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Arbeitsrecht
07.04.2016
Arbeitsrecht
LAG Berlin-Brandenburg: Prognose der zukünftigen beanstandungslosen Zusammenarbeit

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.1.2016 – 4 Sa 1076/15

Volltext: BB-ONLINE BBL2016-884-7

unter www.betriebs-berater.de

Amtliche Leitsätze

1. Es spricht vieles dafür, bei der im Kündigungsrechtsstreit zu beurteilenden Frage, ob die Annahme des Arbeitgebers, die zukünftige beanstandungslose Zusammenarbeit könne nicht bereits durch Ausspruch einer Abmahnung gesichert werden, objektiv unzutreffend war, auch das Verhalten des Arbeitnehmers nach Ausspruch der Kündigung zB. im gerichtlichen Verfahren zur Objektivierung der bei Kündigungsausspruch gestellten Prognose zu berücksichtigen (entgegen BAG 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - BAGE 134, 349.)

2. Das Verhalten im Prozess und das sonstige Verhalten nach Ausspruch der Kündigung können insoweit klare Anhaltspunkte geben, ob die vor Ausspruch der Kündigung angestellte Prognose, dass die zukünftige beanstandungslose Zusammenarbeit nicht bereits durch Ausspruch einer Abmahnung gesichert werden kann, objektiv unzutreffend war.

Macht der Arbeitnehmer nach Ausspruch der Kündigung durch sein tatsächliches Verhalten deutlich, dass er das ursprüngliche Fehlverhalten auf keinen Fall wiederholen werde, so kann sich nach Auffassung der Kammer auch hieraus ein Anhaltspunkt ergeben, dass die vor Ausspruch der Kündigung erstellte Prognose, eine zukünftige Zusammenarbeit sei nicht mehr möglich, objektiv falsch war.

3. Macht der Arbeitnehmer dagegen auch nach Ausspruch der Kündigung ggf. auch im Kündigungsschutzprozess deutlich, dass er sein Verhalten nicht als gravierend ansehe, spricht dies eher dafür, dass die Prognose vor Ausspruch der Kündigung, der Arbeitnehmer werde sein Verhalten auch in Zukunft nicht anpassen, objektiv zutreffend war.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen, hilfsweise außerordentlichen fristgemäßen verhaltensbedingten Kündigung.

Der zum Kündigungszeitpunkt 55 Jahre alte, ledige Kläger war seit dem 11.05.1979 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern beschäftigt. Er kann nach § 39 Abs. 2 TV-Charité nur aus einem wichtigen Grund gekündigt werden.

Die Beklagte wirft dem Kläger drei Vorfälle in Bezug auf dessen Kollegin Frau Sch. vor, deren genaue Abläufe zwischen den Parteien streitig sind.

Am 15.12.2014 informierte die stellvertretende Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Beklagten die zuständige Sachbearbeiterin und die zuständige Teamleitung im Geschäftsbereich Personal über einen Vorfall am 10.12.2014, an dem der Kläger und Frau Sch. beteiligt waren. Am 19.12.2014 kam es zu einem Personalgespräch. Hinsichtlich des genauen Inhalts des Personalgesprächs wird auf das eingereichte Protokoll (Bl. 45 - 47 d.A.) verwiesen.

Mit Schreiben vom 19.12.2014 wandte sich die Beklagte an den Personalrat zwecks Ausspruchs einer außerordentlichen fristlosen Kündigung und hilfsweise außerordentlichen Kündigung zum 30.06.2015, höchsthilfsweise für eine Kündigung zum nächstmöglichen Termin. Der Personalrat stimmte dem Antrag am 23.12.2014 zu (Bl. 49 d.A.).

Mit einem dem Kläger am 23.12.2014 zugegangenem Schreiben kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers.

