Arbeitnehmervereinigung Nederlandse toonkunstenaarsbond (niederländischer Tonkünstlerbund, im Folgenden: Ntb) mit der Arbeitgebervereinigung Vereniging van Stichtingen Remplaçanten Nederlandse Orkesten (Verband der Stiftungen für Aushilfsmusiker in niederländischen Orchestern) einen Tarifvertrag für Musiker, die Mitglieder eines Orchesters vertreten (im Folgenden: Aushilfsmusiker).

8

Dieser Tarifvertrag legte u. a. Mindesttarife nicht nur für die im Rahmen eines Arbeitsvertrags beschäftigten Aushilfsmusiker fest (im Folgenden: angestellte Aushilfsmusiker), sondern auch für Aushilfsmusiker, die im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags tätig werden und nicht als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Tarifvertrags anzusehen sind (im Folgenden: selbständige Aushilfsmusiker).

9

Im Einzelnen sah Anhang 5 des Tarifvertrags vor, dass selbständigen Aushilfsmusikern mindestens der für angestellte Aushilfsmusiker vereinbarte Proben- und Konzerttarif zuzüglich 16 % zu zahlen ist.

10

Am 5. Dezember 2007 veröffentlichte die NMa ein Reflexionspapier, in dem sie sich auf den Standpunkt stellte, dass eine tarifvertragliche Bestimmung, die Mindesttarife für selbständige Aushilfsmusiker vorsehe, nicht vom Anwendungsbereich des Art. 6 Mw und des Art. 81 Abs. 1 EG im Sinne des Urteils Albany (C‑67/96, EU:C:1999:430) ausgenommen sei. Nach Ansicht der NMa wechselt ein Tarifvertrag, der Dienstleistungsverträge regelt, seine Rechtsnatur und weist die Merkmale einer Vereinbarung zwischen Unternehmervereinigungen auf, da er auf Gewerkschaftsseite von einer Organisation ausgehandelt werde, die nicht als Arbeitnehmervereinigung, sondern als Vereinigung von Selbständigen auftrete.

11

Daraufhin kündigten der Arbeitgeberverband Vereniging van Stichtingen Remplaçanten Nederlandse Orkesten und die Arbeitnehmervereinigung Nederlandse toonkunstenaarsbond den Tarifvertrag und lehnten es ab, einen neuen Tarifvertrag abzuschließen, der eine Bestimmung über Mindesttarife für selbständige Aushilfsmusiker enthält.

12

Die FNV erhob Klage bei der Rechtbank ʼs-Gravenhage (Gericht von Den Haag) und beantragte zum einen, festzustellen, dass das niederländische Wettbewerbsrecht und das Wettbewerbsrecht der Union einer tarifvertraglichen Bestimmung, die den Arbeitgeber dazu verpflichtet, nicht nur gegenüber angestellten Aushilfsmusikern, sondern auch gegenüber selbständigen Aushilfsmusikern Mindesttarife einzuhalten, nicht entgegenstehen, und zum anderen dem niederländischen Staat aufzugeben, den von der NMa in ihrem Reflexionspapier vertretenen Standpunkt zu berichtigen.

13

Die Rechtbank ʼs-Gravenhage stellte dazu fest, dass eine solche Bestimmung eine der beiden kumulativen Voraussetzungen für die Unanwendbarkeit des Wettbewerbsrechts der Union im Sinne der Urteile Albany (EU:C:1999:430), Brentjens’ (C‑115/97 bis C‑117/97, EU:C:1999:434), Drijvende Bokken (C‑219/97, EU:C:1999:437) und van der Woude (C‑222/98, EU:C:2000:475) nicht erfülle. Eine solche Tarifregelung müsse erstens aus dem Dialog der Sozialpartner hervorgegangen und im Rahmen eines Tarifvertrags zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen vereinbart worden sein und zweitens unmittelbar zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer beitragen. In vorliegenden Fall trage die fragliche Bestimmung nicht unmittelbar zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer bei. Die Rechtbank ʼs‑Gravenhage wies daher die Anträge der FNV zurück, ohne zu prüfen, ob die erste in dieser Rechtsprechung aufgestellte Voraussetzung, nämlich dass die fragliche Bestimmung ihrer Natur nach aus dem Dialog zwischen den Sozialpartnern hervorgegangen sein muss, erfüllt ist.

14

Die FNV hat gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Gerechtshof te ʼs‑Gravenhage (Gerichtshof von Den Haag) eingelegt. Ihr einziger Rechtsmittelgrund betrifft die Frage, ob das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 Abs. 1 AEUV eine tarifvertragliche Bestimmung erfasst, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die für einen Arbeitgeber die gleiche Tätigkeit verrichten wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten Arbeitnehmer.

