BAG: Regelung einer Altersgrenze in einer Betriebsvereinbarung
BAG, Urteil vom 21.2.2017 – 1 AZR 292/15
Volltext:BB-ONLINE BBL2017-1077-1
ECLI:DE:BAG:2017:210217.U.1AZR292.15.0
Amtliche Leitsätze
1. Betriebsparteien sind berechtigt, eine Altersgrenze für die Befristung von Arbeitsverhältnissen zu regeln, die auf das Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung abstellt.
2. Eine solche Betriebsvereinbarung muss aus Gründen des Vertrauensschutzes Übergangsregelungen für die bei Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung bereits rentennahen Arbeitnehmer vorsehen.
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer durch Betriebsvereinbarung geregelten Altersgrenze.
Der am 25. Oktober 1948 geborene Kläger war seit Mai 1969 bei der Beklagten auf der Grundlage eines mündlichen Arbeitsvertrags beschäftigt. Die Beklagte ist an die Tarifverträge für die Arbeitnehmer der kunststoffverarbeitenden Industrie im Kreis L gebunden.
Am 27. August 2013 trat bei der Arbeitgeberin erstmals eine „Betriebsvereinbarung Nr. 3/2013 über die Beendigung bzw. das Ruhen von Arbeitsverhältnissen bei der E GmbH gemäß den Bestimmungen der gesetzlichen Rentenversicherung“ (BV 2013) in Kraft. Diese lautet auszugsweise:
„§ 1 Geltungsbereich
Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer in deren derzeitigen Betriebsstätten im Geltungsbereich der Tarifverträge der kunststoffverarbeitenden Industrie im Kreis L.
§ 2 Beendigung bzw. Ruhen von Arbeitsverhältnissen
Mit Inkrafttreten dieser Betriebsvereinbarung gelten für alle Arbeitnehmer folgende Regelungen:
1.
Das Arbeitsverhältnis endet ohne Kündigung mit Ablauf des Monats, in dem der Arbeitnehmer die Altersgrenze für eine Regelaltersrente in der gesetzlichen Rentenversicherung (derzeit §§ 35, 235 SGB VI) ohne Abschläge erreicht hat und diese auch durch einen ihm zustehenden Anspruch beziehen kann, unabhängig davon, ob ein entsprechender Rentenantrag bereits gestellt wurde.
...
6.
Ausgenommen von vorstehenden Regelungen sind Arbeitnehmer, deren Weiterbeschäftigung über das Datum der Rentenbezugsberechtigung hinaus bereits vor Inkrafttreten dieser Betriebsvereinbarung vertraglich vereinbart ist.
7.
In den Fällen, in denen die Voraussetzungen in § 2 Ziff. 1 zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Betriebsvereinbarung bereits erfüllt sind, und die Ausnahmeregelung in Ziff. 6 nicht zutrifft, endet das Arbeitsverhältnis zum Ende des Folgemonats nach dem der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber über diese Betriebsvereinbarung und die Altersgrenze schriftlich informiert worden ist und aufgefordert worden ist, einen Rentenantrag zu stellen.“
Die Beklagte teilte dem Kläger Anfang September 2013 mit, dass sein Arbeitsverhältnis aufgrund der BV 2013 mit Ablauf des 31. Dezember 2013 enden werde.
Mit seiner der Beklagten am 9. Januar 2014 zugestellten Klage hat der Kläger geltend gemacht, sein Arbeitsverhältnis sei nicht durch die in der BV 2013 enthaltene Altergrenzenregelung beendet worden. Bei der Einstellung sei ein unbefristetes Arbeitsverhältnis begründet worden. Diese Abrede gehe als günstigere Absprache der BV 2013 vor. Die BV 2013 sei zudem mangels ordnungsgemäßer Beschlussfassung des Betriebsrats nicht wirksam zustande gekommen. Sie verstoße auch gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG und sei mit § 75 Abs. 1 BetrVG unvereinbar. Die Betriebsparteien hätten für rentennahe Arbeitnehmer eine Übergangsregelung treffen müssen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgrund der Betriebsvereinbarung vom 15. August 2013 zum 31. Dezember 2013 nicht beendet wurde, sondern über den 31. Dezember 2013 unbefristet fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der Befristung in der BV 2013 mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beendet wurde. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Begehren auf vollständige Abweisung der Klage weiter.