Der Kläger hat behauptet, der Vorfall am 10.12.2014 habe sich wie folgt zugetragen: Er habe die Kollegin Frau Sch., die in der Teeküche das Geschirr vom Mittagessen abspülte, getroffen. Er habe mit Frau Sch. scherzhaft rumgealbert. Es habe sich um eine scherzhafte, lockere Unterhaltung unter Kollegen gehandelt. Im Verlauf dieser Unterhaltung habe er Frau Sch. von hinten mit der flachen linken Hand am Kopf angefasst und diesen dreimal leicht nach vorne in Richtung zum Spülbecken gedrückt. Dies alles im Rahmen eines normalen kollegialen freundlichen Umgangs. Es habe sich nicht um einen Schlag, sondern eher um ein Anfassen mit Drücken gehandelt. Im Ergebnis habe sich der Kopf leicht nach vorne geneigt, ohne dass hierbei irgendwie die Haltung des Oberkörpers sich verändert habe. Die Berührung durch den Kläger sei daher geringfügig gewesen. Frau Sch. habe weder verbal noch in sonstiger Weise ihr deutliches Missfallen über die Berührung geäußert. Auf dem Rückweg von der Teeküche sei der Kläger erneut Frau Sch. begegnet. Es habe erneut einen lustigen, scherzhaften Wortwechsel gegeben. Im Verlauf dieses Wortwechsels habe der Kläger Frau Sch. einige Sekunden lang leicht an den Handgelenken festgehalten. Dies sei aber im Rahmen der Unterhaltung ebenfalls scherzhaft gemeint. Frau Sch. habe sich nicht dahingehend geäußert, dass sie Schmerzen gespürt habe. In dem Verhalten des Klägers sei keine Körperverletzung oder eine körperliche Misshandlung zu sehen. Es habe zu keinem Zeitpunkt ein pathologischer Zustand der Frau Sch. vorgelegen. Frau Sch. habe nicht deutlich gemacht, dass sie bestimmte Verhaltensweisen des Klägers ihr gegenüber künftig nicht mehr wünsche.

Im Hinblick auf die lange Beschäftigungszeit des Klägers, das Fehlen der Abmahnung überhaupt und schon gar nicht einschlägiger Abmahnungen, sei das Verhalten des Klägers allenfalls abmahnungs-, jedoch nicht kündigungswürdig.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten durch die Kündigungen vom 23.12.2014 nicht beendet worden ist, sondern fortbesteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, der Kläger habe am 10.12.2014 die Mitarbeiterin Frau Sch. in der Spülküche beim Abwaschen unvermittelt und ohne Vorwarnung dreimal kurz aber kräftig in Richtung Spülbecken gedrückt. Als Frau Sch. sich habe wehren wollen, habe der Kläger deren Handgelenke festgehalten und fest zugedrückt. Als  Frau Sch. versucht habe, sich aus dem Griff zu lösen, habe der Kläger noch fester zugedrückt mit den Worten „Na, was willst du denn? Hmh, was willst du denn?“. Durch den festen Druck sei die Zeugin Sch. in die Knie gegangen und habe vor Schmerz laut aufgeschrien. Die Mitarbeiterin Frau Schu. habe die Stimmen der beiden Beteiligten identifiziert, den Aufschrei der Zeugin Sch. gehört und die geröteten Handgelenke anschließend in Augenschein nehmen können. Einige Wochen zuvor, Ende November 2014, habe der Kläger im Beisein der Zeugin Frau H. Frau Sch. mit den Fingerknöcheln drei „Kopfnüsse“ auf den Hinterkopf gegeben, diese habe daraufhin geäußert „Aua, du hast mir eine Kopfnuss gegeben“. Die Zeugin Frau H. habe sich daraufhin umgedreht und gesehen, wie der Kläger die Handgelenke der Frau Sch. fest zusammendrückte. Im Frühsommer 2014 habe der Kläger das Büro der Kolleginnen Sch. und G. betreten. Die Zeugin Sch. sei im Begriff gewesen, einen Tee zu brühen und habe am Kläger vorbei gemusst. In diesem Moment habe der Kläger im Beisein der Zeugin G. zur Zeugin Sch. wörtlich gesagt: „Pass mal auf, dass Dein Bauch nicht dicker wird als Deine Möpse“. Von allen drei Vorfällen habe der Geschäftsbereich Personal der Beklagten vor dem 15.12.2014 keine Kenntnis gehabt

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 06.05.2015 abgewiesen. Ein außerordentlicher Kündigungsgrund liege schon nach eigenem Vorbringen des Klägers vor. Der Kläger habe sich der Kollegin Sch. tätlich und demütigend wiederholt genähert. Dieses Nicht-Gewünscht-Sein der körperlichen Berührungen der Frau Sch. war offensichtlich und zwar auch dann, wenn man zwischen dem Kläger und der Zeugin Sch. einen scherzhaften Umgangston als üblich unterstellen wolle.

