LAG Schleswig-Holstein: Patientenpizza - keine fristlose Kündigung
LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.9.2010 - 3 Sa 233/10
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit dem Vorwurf, der Kläger habe Gulasch und eine Ecke eines Stückes Pizza jeweils aus Patientenverpflegung gegessen.
Der Kläger ist 1954 geboren und seit Februar 1991 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Krankenpflegehelfer beschäftigt. Er ist verheiratet und zwei Kindern, einem Pflegekind sowie seiner Ehefrau gegenüber unterhaltspflichtig. Die Ehefrau ist schwersterkrankt und zu 100 % schwerbehindert. Die durchschnittliche monatliche Vergütung des Klägers belief sich zuletzt auf 2.700,-- EUR brutto. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Tarifverträgen für den öffentlichen Dienst. Der Kläger ist ordentlich unkündbar.
Abgemahnt wurde der Kläger in dem mehr als 19 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnis bisher nicht.
Veranlasst durch Mitteilungen eines Arbeitskollegen des Klägers wirft die Beklagte dem Kläger letztendlich jetzt noch vor, der Kläger habe am 19.11.2009 von übrig gebliebenem, zurückgestelltem Patientengulasch gegessen; Patienten geduzt und mit Ausdrücken wie „Dummbatz" und „Schwachmaten" beschimpft sowie am 13.11.2009 eine Ecke von einem Stück Pizza, das aus Lebensmitteln der Patienten gemacht worden war, abgerissen und gegessen zu haben. Der Kläger wurde mehrfach angehört. Er hat die erhobenen Vorwürfe stets bestritten. Nach durchgeführter Betriebsratsanhörung kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 09.02.2010 das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos.
Der hiergegen am 22.02.2010 eingegangenen Kündigungsschutzklage hat das Arbeitsgericht stattgegeben. Dabei hat es dahingestellt sein lassen, ob die behaupteten streitigen Pflichtverletzungen erfolgt sind. Die außerordentliche Kündigung wurde vielmehr unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten für unwirksam erklärt und ggf. eine Abmahnung für ausreichend gehalten. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Tatbestand, Anträge und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Lübeck vom 11.05.2010, Aktenzeichen 3 Ca 464/10, verwiesen.
Gegen diese der Beklagten am 29.05.2010 zugestellte Entscheidung hat sie am 04.06.2010 Berufung eingelegt, die mit am 14.06.2010 eingegangenem Schriftsatz begründet wurde.
Die Beklagte behauptet, der Kläger habe Patienten gehörendes Gulasch und Patienten gehörende Pizza gegessen; sich insoweit „selbst bedient" und damit Vermögensdelikte zu Lasten der Patienten begangen. Es handele sich um einen massiven Vertrauensbruch. Der Kläger habe gezeigt, dass er keinerlei Respekt vor den Rechtsgütern anderer habe. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang auch, dass sein Fehlverhalten gerade zu Lasten anvertrauter hilfsbedürftiger und pflegebedürftiger Personen gegangen sei. Er habe deren besondere Schutzwürdigkeit ausgenutzt. Verschärfend falle ins Gewicht, dass dieses Verhalten Auswirkungen auf die Therapierbarkeit der Patienten habe, bei denen es sich ausnahmslos um Straftäter handelt. Der Kläger habe beharrlich, nämlich mindestens zweimal, ein gleichgelagertes Fehlverhalten an den Tag gelegt und sei kaltblütig vorgegangen, da er trotz des Hinweises eines Kollegen sein Fehlverhalten fortgesetzt und wiederholt habe. Es müsse ferner berücksichtigt werden, dass der Kläger ihm anvertraute Schutzbefohlene mit Bezeichnungen wie „Schwachmat", „du Toss", und „Dummbatz" belegt habe. Vor diesem Hintergrund habe eine ungestörte Beschäftigungszeit nicht vorgelegen. Vielmehr ergebe sich hieraus ein pflichtwidriges Vorverhalten, so dass eine Abmahnung nicht erforderlich sei. Angesichts dessen könnten dem Lebensalter, der Dauer der Betriebszugehörigkeit und den Unterhaltspflichten im Rahmen der Interessenabwägung kein großes Gewicht beigemessen werden. Im Übrigen würde Pflegepersonal auf dem Arbeitsmarkt gesucht, so dass das Lebensalter des Klägers mit 56 Jahren nicht ins Gewicht falle.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Lübeck vom 11.05.2010 - 3 Ca 464/10 - abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht für zutreffend. Er bestreitet, Patientengulasch und Patientenpizza gegessen zu haben. Am 19.11.2009 habe er sein mitgebrachtes Essen aufgewärmt und gegessen. An Patientenpizza habe er sich weder ganz noch teilweise vergriffen. Auch habe er Patienten nicht geduzt oder gar, wie von der Beklagten behauptet, beschimpft. Im Übrigen sei die Vorgehensweise der Beklagten in jeder Hinsicht unverhältnismäßig.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens wird auf den mündlich vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Aus den Gründen
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und innerhalb der Berufungsbegründungsfrist auch begründet worden. In der Sache konnte sie jedoch keinen Erfolg haben.