Aus den Gründen
9 Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgrund der Befristung in § 2 Nr. 1 BV 2013 mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beendet wurde.
10 I. Gegenstand der Revision ist nur noch der Befristungskontrollantrag des Klägers nach § 17 Satz 1 TzBfG. Der Senat hat daher nicht mehr darüber zu befinden, ob die arbeitsvertraglichen Beziehungen der Parteien hinsichtlich einer Altersgrenzenregelung betriebsvereinbarungsoffen gestaltet sind. Der Kläger hat gegen die seinen allgemeinen Feststellungsantrag nach § 256 Abs. 1 ZPO abweisende Entscheidung des Landesarbeitsgerichts weder Revision noch fristgerecht Anschlussrevision eingelegt.
11 1. Nach dem Klageantrag und dessen Begründung waren in den Vorinstanzen sowohl eine Befristungskontrollklage - gerichtet auf die Unwirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrags durch die BV 2013 - als auch eine auf den (Fort-)Bestand des Arbeitsverhältnisses gerichtete allgemeine Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO streitgegenständlich. Diese hat der Kläger darauf gestützt, sein Arbeitsverhältnis werde durch die Altersgrenzenregelung der BV 2013 deshalb nicht befristet, weil seine arbeitsvertraglichen Vereinbarungen günstiger und insoweit „betriebsvereinbarungsfest“ seien. Dieses weitere Rechtsschutzziel, dass der Kläger nicht mit einer Befristungskontrollklage, sondern nur im Wege einer allgemeinen Feststellungsklage verfolgen konnte (vgl. BAG 8. Dezember 2010 - 7 AZR 438/09 - Rn. 15 mwN, BAGE 136, 270), hat er mit seiner Antragsfassung in der Berufungsinstanz „sondern … unbefristet fortbesteht“ klargestellt.
12 2. Das Landesarbeitsgericht hat über beide prozessuale Ansprüche des Klägers entschieden. Es hat ausweislich der Entscheidungsgründe nicht lediglich der Befristungskontrollklage stattgegeben, sondern auch die allgemeine Feststellungsklage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat angenommen, es bestehe keine für den Kläger günstigere einzelvertragliche Abrede. Deshalb gelte die in der BV 2013 enthaltene Altersgrenzenregelung grundsätzlich auch für ihn. In seinem Urteilsausspruch hat es der Klage nur hinsichtlich des Befristungskontrollantrags entsprochen, nicht aber in Bezug auf das allgemeine Feststellungsbegehren, das auf den (Fort-)Bestand des Arbeitsverhältnisses gerichtet war. Da die Befristungskontrollklage unter der zulässigen innerprozessualen Bedingung des Scheiterns der allgemeinen Feststellungsklage stand (vgl. BAG 8. Dezember 2010 - 7 AZR 438/09 - Rn. 15, BAGE 136, 270), ist es unschädlich, dass das Landesarbeitsgericht die Abweisung der Klage im Übrigen im Tenor nicht ausdrücklich ausgesprochen hat.
13 II. Die Befristungskontrollklage ist begründet.
14 1. Die Befristung zum 31. Dezember 2013 gilt nicht nach § 17 Satz 2 TzBfG iVm. § 7 Halbs. 1 KSchG als wirksam. Der Kläger hat mit seiner der Beklagten am 9. Januar 2014 zugestellten Klage die Rechtsunwirksamkeit der Befristung innerhalb der Frist des § 17 Satz 1 TzBfG geltend gemacht.