Gegen das ihm am 29.05.2015 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat der Kläger mit beim Landesarbeitsgericht am 25.06.2015 eingegangen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit beim Landesarbeitsgericht am 27.07.2015 eingegangene Schriftsatz begründet.

Der Kläger verweist unter Bezugnahme auf ein strafgerichtliches Urteil darauf, dass er nach seiner Auffassung keine Körperverletzung begangen habe, sondern sein Verhalten unterhalb der Bagatellgrenze gelegen habe. Entgegen den Ausführungen des Arbeitsgerichts habe er sich der Zeugin Sch. nicht tätlich und demütigend wiederholt genähert. Diese Begrifflichkeit passe so gar nicht zu dem ersichtlich scherzhaft gemeinten Ablauf der Geschehnisse. Die Scherzhaftigkeit sei von der Zeugin auch verstanden worden, auch wenn es ihr „dann im Verlauf zu viel geworden sein mag“. Körperliche Berührungen unter Kollegen stellten auch keinen Tabubereich dar. Das Festhalten der Handgelenke der Zeugin habe allein darauf beruht, dass die Zeugin dem Kläger nach dem Drücken gegen den Hinterkopf eine Ohrfeige habe geben wollen. Eine Ohrfeige lasse man sich aber nicht freiwillig geben. Angesichts des scherzhaften Ablaufs sei dem Kläger auch gar nicht bewusst gewesen eine Tätlichkeit, wie ihm das Arbeitsgericht unterstelle, begangen zu haben. Insoweit sei eine Abmahnung nicht entbehrlich, sondern vielmehr erfolgsversprechend gewesen. Es handele sich um einen eher kleineren Vorwurf gegenüber einem langjährigen Arbeitnehmer, der nicht ohne weiteres eine fristlose Kündigung rechtfertigen könne. Eine fristlose Kündigung komme grundsätzlich nur bei einer Körperverletzung von erheblichem Gewicht in Betracht.

Der Kläger und Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 06.05.2015 abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten durch die Kündigung vom 23.12.2014 nicht beendet worden ist, sondern fortbesteht.

Die Beklagte und Berufungsbeklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bestreitet, dass der Kläger im Scherz gehandelt habe; vor allem aber habe die Zeugin Sch. sich nicht in scherzhafter Weise beteiligt. Der Behauptung des Klägers stehe schon entgegen, dass er selbst vortrage, die Zeugin habe ihn als Reaktion auf das Drücken ihres Kopfes in Richtung Spülbecken ohrfeigen wollen. Eine Abmahnung sei bei dem Verhalten des Klägers entbehrlich gewesen. Der Kläger habe sich auch im Personalgespräch am 19.12.2014 äußerst uneinsichtig gezeigt. Auch die Argumentation des Klägers im gerichtlichen Verfahren zeige, dass er sein Fehlverhalten gar nicht einsehe, sondern von einem „normalen Umgang“ mit einer Kollegin ausgehe.

Das Berufungsgericht hat aufgrund Beweisbeschlusses vom 16.12.2015 über die Behauptung der Beklagten, der Kläger habe am 10.12.2014 der in der Spülküche stehenden Zeugin Sch. unvermittelt und ohne Vorwarnung 3 mal kurz aber kräftig den Kopf nach vorne in Richtung des Spülbeckens gedrückt und als sich die Zeugin habe wehren wollen, diese an den Handgelenken gepackt und fest zugedrückt und als die Zeugin versucht habe, sich aus dem Griff zu lösen mit den Worten „Na, was willst du denn? Hmm, was willst du denn? noch fester zugedrückt, so dass die Zeugin in die Knie gegangen sei und vor Schmerz laut aufgeschrien habe, Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin Sch. und der Zeugin Schuhmann. Hinsichtlich des  genauen Wortlauts des Beweisbeschlusses wird auf Bl. 123 d. A. verwiesen. Hinsichtlich des Inhalts der Beweiserhebung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2016 (Bl. 126 – 129 d. A.) verwiesen.

Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.

Aus den Gründen

A.         Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 ArbGG, 511 ZPO statthafte Berufung des Klägers ist formgerecht und fristgemäß im Sinne von § 64 Abs. 6, § 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO eingelegt und begründet worden. Die Berufung ist daher zulässig.

B.         Die Berufung ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 23.12.2014 aufgelöst worden. Die Kündigung ist wirksam.

I.          Die Kündigung ist unter Anlegung der Maßstäbe des § 626 BGB gerechtfertigt.

1.         Gemäß § 626 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (st. Rechtsprechung vgl. ua. BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 - EzA § 626 BGB 2002 Nr. 47 mwN).

a.         Das Verhalten des Klägers am 10.12.2014 war an sich als wichtiger Grund geeignet.

aa.       Tätlichkeiten unter Arbeitnehmern sind grundsätzlich geeignet, einen wichtigen Grund zur Kündigung zu bilden. Der tätliche Angriff auf einen Arbeitskollegen ist eine schwerwiegende Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflichten. Der Arbeitgeber ist nicht nur allen Arbeitnehmern verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sie keinen Tätlichkeiten ausgesetzt sind, sondern hat auch ein eigenes Interesse daran, dass die betriebliche Zusammenarbeit nicht durch tätliche Auseinandersetzungen beeinträchtigt wird (BAG 18.09.2008 -  2 AZR 1039/06 - EzTöD 100 § 34 Abs. 2 TVöD-AT Verhaltensdingte Kündigung Nr. 13; BAG 31. März 1993 - 2 AZR 492/92 - BAGE 73, 42, 52; BAG 12. Juli 1984 - 2 AZR 320/83 - AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 32 = EzA BetrVG 1972 § 102 Nr. 57).

bb.       Nach dem Ergebnis der Beweiserhebung stand für die Kammer fest, dass der Kläger eine Tätlichkeit gegenüber der Mitarbeiterin der Beklagten Frau Sch. begangen hat. Die Zeugin hat die Geschehnisse am 10.12.2014 glaubhaft und nachvollziehbar geschildert. Danach hat der Kläger die Zeugin fest an den Handgelenken gepackt und sie an diesen in die Knie gedrückt. Dies war nach Bekunden der Zeugin sehr schmerzhaft. Der Kläger hat von der Zeugin erst abgelassen als sie laut geschrien hat. Das Verhalten des Klägers lag entgegen seiner Auffassung auch nicht unterhalb der Bagatellgrenze für die Annahme einer Tätlichkeit. Unabhängig davon, dass es auf die strafrechtliche Bewertung für die Annahme einer Vertragspflichtverletzung nicht ankommt, ist auch die Einschätzung des Klägers, es handele sich um eine Bagatelle, für die Kammer schwer nachvollziehbar.  Das Verhalten des Klägers ist auch nicht dadurch entschuldigt, dass Ausgangspunkt des Festhaltens der Handgelenke war, dass die Zeugin ihrerseits den Kläger hinterhergelaufen war und ihn schlagen bzw. schupsen wollte. Dies beruhte allein auf der vorherigen ungewollten körperlichen Attacke des Klägers gegen die Zeugin am Spülbecken. Auch wenn man dem Kläger zugesteht, dass er durch das Festhalten der Handgelenke einen – von ihm provozierten – Angriff der Zeugin abwehren wollte, hätte es gereicht, die Handgelenke festzuhalten. Die Zeugin mit Gewalt in die Knie zu zwingen war keinesfalls gerechtfertigt. Die Zeugin war auch glaubwürdig. Die Kammer hatte keine Anhaltspunkte, dass die Zeugin den Kläger zu Unrecht beschuldigt und die Vorgänge übertrieben geschildert hätte. Zwar war die Zeugin schon vorher verbalen und körperlichen Ausfällen des Klägers gegen sich ausgesetzt, daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass sie den konkreten Vorfall zum Anlass genommen hätte, den Kläger zu Unrecht zu beschuldigen. Dies wird auch durch die Aussage der Zeugin Schuhmann bestärkt. Dies hatte glaubhaft bekundet, dass die Zeugin Sch. nach dem Vorfall am 10.12.2014 völlig aufgelöst und zittrig war und dass an ihren Händen kleinere Druckspuren und Rötungen sichtbar waren.