Mit ausführlicher Begründung hat das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Dem folgt das Berufungsgericht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird vorab auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Lediglich ergänzend und auch auf den neuen, konkretisierten Vortrag der Parteien eingehend, wird Folgendes ausgeführt:
1. Gemäß §§ 34 Abs. 2 TV-L, 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die erforderliche Prüfung, ob ein gegebener Lebenssachverhalt einen wichtigen Grund darstellt, vollzieht sich zweistufig: Im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich als wichtiger Kündigungsgrund geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es stets der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile auf Dauer zumutbar ist oder nicht (BAG vom 23.06.2009 - 2 AZR 103/08 - zitiert nach Juris, Rz. 18 m. w. N.).
Dem Sinn und Zweck des wichtigen Grundes zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses entspricht es, dass auch bei einem abstrakt durchaus erheblichen Verhalten doch noch in jedem konkreten Einzelfalle eine Abwägung aller für und gegen die Lösung des Arbeitsverhältnisses sprechenden Gründe erfolgt (BAG vom 23.01.1963 - 2 AZR 278/62 = AP Nr. 8 zu § 124 a Gewerbeordnung). Bei der Prüfung des wichtigen Grundes kommt es nicht darauf an, wie ein bestimmtes Verhalten strafrechtlich zu würdigen ist, sondern darauf, ob der Gesamtsachverhalt die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar macht (BAG vom 27.01.1977 - 2 ABR 77/96 - = AP Nr. 7 zu § 103 BetrVG 1972; BAG AP Nr. 13 zu § 626 BGB). Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung darf regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein. Die Kündigung dient der Vermeidung des Risikos weiterer Vertragsverletzungen (BAG vom 23.06.2009 - 2 AZR 103/08 - zitiert nach Juris). Das ist unter dem Gesichtspunkt einer negativen Zukunftsprognose zu betrachten.
2. Im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung und Einzelfallprüfung sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital" ebenso wie ggfs. die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes. Eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrages notwendigen Vertrauens ausreichen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken (BAG vom 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - Pressemitteilung 24/10).
Beruht eine Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (Schlachter, NZA 2005, 433, 436). Die Abmahnung dient der Objektivierung der Prognose.
3. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die Kündigung der Beklagten vom 09.02.2010 unwirksam.
a) Wie das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, kann hier dahingestellt bleiben, ob der Kläger die von der Beklagten behaupteten Vertragspflichtverletzungen überhaupt begangen hat. Der Kläger hat dieses stets bestritten.
