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Arbeitsrecht
28.08.2024
Arbeitsrecht
BAG: Prozessvergleich – Anfechtung wegen arglistiger Täuschung – treuwidrige Herbeiführung des Bedingungseintritts – Störung der Geschäftsgrundlage

BAG, Urteil vom 20.6.2024 – 2 AZR 156/23

ECLI:DE:BAG:2024:200624.U.2AZR156.23.0

Volltext: BB-Online BBL2024-2036-4

Orientierungssätze

1. Der Streit über die Wirksamkeit eines zur Erledigung eines Kündigungsschutzverfahrens geschlossenen Prozessvergleichs ist sowohl unter dem Gesichtspunkt der Anfechtung als auch des Rücktritts im ursprünglichen Rechtsstreit auszutragen (Rn. 12).

2. Die Anwendung von § 166 Abs. 2 BGB setzt voraus, dass der Vertretene den Ver-treter im Rahmen der erteilten Vollmacht zur Vornahme eines bestimmten Rechtsakts (hier: zum Abschluss eines Abfindungsvergleichs) veranlasst. Dafür genügt es auch bei der gebotenen weiten Auslegung der Vorschrift nicht, dass der Vertretene den Abschluss des betreffenden Rechtsgeschäfts durch den Vertreter bloß für möglich erachtet (Rn. 17).

3. Bei der Prüfung von § 162 Abs. 2 BGB steht allein in Rede, ob die betreffende Partei wider Treu und Glauben den Eintritt des zur Bedingung erhobenen Ereignisses herbeigeführt hat; die Vorschrift sanktioniert allein den regelwidrigen Eingriff in den Geschehensablauf. Deshalb findet sie auf eine sog. Wollensbedingung als besonders starke Form der Potestativbedingung allenfalls in besonderen Ausnahmefällen Anwendung (Rn. 19).

4. § 323 Abs. 1 Alt. 1 BGB verlangt als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung die Durchsetzbarkeit der nicht erbrachten Leistung im Rücktrittszeitpunkt. Daran fehlt es regelmäßig aufgrund des sog. dolo-agit-Einwands aus § 242 BGB, wenn die den Rücktritt erklärende Vertragspartei Kenntnis von dem vom Rücktrittsgegner gestellten Insolvenzeröffnungsantrag hat und die Leistung, würde sie noch erfolgen, deshalb nach der Insolvenzeröffnung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO anfechtbar wäre (Rn. 20).

 

Amtlicher Leitsatz

Ein Prozessvergleich kann nur mit Erfolg nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB angefochten werden, wenn die arglistige Täuschung durch den Anfechtungsgegner für die Annahmeerklärung des Anfechtenden kausal geworden ist. Das ist nicht der Fall, wenn der Anfechtende im Zeitpunkt der vermeintlichen Täuschung dem Vergleich bereits unwiderruflich zugestimmt hatte.

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten vorrangig darüber, ob der Rechtsstreit durch einen Prozessvergleich beendet ist.

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der N GmbH & Co. KG. Die Klägerin war bei dieser beschäftigt. Mit Schreiben vom 27. Februar 2020 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 31. März 2020.

Dagegen hat sich die Klägerin mit der vorliegenden Klage gewandt. In der Güteverhandlung am 25. Mai 2020, in der für die Arbeitgeberin nur deren Prozessbevollmächtigte anwesend war, ist zur Erledigung des Rechtsstreits ein Vergleich geschlossen worden. Danach bestand Einigkeit, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung beendet worden sei. Für den Verlust des Arbeitsplatzes sollte die Klägerin eine Abfindung iHv. 9.500,00 Euro brutto erhalten. Von der allein der Arbeitgeberin vorbehaltenen Widerrufsmöglichkeit bis zum 2. Juni 2020 machte diese keinen Gebrauch.

Am 22. Juni 2020 beantragte die Arbeitgeberin die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Mit Schreiben vom 23. Juni 2020 forderte die Klägerin sie unter Vollstreckungsandrohung vergeblich zur Zahlung der Abfindung bis zum 26. Juni 2020 auf. Nachdem sie vom Insolvenzeröffnungsantrag erfahren hatte, erklärte die Klägerin mit einem am 3. Juli 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz die Anfechtung des Vergleichs wegen arglistiger Täuschung. Zugleich trat sie unter Bezugnahme auf § 313 BGB vom Vergleich zurück. Am 1. September 2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2020 nahm die Klägerin den Rechtsstreit auf.

Die Klägerin hat gemeint, der Vergleich sei unwirksam. Der Arbeitgeberin sei bei dessen Abschluss bekannt gewesen, dass sie die Abfindung nicht werde zahlen können.

Die Klägerin hat sinngemäß beantragt

festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch den gerichtlichen Vergleich vom 25. Mai 2020 beendet und das Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung vom 27. Februar 2020 noch durch andere Beendigungstatbestände aufgelöst worden ist.