b.         Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses war der Beklagten unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls auch nicht bis zum Ablauf der – vorliegend im Hinblick auf die tarifliche ordentliche Unkündbarkeit fiktiven - ordentlichen Kündigungsfrist  zumutbar.

aa.       Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 651/13 - EzA § 626 BGB 2002 Nr. 47 mwN).

bb.       Bei einer Gesamtabwägung der Interessen der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Klägers an dessen Fortbestand ergibt sich ein Überwiegen der Interessen der Beklagten.

(1)        Der Kläger hat eine Kollegin körperlich attackiert. Dabei handelte es sich keinesfalls um eine Bagatelle, wie der Kläger auch im Hinblick auf den durch die Beweiserhebung ermittelten Sachverhalt meint, sondern um ein gravierendes Fehlverhalten. Der Kläger hat die Zeugin nicht nur körperlich angegriffen, sondern die ihm physisch unterlegene Zeugin nachdem er sie in die Knie gezwungen hat, auch noch von oben herab grinsend mit den Worten „Na, was willst du denn?“ angesprochen. Diese Ausübung der physischen Machtposition hat die Zeugin nachvollziehbar als zusätzlich demütigend empfunden. Soweit der Kläger sein Verhalten als scherzhaft einstuft, war dies für die Kammer nicht nachvollziehbar. Dass die Zeugin das Verhalten des Klägers nicht als scherzhaften Umgang unter Kollegen empfunden haben kann, musste selbst für einen Menschen mit einem „robusten“ Sozialempfinden sofort ersichtlich sein. Hinzu kommt, dass es sich nicht nur um ein einmaliges Fehlverhalten des Klägers handelte. Die Zeugin hat vielmehr glaubhaft bekundet, dass der Kläger ihr bereits zuvor eine Kopfnuss verabreicht hatte, ihr nach dem Essen gehen „Friss nicht so viel, du wirst immer fetter“ gesagt hatte sowie ihr gegenüber mit einem gleichzeitigen Pickser in den Bauch geäußert hatte „Pass mal auf, dass dein Bauch nicht dicker wird als deine Möpse.“ Auch dieses Verhalten des Klägers wurde von der Zeugin für den Kläger erkennbar nicht als scherzhaft empfunden. Vielmehr hat die Zeugin sich jeweils das Verhalten Worten wie „Lass denn Scheiß“ oder „Hör´ endlich auf damit“ verbeten.

(2)        Auch eine Abmahnung war im konkreten Fall nicht mehr erforderlich. Die Hinnahme eines körperlichen Übergriffs wie den durch die Beweiserhebung bestätigten gegenüber einer Mitarbeiterin ist für die Beklagte offensichtlich - auch für den Kläger erkennbar – ausgeschlossen. Des Weiteren hat der Kläger bereits vor Ausspruch der Kündigung – wie in dem dokumentierten Personalgespräch deutlich wurde – keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er sein Verhalten allein aufgrund einer Abmahnung ändern werde. Obwohl er in dem Personalgespräch darauf hingewiesen wurde, dass sein Verhalten eine schwerwiegende Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht sei, hat er selbst sein Verhalten lediglich als „wohl etwas übertrieben“ bezeichnet. Eine wirkliche Einsicht in sein Fehlverhalten hat der Kläger vor Ausspruch der Kündigung nicht gezeigt. Insoweit liegt ein wesentlich anderer Sachverhalt als in der Entscheidung des BAG vom  20.11.2014 (– 2 AZR 651/13 - EzA § 626 BGB 2002 Nr. 47) vor.