15 2. Das Arbeitsverhältnis der Parteien hat nicht aufgrund der Befristung in § 2 Nr. 1 BV 2013 mit Ablauf des 31. Dezember 2013 geendet. Zwar erreichte der am 25. Oktober 1948 geborene Kläger die nach § 2 Nr. 1 BV 2013 maßgebende Regelaltersgrenze des § 235 Abs. 2 Satz 2 SGB VI am 25. Dezember 2013. Ihm stand daher nach § 235 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ein Anspruch auf eine abschlagsfreie Regelaltersrente ab dem 1. Januar 2014 zu. Die Vorschrift des § 2 Nr. 1 BV 2013 verstößt aber gegen den nach § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auch für die Betriebsparteien geltenden Grundsatz des Vertrauensschutzes und ist deshalb unwirksam. Ob die übrigen vom Kläger geltend gemachten Unwirksamkeitsgründe vorliegen, bedarf keiner Entscheidung.
16 a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Betriebsvereinbarungen eine auf das Regelrentenalter bezogene Altersgrenze bestimmen. Derartige Altersgrenzen in freiwilligen Betriebsvereinbarungen sind von der Regelungskompetenz der Betriebsparteien umfasst (grundlegend BAG GS 7. November 1989 - GS 3/85 - zu C I 2 der Gründe, BAGE 63, 211). Allerdings müssen sie die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG beachten und mit höherrangigem Recht vereinbar sein (§ 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist gerichtlich voll überprüfbar (BAG 13. Oktober 2015 - 1 AZR 853/13 - Rn. 13 mwN, BAGE 153, 46).
17 b) Nach § 75 Abs. 1 Satz 1 BetrVG haben Arbeitgeber und Betriebsrat darüber zu wachen, dass alle im Betrieb tätigen Personen nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden. Die Betriebsparteien sind beim Abschluss von Betriebsvereinbarungen gemäß § 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG zur Wahrung der grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte verpflichtet. Dazu gehört die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Arbeitnehmer (BAG 5. März 2013 - 1 AZR 417/12 - Rn. 26 mwN).
18 c) Im Bereich des arbeitsvertraglichen Bestandsschutzes ist im Interesse der durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit der Arbeitnehmer ein staatlicher Mindestschutz unverzichtbar. Das folgt aus der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte, die auch die Gerichte dazu anhält, den einzelnen Grundrechtsträger vor einer unangemessenen Beschränkung seiner Grundrechte zu bewahren. Bei der Befristung von Arbeitsverhältnissen schützen seit dem 1. Januar 2001 die Bestimmungen des TzBfG vor einer unangemessenen Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG. Von den zwingenden Regelungen in § 14 TzBfG kann nach § 22 Abs. 1 TzBfG nicht zuungunsten der Arbeitnehmer abgewichen werden. Demzufolge bedürfen Befristungsregelungen in Betriebsvereinbarungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrunds iSv. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG (vgl. BAG 8. Dezember 2010 - 7 AZR 438/09 - Rn. 29, BAGE 136, 270).
19 d) Eine Altersgrenzenregelung, die den Anforderungen des § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG genügt und damit - für sich genommen - die Berufsfreiheit des Arbeitnehmers in statthafter Weise beschränkt, kann gleichwohl gegen verfassungsrechtliche Vorgaben verstoßen, wenn sie mit dem Gebot des Vertrauensschutzes unvereinbar ist. Die Betriebsparteien sind ebenso wie der Gesetzgeber an dem grundrechtlich aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Gebot des Vertrauensschutzes gebunden (vgl. für Tarifvertragsparteien BAG 20. September 2016 - 3 AZR 273/15 - Rn. 34). Führen sie für die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer erstmals eine Altersgrenze ein, gebietet es der rechtsstaatliche Vertrauensschutz, auf die Interessen der bei Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung bereits rentennahen Arbeitnehmer Rücksicht zu nehmen (vgl. in diesem Sinne auch BVerfG 13. Juni 2006 - 1 BvL 9/00 - Rn. 105 f., BVerfGE 116, 96). Aufgrund ihrer Rentennähe profitiert diese Personengruppe von den mit der Einführung einer betrieblichen Altersgrenze üblicherweise verbundenen Vorteilen - Verbesserung der Aufstiegschancen durch das altersbedingte Ausscheiden anderer Arbeitnehmer - in der Regel nur eingeschränkt. Andererseits haben diese Arbeitnehmer typischerweise ein schutzwürdiges Bedürfnis, über eine angemessene Zeit zu verfügen, um sich auf eine veränderte rechtliche Lage einzustellen und ihre Lebensführung oder -planung gegebenenfalls an diese anzupassen. Diese besondere Situation erfordert für rentennahe Jahrgänge grundsätzlich Übergangsregelungen. Deren nähere Ausgestaltung unterliegt dem Gestaltungsspielraum der Betriebsparteien.