Der Kammer ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht entgangen, dass der „seine Meldepflicht" (Anlage B 7 - Blatt 46 d. A.) ausübende Arbeitskollege des Klägers seine gemeldeten Wahrnehmungen über dessen Verhalten mehrfach verändert und den Anhörungsergebnissen des Klägers angepasst hat. Der Kammer ist auch nicht entgangen, dass die als Anlage B 7 zur Akte gereichte Stellungnahme des Krankenpflegehelfers D... ganz offensichtlich vorformuliert ist und nicht aus seiner Feder stammt. So schreibt und spricht keine Naturalpartei.
b) Gleichwohl unterstellt, all das dort Niedergelegte treffe zu, rechtfertigen die dem Kläger gegenüber erhobenen Vorwürfe vorliegend keine außerordentliche Kündigung gemäß §§ 34 Abs. 2 TV-L, 626 Abs. 1 BGB. Die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses stellt keine angemessene Reaktion auf die von der Beklagten behaupteten - streitigen - Pflichtverletzungen und eine dadurch eingetretene Vertragsstörung dar.
Eine Abmahnung wäre als milderes Mittel gegenüber der Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat das Arbeitsgericht die in Betracht kommenden Gesichtspunkte zutreffend und umfassend bewertet.
aa) Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder wenn es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne Weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich aus-geschlossen ist. Selbst bei Störungen des Vertrauensbereiches durch Eigentums- und Vermögensdelikte kann es danach Fälle geben, in denen eine Abmahnung nicht ohne Weiteres entbehrlich erscheint (BAG vom 23.06.2009 - 2 AZR 103/08 - zitiert nach Juris, Rz. 33).
bb) Die Beklagte verkennt, dass Zweck einer Kündigung wegen einer Vertragsverletzung regelmäßig nicht die Sanktion einer Vertragsverletzung sein darf. Ihre Einordnung des - streitigen - Lebenssachverhaltes ist unverhältnismäßig. Sie wird selbst unter Berücksichtigung des Inhalts der Anlage B7 der Realität nicht gerecht. Auch wenn die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe unterstellt wird, wäre unter Berücksichtigung der Gesamtumstände, des langjährigen ungestörten Verlaufs des Beschäftigungsverhältnisses und angesichts des äußerst geringen Wertes der verzehrten Speisen lediglich eine Abmahnung als angemessen Reaktion gerechtfertigt gewesen. Sie hätte ausgereicht, um durch Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses das künftige Verhalten des Klägers positiv zu beeinflussen.
cc) Die Kammer kann in Bezug auf die streitigen Vorwürfe der Beklagten kein Verhalten des Klägers feststellen, das „keinerlei Respekt vor den Rechtsgütern anderer" und ein gezieltes Ausnutzen besonderer Schutzwürdigkeit anvertrauter Patienten an den Tag legen würde. Bei dem Vorwurf des Verzehrs einer abgebrochenen Ecke eines Stückes Pizza zum Eigenverbrauch handelt es sich allenfalls um ein geringfügiges Eigentumsdelikt. Gleiches gilt vorliegend in Bezug auf den -streitigen- Vorwurf, der Kläger habe einen Teil eines Restes einer Patientenportion Gulasch gegessen. Die verzehrten Teile von Speisen haben einen äußerst geringen Wert. Das darf bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht unberücksichtigt bleiben.
Ausdrückliche und wiederkehrende Verhaltensanweisungen zum Umgang mit Speisenresten hat die Beklagte zudem nicht erteilt. Jedenfalls hat sie hierzu nichts vor-gebracht.
dd) Der Kläger hat mit den behaupteten - streitigen - Pflichtverletzungen auch keine besondere Schutzwürdigkeit ihm anvertrauter Patienten ausgenutzt. Das ihm vorgeworfene Handeln ist beliebig auf jeden anderen Lebenssachverhalt und Personenkreis übertragbar. Wenn die Vorwürfe tatsächlich zutreffen, hat der Kläger Lebens-mittel bzw. Lebensmittelreste, die anderen Personen gehören bzw. für diese bestimmt waren, ganz oder teilweise gegessen. Ob es sich dabei um Lebensmittel oder Lebensmittelreste von Kollegen oder anvertrauten Patienten handelte, wäre nach der Überzeugung der Kammer Zufall. Die Richtigkeit des Vorbringens der Beklagten unterstellt, ist nicht ersichtlich, woraus sich ergeben soll, dass der Kläger zielgerichtet ausgerechnet auf Lebensmittel bzw. Lebensmittelreste von Patienten zugegriffen haben soll. Jedenfalls fehlt insoweit jegliches substantiierte Vorbringen der Beklagten. Die vorgeworfene Pflichtverletzung ist auch nicht annähernd vergleichbar mit dem gezielten Zugriff von Pflegekräften auf private Wertgegenstände, Geld, Schmuck oder Ähnliches von anvertrauten Personen. Die Beklagte hat insoweit mit ihrer Einordnung und der darauf beruhenden Reaktion das gebotene Betrachtungsmaß verloren.