(3)        Ob darüber hinaus das Verhalten des Klägers auch nach Ausspruch der Kündigung zB. im gerichtlichen Verfahren berücksichtigt werden kann, kann offenbleiben. Nach Auffassung des BAG ist ein Verhalten des Arbeitnehmers im gerichtlichen Verfahren nicht mehr berücksichtigungsfähig (vgl. BAG 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - BAGE 134, 349). Diese Auffassung unterliegt erblichen Zweifeln, weil im Kündigungsschutzprozess gerade die Zumutbarkeit der zukünftigen Zusammenarbeit zu beurteilen ist. Das Verhalten im Prozess und das sonstige Verhalten nach Ausspruch der Kündigung können aber insoweit klare Anhaltspunkte geben, ob die vor Ausspruch der Kündigung angestellte Prognose, dass die zukünftige beanstandungslose Zusammenarbeit nicht bereits durch Ausspruch einer Abmahnung gesichert werden kann, objektiv unzutreffend war. Macht der Arbeitnehmer nach Ausspruch der Kündigung durch sein tatsächliches Verhalten deutlich, dass er das ursprüngliche Fehlverhalten auf keinen Fall wiederholen werde (vgl. den der Entscheidung des BAG vom  20.11.2014 – 2 AZR 651/13 - EzA § 626 BGB 2002 Nr. 47 zugrundeliegenden Sachverhalt, in dem der Kläger sowohl ein Entschuldigungsschreiben an die betroffene Frau schickte und mit ihr unter Zahlung eines Schmerzensgelds einen Täter-Opfer-Ausgleich herbeiführte), so kann sich nach Auffassung der Kammer auch hieraus ein Anhaltspunkt ergeben, dass die vor Ausspruch der Kündigung erstellte Prognose, eine Zusammenarbeit sei nicht mehr möglich, objektiv falsch war. Macht der Arbeitnehmer dagegen auch nach Ausspruch der Kündigung ggf. auch im Kündigungsschutzprozess deutlich, dass er sein Verhalten nicht als gravierend ansehe, spricht dies eher dafür, dass die Prognose vor Ausspruch der Kündigung, der Arbeitnehmer werde sein Verhalten auch in Zukunft nicht anpassen, objektiv zutreffend war.

            Die Frage kann aber letztlich offenbleiben. Bereits bei einer reinen Betrachtung des Verhaltens des Klägers vor Ausspruch der Kündigung unter völliger Ausblendung des späteren Verhaltens des Klägers ergab sich wie oben dargelegt, dass eine Abmahnung vorliegend entbehrlich war.

(4)        Zugunsten des Klägers hat die Kammer auch seine langjährige Betriebszugehörigkeit sowie seine angesichts seines Lebensalters schlechten Arbeitsmarktchancen berücksichtigt. Diese überwiegen allerdings nicht das Interesse der Beklagten daran, andere Mitarbeiter vor verbalen und körperlichen Übergriffen zu schützen. Ob der Beklagten im konkreten Fall eine entsprechende Schutzpflicht auch als gesetzliche Pflicht nach § 12 Abs. 3 AGG oblag oder ob diese Pflicht gegenüber der Zeugin aufgrund der arbeitgeberischen Fürsorgepflicht allein als Vertragspflicht bestand, ist unerheblich. Die Beklagte hat ein starkes Eigeninteresse, ihre Mitarbeiter vor Übergriffen zu schützen. Dieses Interesse machte der Beklagten eine Weiterbeschäftigung des Klägers auch nur zum Ablauf der (fiktiven) ordentlichen Kündigungsfrist unmöglich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kläger aufgrund der tariflichen Kündigungsfrist des § 39 Abs. 1 TV-Charité noch bis zum 30.06.2015 im Betrieb verblieben wäre. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Vorfall am 10.12.2014 nicht um eine einmalige Entgleisung handelte, sondern der Kläger bereits zuvor gegenüber der Zeugin verbal und körperlich übergriffig geworden ist.

2.         Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB ist eingehalten worden.

II.         Der Personalrat ist – wie bereits das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat - ordnungsgemäß beteiligt worden. Dies zieht der Kläger zweitinstanzlich auch nicht mehr in Zweifel.

C.         Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Danach hat der Kläger die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.

D.        Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor. Die Kammer hat bei der Entscheidung die höchstrichterliche Rechtsprechung zugrunde gelegt. Dabei waren allein Umstände des Einzelfalls entscheidend.

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