20 e) Danach verstößt die Regelung in § 2 Nr. 1 BV 2013 gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes.
21 aa) Die BV 2013 gilt nach ihrem § 1 für alle Arbeitnehmer der Beklagten in deren derzeitigen Betriebsstätten im Geltungsbereich der Tarifverträge der kunststoffverarbeitenden Industrie im Kreis L. Damit erfasst die Altersgrenzenregelung in § 2 Nr. 1 BV 2013 grundsätzlich auch solche Arbeitnehmer, die - wie der Kläger - bei Inkrafttreten der BV 2013 am 27. August 2013 nur noch kurze Zeit vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung und der damit verbundenen Möglichkeit zur Inanspruchnahme einer abschlagsfreien Regelaltersrente standen. Nach § 2 Nr. 6 BV 2013 sind lediglich solche Arbeitnehmer ausgenommen, deren Weiterbeschäftigung über das Datum der Rentenbezugsberechtigung hinaus bereits vor Inkrafttreten der BV 2013 vertraglich vereinbart wurde. In allen übrigen Fällen hat die Bestimmung in § 2 Nr. 1 BV 2013 zur Folge, dass auch die Arbeitsverhältnisse der bereits rentennahen Arbeitnehmer mit Erreichen der Regelaltersgrenze enden.
22 bb) Damit haben die Betriebsparteien den schutzwürdigen Belangen dieser Arbeitnehmergruppe nicht ausreichend Rechnung getragen. Die BV 2013 enthält keine Übergangsregelungen für rentennahe Jahrgänge. Weder haben die Betriebsparteien diesen Personenkreis näher bestimmt noch haben sie in § 2 Nr. 6 BV 2013 eine Regelung getroffen, die solche Arbeitnehmer schützt, die mit der Beklagten in Unkenntnis der bevorstehenden Einführung einer Altersgrenze keine Weiterbeschäftigungsvereinbarung geschlossen haben. Nichts anderes gilt für § 2 Nr. 7 BV 2013, der betroffenen Arbeitnehmern nur einen Verlängerungsmonat für die Rentenantragstellung gewährt. Anhaltspunkte, wonach Übergangsbestimmungen aufgrund der im Betrieb vorhandenen Umstände ausnahmsweise nicht erforderlich sein könnten, hat die Beklagte weder dargetan noch sind solche ersichtlich.
23 3. Der Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes führt zur Unwirksamkeit der gesamten Altersgrenzenregelung des § 2 Nr. 1 BV 2013. Selbst wenn diese Rechtsfolge auf rentennahe Arbeitnehmer beschränkt wäre, käme entgegen der Auffassung der Beklagten eine Lückenfüllung im Wege einer ergänzenden Auslegung der BV 2013 nicht in Betracht. Eine Lückenfüllung setzte - unterstellt es läge eine unbewusste Regelungslücke hinsichtlich der erforderlichen Übergangsregelung vor - eine von den Betriebsparteien angelegte zwingende Regelungsmöglichkeit voraus (vgl. BAG 10. März 2015 - 3 AZR 56/14 - Rn. 67 mwN). Daran fehlt es. Den Betriebsparteien hätten verschiedene rechtlich zulässige und interessengerechte Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, den Kreis der rentennahen Jahrgänge zu bestimmen und hierfür entsprechende Übergangsregelungen - etwa in Form individueller Verlängerungsmöglichkeiten, finanzieller Kompensationen oder dem Hinausschieben oder Absehen von der Einführung einer Altersgrenze für diese Personengruppe - vorzusehen.