ee) Auch ihrem Vorbringen, die dem Kläger zur Last gelegten Vertragspflichtverletzungen hätten Auswirkungen auf die Therapierbarkeit der Patienten, kann die Kammer nicht folgen. Der unmittelbare Zusammenhang fehlt. Zudem hätte auch die Ahndung der dem Kläger vorgeworfenen - streitigen - Pflichtverletzungen mittels Abmahnung den Patienten, die Straftäter sind, aufgezeigt, dass ein solches Verhalten nicht folgenlos bleibt und ggf. zum Verlust eines Arbeitsplatzes führen kann.
ff) Die Kammer kann auch unter Berücksichtigung des Tatsachenvortrags der Beklagten kein kaltblütiges Vorgehen des Klägers feststellen. Dieses Vokabular ist in diesem Zusammenhang gänzlich ungeeignet. Selbst wenn der später „seine Meldepflicht" genüge tuende Arbeitskollege den Kläger im Zusammenhang mit dem behaupteten Verzehr einer abgerissenen Ecke eines Stückes Pizza darauf aufmerksam gemacht haben soll, dass dieses nicht korrekt sei, ist weder das Weiteressen und/oder Hinunterschlucken noch der behauptete -erst frühere, dann spätere - Genuss eines Teils eines Gulaschrestes „kaltblütig". Kaltblütig bedeutet „bestialisch", „roh", „abgebrüht", „skrupellos"," ohne Mitgefühl". Selbst bei einer Antwort „Das merkt doch keiner" ist eine solche verbale Einordnung unangemessen und auch nicht ansatzweise objektiviert.
gg) Will die Beklagte eine Handlung der hier vorgeworfenen Art für eine - noch dazu fristlose - Kündigung eines langjährigen, unkündbaren Arbeitsverhältnisses ausreichen lassen, hätte sie, da es sich um ein steuerbares Verhalten handelt, dieses vorher jedenfalls im Wege einer Abmahnung verdeutlichen müssen. Ihre auf ein Vermögensdelikt gerichteten Vorwürfe beziehen sich auf eine nahezu wertlose Ecke eines Stückes Pizza und auf den - angeblichen - Teil einer restlichen, ebenfalls nahezu wertlosen Patientenportion Gulasch. Die Richtigkeit der Behauptungen der Beklagten unterstellt, konnte der Kläger schon mangels sich wiederholender einschlägiger Anweisungen, dass auch derartiges Verhalten nicht geduldet werde, nicht ansatzweise damit rechnen, nun ohne jegliche Vorwarnung sofort eine fristlose Kündigung zu erhalten. Es gilt zudem ungeachtet der Existenz einer vorherigen Abmahnung das Übermaßverbot. Das hat die Beklagte nicht beachtet.
hh) Bei der Interessenabwägung ist vor allem auch die langjährige unbeanstandete Betriebszugehörigkeit des Klägers zu bewerten. Der Kläger hat 19 Jahre lang seine Arbeitsleistung ohne Beanstandungen erbracht. Damit hat er ein hohes Maß an Vertrauen aufgebaut. Die lange Beschäftigungszeit und das damit einhergehende erworbene Maß an Vertrauen in die Korrektheit seiner Aufgabenerfüllung und die Achtung der Vermögensinteressen der Beklagten schlagen insoweit regelmäßig hoch zu Buche. Sich bei dem vorliegenden Sachverhalt sofort auf einen vollständigen Vertrauensverlust zu berufen, stellt eine unangemessene Reaktion auf die - streitige - eingetretene Vertragsstörung dar.
