BAG: Nichtzulassungsbeschwerde – absoluter Revisionsgrund – Öffentlichkeit des Verfahrens – vorzeitiger Aufruf der Sache
BAG, Beschluss vom 24.11.2022 – 2 AZN 335/22
ECLI:DE:BAG:2022:241122.B.2AZN335.22.0
Volltext: BB-Online BBL2023-1268-4
Orientierungssätze
1. Der Grundsatz der Öffentlichkeit soll gewährleisten, dass sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich „in aller Öffentlichkeit“, nicht hinter verschlossenen Türen, abspielt. Er dient letztlich der Kontrolle der Gerichte. Entsprechend diesem Sinn ist der Grundsatz der Öffentlichkeit gewahrt, wenn die Verhandlung in Räumen stattfindet, zu denen – wie im Streitfall angesichts einer offen stehenden Tür zum Verhandlungssaal – während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann der Zutritt offensteht (Rn. 6).
2. Dagegen erfordert der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht, dass jedermann weiß, wann und wo eine mündliche Verhandlung stattfindet. Der Schutz des Vertrauens in Terminankündigungen wird von ihm nicht erfasst. Denn die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die – keiner besonderen Auswahl unterliegende – Allgemeinheit wird durch die bloße Abweichung von einer gerichtlichen Terminankündigung nicht beeinträchtigt (Rn. 7).
3. Ruft das Gericht die Sache vorzeitig auf (§ 220 Abs. 1 ZPO) und nimmt zudem die Anträge der Parteien vor der Zeit auf (§ 137 Abs. 1 ZPO), liegt nicht einmal – mehr – ein mit einer zugelassenen Revision zu rügender Verfahrensfehler vor, wenn die Prozessbevollmächtigten der Parteien bei Aufruf der Sache anwesend sind und sich durch ihre nachfolgende Antragstellung rügelos i. S. v. § 295 Abs. 1 ZPO einlassen (Rn. 8).
Aus den Gründen
1 Die Beschwerde hat - nur - in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Sie führt insoweit zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 72a Abs. 7 ArbGG). Im Übrigen bleibt die Beschwerde erfolglos.
2 I. Zu 3.1.2.1 der Beschwerdebegründung zeigt der Kläger nicht auf, dass das Landesarbeitsgericht die auf Seite 5 der Beschwerdebegründung formulierte Fragestellung verneint hat. Vielmehr ist es ersichtlich - und von der Beschwerde ausdrücklich selbst für möglich gehalten - nicht von einer Maßregelung des Klägers iSv. § 16 Abs. 1 Satz 1 AGG durch die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Parteien ausgegangen. Erst recht hat es offenkundig nicht auf die bloße Stellung des Auflösungsantrags durch den Beklagten abgestellt.
3 II. Die zu 3.1.2.2 der Beschwerdebegründung erhobene Rüge greift ebenfalls nicht durch. Das Berufungsgericht hat Art. 17 DSGVO nicht für unanwendbar gehalten. Vielmehr hat es das diesbezügliche Vorbringen des Klägers übergangen (siehe unten Rn. 9).
4 III. Die zu 3.2.2 bis 3.2.4 sowie 3.2.6 der Beschwerdebegründung vom Kläger erhobenen Rügen der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 ArbGG iVm. Art. 103 Abs. 1 GG greifen nicht durch. Insofern sieht der Senat nach § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG von einer Begründung gänzlich ab, weil diese nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist. Weitere Ausführungen sind weder aus verfassungsrechtlichen noch aus konventionsrechtlichen Gründen geboten (vgl. BVerfG 21. November 2018 - 1 BvR 1653/18 ua. - Rn. 6; 30. Juni 2014 - 2 BvR 792/11 - Rn. 19, 25; 8. Dezember 2010 - 1 BvR 1382/10 - Rn. 12 ff.).
5 IV. Ohne Erfolg bleibt auch die zu 3.3 der Beschwerdebegründung erhobene Rüge des Vorliegens eines absoluten Revisionsgrundes nach § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 5 ZPO. Das Landesarbeitsgericht hat nicht die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§§ 169 ff. GVG) verletzt. Das gilt auch, wenn es die Sache am Verhandlungstag bereits vor 09:30 Uhr aufgerufen und sogar die Anträge der Parteien schon vorher aufgenommen haben sollte.