Die Vorinstanzen haben angenommen, der Rechtsstreit sei durch den Vergleich erledigt. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

 

Aus den Gründen

8          Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

 

9          I. Das Berufungsurteil ist nicht deshalb aufzuheben, weil der Rechtsstreit aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Arbeitgeberin nach § 240 Satz 1 ZPO unterbrochen wäre. Die Klägerin hat ihn nach § 86 Abs. 1 Nr. 3 InsO wirksam gegen den nunmehr beklagten Insolvenzverwalter aufgenommen (vgl. BAG 25. Mai 2022 – 6 AZR 224/21 – Rn. 27, BAGE 178, 120).

 

10        II. Die Anträge der Klägerin sind zulässig.

 

11        1. Das Landesarbeitsgericht hat deren ersten Teil zutreffend nicht als eigenständigen Sachantrag verstanden. Ziel der Klägerin ist die Bescheidung ihrer Kündigungsschutzklage. Dafür ist als Vorfrage zu klären, ob der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt ist (vgl. BAG 24. September 2015 – 2 AZR 716/14 – Rn. 14, BAGE 153, 20; 11. Juli 2012 – 2 AZR 42/11 – Rn. 13).

 

12        2. Der Streit über die Beendigungswirkung des Vergleichs ist sowohl unter dem Gesichtspunkt der Anfechtung (vgl. BAG 11. Juli 2012 – 2 AZR 42/11 – Rn. 14) als auch des Rücktritts (vgl. BAG 24. September 2015 – 2 AZR 716/14 – Rn. 24 ff., BAGE 153, 20) im ursprünglichen Kündigungsrechtsstreit auszutragen.

 

13        III. Der Rechtsstreit ist durch den Vergleich erledigt. Das hat das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt.

 

14        1. Die den Rechtsstreit beendende Wirkung des Vergleichs sollte nach dessen Ziff. 5 nicht erst mit der (vollständigen) Zahlung der in Ziff. 2 vereinbarten Abfindung eintreten, sondern schon mit seiner Bestandskraft.

 

15        2. Die Klägerin hat ihre zum Vergleichsschluss führende Willenserklärung nicht wirksam nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB wegen einer arglistigen Täuschung angefochten. Dabei kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, dass die Arbeitgeberin bereits am 25. Mai 2020 (Güteverhandlung) oder doch am 2. Juni 2020 (Ablauf der Widerrufsfrist) wusste, dass sie die Abfindung nicht würde zahlen können. Gleichwohl lag nach Maßgabe von § 166 BGB keine der Arbeitgeberin zurechenbare, für die Annahmeerklärung der Klägerin kausale Täuschung durch Unterlassen vor.

 

16        a) Es ist nicht festgestellt, dass die in der Güteverhandlung allein für die Arbeitgeberin anwesende Prozessbevollmächtigte um deren wirtschaftliche Lage gewusst hätte (§ 166 Abs. 1 BGB).

 

17        b) Ein Fall von § 166 Abs. 2 BGB lag im Zeitpunkt des Vergleichsschlusses nicht vor. Das Landesarbeitsgericht hat keine Tatsachen festgestellt, die dafürsprechen könnten, die Arbeitgeberin habe ihre Anwältin im Rahmen der erteilten Prozessvollmacht zur Vornahme eines bestimmten Rechtsakts, nämlich hier zum Abschluss eines Abfindungsvergleichs, veranlasst (vgl. BGH 21. Juni 1968 – V ZR 32/65 – zu II 2 b der Gründe, BGHZ 50, 364). Dafür genügt es nicht, dass die Arbeitgeberin sie in einem Kündigungsschutzverfahren mit der Wahrnehmung einer Güteverhandlung beauftragt hat, in der die Gerichte für Arbeitssachen gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG regelmäßig einen Abfindungsvergleich vorschlagen. Selbst wenn die Arbeitgeberin – was ebenfalls nicht festgestellt ist – um diese Vorgabe und Praxis gewusst haben sollte, hätte sie doch einen Vergleichsschluss bloß für möglich gehalten. Dies reicht nach – soweit ersichtlich – einhelliger Auffassung auch bei der gebotenen weiten Auslegung von § 166 Abs. 2 BGB nicht aus (Erman/Finkenauer BGB 17. Aufl. § 166 Rn. 38; MüKoBGB/Schubert 9. Aufl. § 166 Rn. 126; Staudinger/Schilken [2019] BGB § 166 Rn. 34).

 

18        c) Zwar gelangt § 166 Abs. 2 BGB auch zur Anwendung, wenn der Vertretene (hier: die Arbeitgeberin) es unterlässt, den betreffenden Geschäftsabschluss durch den Bevollmächtigten (hier: die Anwältin der Arbeitgeberin) zu unterbinden, obwohl er die Möglichkeit dazu hätte. Das könnte den Fall einschließen, dass der Geschäftsherr einen in seiner Abwesenheit für ihn widerruflich geschlossenen Vergleich nicht widerruft. Doch wäre eine Täuschung durch Unterlassen iSv. § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB zu dieser Zeit für die – ggf. anfechtbare – Annahmeerklärung der Klägerin nicht mehr kausal geworden. Diese hatte dem Vergleich bereits in der Güteverhandlung am 25. Mai 2020 „stehend“ zugestimmt, ohne dass seinerzeit eine der Arbeitgeberin zurechenbare Täuschung durch Unterlassen vorgelegen hätte.