ii) Die Beklagte kann auch nicht damit gehört werden, sie müsse künftig ständig damit rechnen, dass der Kläger derartige Vorgehensweisen wiederhole, ohne dass diese ihn wirksam kontrollieren könne. Abgesehen davon, dass die erhobenen Vorwürfe streitig sind, gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger - ggf. nach einer Abmahnung oder klarstellenden Anweisung - künftig an Patientenessen bedienen wird. Es ist rechtlich anerkannt, dass grundsätzlich nicht aus jedem unkorrekten, eigentumsrechtlich relevanten Verhalten eines Arbeitnehmers darauf geschlossen werden kann, dass einem Arbeitnehmer eine an Korrektheit und Ehrlichkeit ausgerichtete Grundhaltung fehlt (BAG vom 27.04.2006 - 2 AZR 415/05 - zitiert nach Juris, Rz. 19 m. w. N.; LAG Schl.-Holst. v. 13.01.2010 - 3 Sa 324/09 - zitiert nach Juris).
jj) Die Beklagte kann das Erfordernis einer etwaigen Abmahnung in Bezug auf die vorgeworfenen Vermögensdelikte auch nicht damit verneinen, dass sie anführt, der Kläger habe zudem in der Vergangenheit ihm anvertraute Patienten beleidigt. Auch diese behauptete Pflichtverletzung ist streitig. Abgesehen davon hätte sie auch zu-nächst abgemahnt werden müssen, um überhaupt im Wiederholungsfall einen Kündigungsgrund ergeben zu können. Zudem sind diese behaupteten Pflichtverletzungen im Verhältnis zu den vorgeworfenen Vermögensdelikten nicht einschlägig. Sie sind nach der Überzeugung der Kammer gänzlich ungeeignet, das Fehlen einer Abmahnung aus Anlass der behaupteten streitigen Vertragspflichtverletzungen, die den Bereich von Vermögensverletzungen tangieren, aufzuwiegen.
kk) Die Kammer gewichtet im Rahmen der Interessenabwägung letztendlich auch, dass der Kläger seiner schwerbehinderten, pflegebedürftigen Ehefrau sowie mehreren Kindern gegenüber zum Unterhalt verpflichtet ist. Dem Verweis der Beklagten, der 56jährige Kläger könne auf dem Arbeitsmarkt ohne Weiteres einen neuen Arbeitsplatz als Pflegehelfer finden, wird demgegenüber im Rahmen der Interessenabwägung vorliegend keine besondere Bedeutung beigemessen. Ungeachtet der Zweifel an der Richtigkeit dieser Behauptung würde der Kläger mit seinem Lebensalter von 56 Jahren bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach 19 Jahren Betriebszugehörigkeit in einem neuen Beschäftigungsverhältnis ohne jeglichen Bestandsschutz beginnen und in seinem Erwerbsleben mit „null" Schutz erneut starten müssen. Das kann jedenfalls bei einer Pflichtverletzung der vorgeworfenen Art nicht unberücksichtigt bleiben. Diese Auswirkungen sind im Zuge der Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen im Hinblick auf die von der Beklagten vorgeworfenen Pflichtverletzungen unverhältnismäßig.
4. Aus den genannten Gründen liegt unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles sowie unter Abwägung der Interessen beider Parteien selbst dann, wenn zugunsten der Beklagten das Verspeisen einer Ecke eines Stückes Pizza sowie eines Teils einer Gulaschrestportion als geschehen unterstellt wird, keine Handlung des Klägers vor, die es der Beklagten als Arbeitgeberin unzumutbar macht, das 19-jährige Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Vorliegend konnte nicht auf eine Abmahnung verzichtet werden. Das Arbeitsgericht hat deshalb der Kündigungsschutzklage zu Recht stattgegeben. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Die Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG liegen nicht vor, so dass die Revision nicht zuzulassen war. Vorliegend handelt es sich ausschließlich um eine Einzelfallentscheidung.