6 1. Der Grundsatz der Öffentlichkeit soll gewährleisten, dass sich die Rechtsprechung der Gerichte grundsätzlich "in aller Öffentlichkeit", nicht hinter verschlossenen Türen, abspielt. Er dient letztlich der Kontrolle der Gerichte (vgl. BAG 2. März 2022 - 2 AZN 629/21 - Rn. 10). Entsprechend diesem Sinn ist der Grundsatz der Öffentlichkeit gewahrt, wenn die Verhandlung in Räumen stattfindet, zu denen während der Dauer der Verhandlung grundsätzlich jedermann der Zutritt offensteht (BFH 15. März 1977 - VII R 122/73 - BFHE 121, 392). Die Beschwerde zieht nicht in Zweifel, dass dies - zumal angesichts der Verhandlung bei "offener Tür" - vorliegend der Fall war.
7 2. Dagegen erfordert der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht, dass jedermann weiß, wann und wo eine mündliche Verhandlung stattfindet (BVerfG 10. Oktober 2001 - 2 BvR 1620/01 - zu 2 der Gründe; BFH 21. September 1994 - VIII R 80-82/93 - zu 3 c der Gründe; 15. März 1977 - VII R 122/73 - BFHE 121, 392). Der Schutz des Vertrauens in Terminankündigungen wird von ihm nicht erfasst (BVerfG 10. Oktober 2001 - 2 BvR 1620/01 - aaO; BGH 15. August 2001 - 3 StR 187/01 - zu 3 der Gründe; 15. November 1983 - 1 StR 553/83 - zu 3 der Gründe). Denn die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit wird durch die bloße Abweichung von einer gerichtlichen Terminankündigung nicht beeinträchtigt (vgl. OLG Hamm 25. Juni 2012 - III-3 RBs 149/12 - zu II der Gründe).
8 3. Das Landesarbeitsgericht hat, selbst wenn es die Sache vorzeitig aufgerufen (§ 220 Abs. 1 ZPO) und vor allem vorzeitig die Anträge der Parteien aufgenommen haben sollte (§ 137 Abs. 1 ZPO), auch nicht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Denn dessen Prozessbevollmächtigter war bereits bei Aufruf der Sache anwesend und hat sich durch seine nachfolgende Antragstellung rügelos iSv. § 295 Abs. 1 ZPO eingelassen. Damit liegt nicht einmal - mehr - ein mit einer zugelassenen Revision zu rügender Verfahrensfehler vor (vgl. MüKoZPO/Stackmann 6. Aufl. § 220 Rn. 3). Erst recht kann unter diesem Gesichtspunkt die vorliegende Beschwerde keinen Erfolg haben.
9 V. Demgegenüber greift die zu 3.2.5 der Beschwerdebegründung geführte Rüge in Bezug auf die Klageanträge zu 9. bis 13. (Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers) durch. Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Annahme, diese - von ihm nicht etwa iSv. § 321 ZPO übergangenen - Klageanträge fielen nicht zur Entscheidung an, weil sie von der Auflösung des Arbeitsverhältnisses abhängig seien, den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (§ 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 2 ArbGG). Es hat dessen mit der eigenen, fettgedruckten Überschrift "Entfernung der Abmahnungen nach Ende des Arbeitsverhältnisses" versehenes Vorbringen auf Seite 122 f. der Berufungsbegründung (2.4.2.2.3) dazu übergangen, warum die Abmahnungen (gerade) auch im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien sowohl nach §§ 241, 242, 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB als auch gemäß Art. 17 DSGVO aus der Personalakte des Klägers zu entfernen seien. Der darin liegende Gehörsverstoß ist für die Entscheidung über die Klageanträge zu 9. bis 13. erheblich. Nach dem betreffenden Vorbringen durfte das Landesarbeitsgericht keinesfalls von unechten Hilfsanträgen für den Fall des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses ausgehen.
10 VI. Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass dem Landesarbeitsgericht die Schriftsätze aus dem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht vorliegen.
11 VII. Von einer weiteren Begründung wird nach § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG abgesehen.