 

19        3. Die Klägerin wäre selbst dann nicht nach § 162 Abs. 2 BGB so zu stellen, als habe die Arbeitgeberin den Widerruf des Vergleichs erklärt und damit die aufschiebende Bedingung von dessen Rechtswirkungen (vgl. BAG 13. Juni 2007 – 7 AZR 287/06 – Rn. 13) nicht eintreten lassen, wenn diese spätestens am 2. Juni 2020 (Ablauf der Widerrufsfrist) um ihre (drohende) Zahlungsunfähigkeit gewusst haben sollte. Im Rahmen von § 162 Abs. 2 BGB geht es – anders als bei § 123 BGB – nicht darum, die Entschließungsfreiheit der anderen Partei zu sichern. Vielmehr ist insoweit allein maßgeblich, ob die betreffende Partei wider Treu und Glauben den Eintritt des zur Bedingung erhobenen Ereignisses herbeigeführt hat; die Vorschrift sanktioniert allein den regelwidrigen Eingriff in den Geschehensablauf (vgl. BGH 16. September 2005 – V ZR 244/04 – zu II 2 b dd der Gründe). Ein solcher ist hier nicht erfolgt. In Ziff. 6 des Vergleichs ist inzident das freie Belieben der Arbeitgeberin zur Bedingung gemacht worden (sog. Wollensbedingung als besonders starke Form der Potestativbedingung; vgl. BGH 25. September 1996 – VIII ZR 172/95 – zu II 2 c aa der Gründe), ohne dass sie durch Treuegesichtspunkte gegenüber der Klägerin in der Ausübung des Widerrufsrechts eingeschränkt sein sollte (vgl. BeckOGK/Reymann Stand 1. Juni 2024 BGB § 162 Rn. 10).

 

20        4. Der Rücktritt der Klägerin vom Vergleich ist nicht nach § 323 Abs. 1 Alt. 1 BGB wirksam. Das hätte als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung erfordert, dass die Abfindungsforderung im Rücktrittszeitpunkt noch durchsetzbar war (vgl. BAG 11. Juli 2012 – 2 AZR 42/11 – Rn. 36; 10. November 2011 – 6 AZR 342/10 – Rn. 31). Dies war jedenfalls aufgrund des dolo-agit-Einwands aus § 242 BGB nicht der Fall. Die Klägerin wusste bei Erklärung des Rücktritts um den Insolvenzeröffnungsantrag. Hätte die Arbeitgeberin die Abfindung zu diesem Zeitpunkt gezahlt, wäre diese Rechtshandlung nach der Insolvenzeröffnung gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO anfechtbar und die Klägerin zur Rückzahlung verpflichtet gewesen. Diese hat keine besonderen Umstände aufgezeigt, aufgrund derer nicht mit der – letztlich erfolgten – Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu rechnen war (vgl. BAG 10. November 2011 – 6 AZR 357/10 – Rn. 25, BAGE 139, 376). Sie ist im Gegenteil von der Nichtdurchsetzbarkeit der Abfindungsforderung mit dem Insolvenzeröffnungsantrag ausgegangen. Nachdem sie Kenntnis vom Insolvenzeröffnungsantrag erlangt hatte, hat sie von einer zuvor angedrohten Vollstreckung abgesehen und den Rücktritt vom Vergleich nicht auf § 323 BGB, sondern auf § 313 BGB gestützt.

 

21        5. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Klägerin habe nicht nach § 326 Abs. 5 oder § 313 Abs. 3 Satz 1 BGB wirksam von dem Prozessvergleich zurücktreten können, hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Die Pflicht der Arbeitgeberin zur Zahlung der Abfindung war nicht iSv. § 326 Abs. 5, § 275 BGB ausgeschlossen (vgl. BAG 11. Juli 2012 – 2 AZR 42/11 – Rn. 39). Nach den Regelungen des Vergleichs hatte die gleichsam in Vorleistung gegangene Klägerin das Risiko einer Insolvenz der Arbeitgeberin zu tragen. Damit war schon tatbestandlich die Anwendung von § 313 BGB ausgeschlossen (vgl. BAG 24. Mai 2023 – 7 AZR 169/22 – Rn. 36; BGH 12. Januar 2022 – XII ZR 8/21 – Rn. 49, BGHZ 232, 178; 23. Oktober 2019 – XII ZR 125/18 – Rn. 37, BGHZ 223, 290).

 

22        IV. Die Klägerin hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

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