15

Im Rahmen dieses Verfahrens hat der Gerechtshof die selbständigen Aushilfsmusiker zwar vorläufig als „Unternehmer“ eingestuft, da ihre Einkünfte von den Aufträgen abhingen, die sie selbständig auf dem Markt für Aushilfsmusiker akquirierten, da sie mit anderen Aushilfsmusikern konkurrierten und da sie in Musikinstrumente investierten. Jedoch lässt sich seiner Ansicht nach weder dem Vertrag noch der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig entnehmen, wie der Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden ist.

16

Unter diesen Umständen hat der Gerechtshof te ʼs‑Gravenhage beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts dahin auszulegen, dass eine Vorschrift in einem zwischen Vereinigungen von Arbeitgebern und von Arbeitnehmern geschlossenen Tarifvertrag – wonach Selbständige, die aufgrund einer Dienstleistungsvereinbarung für einen Arbeitgeber die gleiche Arbeit wie die Arbeitnehmer verrichten, für die der Tarifvertrag gilt, schon deshalb einen bestimmten Mindesttarif erhalten müssen, weil diese Vorschrift in einem Tarifvertrag vorkommt – vom Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV ausgenommen ist?

2. Sofern die erste Frage verneint wird: Ist die genannte Vorschrift vom Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV ausgenommen, wenn sie (auch) zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer dient, für die der Tarifvertrag gilt, und ist es dabei von Belang, ob diese Arbeitsbedingungen dadurch unmittelbar oder nur mittelbar verbessert werden?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

17

Vorab ist zu prüfen, ob der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig ist. Die im Ausgangsverfahren fragliche Vereinbarung betrifft nämlich, wie der Gerechtshof te ʼs‑Gravenhage in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt hat, einen rein innerstaatlichen Sachverhalt und hat keine Auswirkung auf den innergemeinschaftlichen Handel. Daher ist Art. 101 AEUV auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar.

18

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht hat, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich des Unionsrechts fiel, diese Vorschriften aber durch das nationale Recht, das sich zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richtete, für anwendbar erklärt worden waren. In solchen Fällen besteht nach ständiger Rechtsprechung nämlich ein klares Interesse der Europäischen Union daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden (Urteil Allianz Hungária Biztosító u. a., C‑32/11, EU:C:2013:160, Rn. 20).

19

Zum vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 Mw den wesentlichen Inhalt von Art. 101 Abs. 1 AEUV übernimmt. Ferner ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass der niederländische Gesetzgeber ausdrücklich das nationale Wettbewerbsrecht dem der Union angleichen wollte und sich dabei von der Vorstellung leiten ließ, dass sich die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Mw eng an der von Art. 101 Abs. 1 AEUV ausrichten sollte.

20

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig, auch wenn Art. 101 Abs. 1 AEUV den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt nicht unmittelbar regelt.

Zu den Vorlagefragen

21

Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass eine tarifvertragliche Bestimmung, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die einer der angeschlossenen Arbeitnehmervereinigungen angehören und für einen Arbeitgeber auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags die gleiche Tätigkeit ausüben wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten Arbeitnehmer, nicht in den Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt.

22

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung mit Tarifverträgen zwischen Organisationen, die die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer vertreten, zwar zwangsläufig gewisse den Wettbewerb beschränkende Wirkungen verbunden sind, die Erreichung der mit derartigen Verträgen angestrebten sozialpolitischen Ziele jedoch ernsthaft gefährdet wäre, wenn die Sozialpartner bei der gemeinsamen Suche nach Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen Art. 101 Abs. 1 AEUV unterlägen (vgl. Urteile Albany, EU:C:1999:430, Rn. 59, International Transport Workersʼ Federation und Finnish Seamenʼs Union, C‑438/05, EU:C:2007:772, Rn. 49, und 3F/Kommission, C‑319/07 P, EU:C:2009:435, Rn. 50).

23

Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass die im Rahmen von Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern im Hinblick auf solche Ziele geschlossenen Verträge aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstands nicht unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen (vgl. Urteile Albany, EU:C:1999:430, Rn. 60, Brentjens’, EU:C:1999:434, Rn. 57, Drijvende Bokken, EU:C:1999:437, Rn. 47, Pavlov u. a., C‑180/98 bis C‑184/98, EU:C:2000:428, Rn. 67, van der Woude, EU:C:2000:475, Rn. 22, und AG2R Prévoyance, C‑437/09, EU:C:2011:112, Rn. 29).

24

Im Ausgangsverfahren wurde die in Rede stehende Vereinbarung zwischen einer Arbeitgebervereinigung und gemischt zusammengesetzten Arbeitnehmervereinigungen geschlossen, die im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht nicht nur für angestellte, sondern auch für ihnen angeschlossene selbständige Aushilfsmusiker verhandelt haben.

25

Daher ist zu prüfen, ob in Anbetracht der Art und des Gegenstands einer solchen Vereinbarung davon ausgegangen werden kann, dass sie im Rahmen von Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern geschlossen wurde, und es somit gerechtfertigt ist, dass sie bezüglich ihres die Mindesttarife für selbständige Aushilfsmusiker betreffenden Teils vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen ist.

26

Erstens ergibt sich zur Art dieser Vereinbarung aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass sie in Form eines Tarifvertrags geschlossen wurde. Die Vereinbarung ist jedoch gerade in Bezug auf die Bestimmung über die Mindesttarife in ihrem Anhang 5 das Ergebnis von Verhandlungen zwischen einer Arbeitgebervereinigung und Arbeitnehmervereinigungen, die auch die Interessen selbständiger Aushilfsmusiker vertreten, die Orchestern gegenüber Leistungen aufgrund eines Dienstleistungsvertrags erbringen.

27

Insoweit ist festzustellen, dass Dienstleistungserbringer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aushilfsmusiker, auch wenn sie die gleiche Tätigkeit wie die Arbeitnehmer ausüben, grundsätzlich „Unternehmen“ im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV darstellen, da sie ihre Dienstleistungen gegen Entgelt auf einem bestimmten Markt anbieten (Urteil Ordem dos Técnicos Oficiais de Contas, C‑1/12, EU:C:2013:127, Rn. 36 und 37) und ihre Tätigkeit als gegenüber ihren Auftraggebern selbständige Wirtschaftsteilnehmer ausüben (vgl. Urteil Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio, C‑217/05, EU:C:2006:784, Rn. 45).

28

Daraus folgt, dass, wie auch der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge und die NMa in ihrem Reflexionspapier ausgeführt haben, eine Organisation, die Arbeitnehmer vertritt, bei Verhandlungen im Namen und für Rechnung der ihr angehörenden selbständigen Dienstleistungserbringer nicht als Gewerkschaft und damit als Sozialpartner auftritt, sondern in Wirklichkeit als Unternehmervereinigung agiert.

29

Dem ist hinzuzufügen, dass der Vertrag zwar einen Dialog der Sozialpartner vorsieht, jedoch keine Bestimmung enthält, die wie die Art. 153 AEUV und 155 AEUV sowie die Art. 1 und 4 des Abkommens über die Sozialpolitik (ABl. 1992, C 191, S. 91) selbständige Leistungserbringer ermutigt, in einen solchen Dialog mit den Arbeitgebern zu treten, denen gegenüber sie Leistungen aufgrund eines Dienstleistungsvertrags erbringen, und daher Kollektivvereinbarungen mit diesen Arbeitgebern zu schließen, um ihre Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen zu verbessern (vgl. entsprechend Urteil Pavlov u. a., EU:C:2000:428, Rn. 69).

30

Daraus ergibt sich, dass eine tarifvertragliche Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche nicht das Ergebnis von Kollektivverhandlungen zwischen den Sozialpartnern ist, da sie von einer Arbeitnehmervereinigung im Namen und für Rechnung der ihr angeschlossenen selbständigen Dienstleistungserbringer vereinbart wurde, und deshalb nicht aufgrund ihrer Art vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen sein kann.

31

Dies schließt jedoch nicht aus, dass auch eine solche tarifvertragliche Bestimmung als Ergebnis eines Dialogs zwischen den Sozialpartnern angesehen werden kann, wenn die Dienstleistungserbringer, in deren Namen und für deren Rechnung die Gewerkschaft verhandelt hat, in Wirklichkeit „Scheinselbständige“ sind, d. h. Leistungserbringer, die sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden.

32

Es ist nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge sowie die FNV, die niederländische Regierung und die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt haben, in der heutigen Wirtschaft nicht immer leicht, zu bestimmen, ob bestimmte selbständige Leistungserbringer wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aushilfsmusiker Unternehmensstatus haben.

33

In Bezug auf das Ausgangsverfahren ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung zum einen ein Dienstleistungserbringer seine Eigenschaft als unabhängiger Wirtschaftsteilnehmer und damit als Unternehmen verliert, wenn er sein Verhalten auf dem Markt nicht selbständig bestimmt, sondern vollkommen abhängig von seinem Auftraggeber ist, weil er keines der finanziellen und wirtschaftlichen Risiken aus dessen Geschäftstätigkeit trägt und als Hilfsorgan in sein Unternehmen eingegliedert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio, EU:C:2006:784, Rn. 43 und 44).

34

Zum anderen ist der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Unionsrechts selbst anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. Nach ständiger Rechtsprechung besteht das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. Urteile N., C‑46/12, EU:C:2013:97, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Haralambidis, C‑270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 28).

35

Dazu hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass die Einstufung als „selbständiger Leistungserbringer“ nach innerstaatlichem Recht es nicht ausschließt, dass eine Person als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts einzustufen ist, wenn ihre Selbständigkeit nur fiktiv ist und damit ein tatsächliches Arbeitsverhältnis verschleiert (vgl. in diesem Sinne Urteil Allonby, C‑256/01, EU:C:2004:18, Rn. 71).

36

Daraus folgt, dass die Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts nicht dadurch berührt wird, dass eine Person aus steuerlichen, administrativen oder verwaltungstechnischen Gründen nach innerstaatlichem Recht als selbständiger Dienstleistungserbringer beschäftigt wird, sofern sie nach Weisung ihres Arbeitgebers handelt, insbesondere was ihre Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit angeht (vgl. Urteil Allonby, EU:C:2004:18, Rn. 72), nicht an den geschäftlichen Risiken dieses Arbeitgebers beteiligt ist (Urteil Agegate, C‑3/87, EU:C:1989:650, Rn. 36) und während der Dauer des Arbeitsverhältnisses in dessen Unternehmen eingegliedert ist und daher mit ihm eine wirtschaftliche Einheit bildet (vgl. Urteil Becu u. a., C‑22/98, EU:C:1999:419, Rn. 26).

37

Im Licht dieser Grundsätze muss sich das vorlegende Gericht, um die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden selbständigen Aushilfsmusiker nicht als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts, sondern als echte „Unternehmen“ im unionsrechtlichen Sinne einstufen zu können, daher vergewissern, dass bei diesen Aushilfsmusikern – über die Rechtsnatur ihres Dienstleistungsvertrags hinaus – nicht die in den Rn. 33 bis 36 des vorliegenden Urteils genannten Bedingungen vorliegen und dass sie sich insbesondere während der Dauer des Vertragsverhältnisses nicht in einem Verhältnis der Unterordnung zum betreffenden Orchester befinden und damit in Bezug auf die Bestimmung von Zeit, Ort und Durchführungsmodalitäten der ihnen übertragenen Aufgaben, d. h. der Proben und Konzerte, über mehr Autonomie und Flexibilität verfügen als die die gleiche Tätigkeit ausübenden Arbeitnehmer.

38

Zweitens ist zum Gegenstand des im Ausgangsverfahren fraglichen Tarifvertrags festzustellen, dass eine Prüfung anhand der in den Rn. 22 und 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung in diesem Punkt nur dann gerechtfertigt ist, wenn das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aushilfsmusiker nicht als „Unternehmen“, sondern als „Scheinselbständige“ einstufen sollte.

39

Für diesen Fall ist zu beachten, dass die mit der Bestimmung in Anhang 5 des Tarifvertrags eingeführte Mindesttarifregelung einen unmittelbaren Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen dieser – als „Scheinselbständige“ eingestuften – Aushilfsmusiker leistet.

40

Eine solche Regelung sichert diesen Leistungserbringern nämlich nicht nur eine höhere als die ohne die genannte Bestimmung erzielbare Grundvergütung, sondern ermöglicht, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, auch die Zahlung von Beiträgen zu einer Rentenversicherung, die der für die Arbeitnehmer vorgesehenen Beteiligung am Versorgungssystem entspricht, und garantiert ihnen damit die nötigen Mittel, um in der Zukunft über ein bestimmtes Rentenniveau verfügen zu können.

41

Daher kann eine tarifvertragliche Bestimmung, die Mindesttarife für Dienstleistungserbringer, die „Scheinselbständige“ sind, vorsieht, wegen ihrer Art und ihres Gegenstands nicht in den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen.

42

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass eine tarifvertragliche Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die Mindesttarife für selbständige Dienstleistungserbringer vorsieht, die einer der angeschlossenen Arbeitnehmervereinigungen angehören und für einen Arbeitgeber auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags die gleiche Tätigkeit ausüben wie die bei diesem Arbeitgeber angestellten Arbeitnehmer, nur dann vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen ist, wenn die Leistungserbringer „Scheinselbständige“ sind, d. h. sich in einer vergleichbaren Situation wie die Arbeitnehmer befinden. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen.

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