BAG: Nachwirkung einer Betriebsvereinbarung
BAG, Urteil vom 9.7.2013 - 1 AZR 275/12
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Zahlung einer außertariflichen Zulage.
Die Beklagte betreibt einen holzverarbeitenden Betrieb, für den ein Betriebsrat gewählt ist. Sie ist kraft Verbandsmitgliedschaft an die Tarifverträge der holz- und kunststoffverarbeitenden Industrie Rheinland-Pfalz gebunden. Dieser sieht eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden bei einer Fünftagewoche vor, lässt aber Betriebsvereinbarungen über die Einführung von Schichtarbeit zu.
Die Kläger zu 1. und 4. sind bei der Beklagten im Bereich Fünf-Schicht-Contibetrieb, die Kläger zu 2. und 3. im Bereich Endfertigung beschäftigt. Für diese Arbeitsbereiche haben die Betriebsparteien in gesonderten Betriebsvereinbarungen Schichtplanregelungen getroffen. Diese sehen für den Bereich Endfertigung eine Verteilung der Arbeitszeit auf sechs Arbeitstage und im Bereich Fünf-Schicht-Contibetrieb eine Verteilung auf alle Wochentage vor. In der am 11. Februar 2005 abgeschlossenen „Betriebsvereinbarung 5-Schicht-Contibetrieb" (BV-Contibetrieb) ist bestimmt:
6. Außertarifliche Zulage im 5-Schicht-Contibetrieb
Es wird eine außertarifliche Zulage von 130 EUR monatlich gezahlt (tarifliche Zuschläge für Spät- und Nachtschicht bleiben unberührt). Diese kann in einer noch zu vereinbarenden Prämienregelung aufgehen.
8. Laufzeit und Kündigungsfrist
Diese Betriebsvereinbarung gilt ab dem Tag der Unterzeichnung und kann mit einer Frist von 3 Monaten zum Jahresende, erstmals zum 31.12.2006 gekündigt werden. Die Bestimmungen hinsichtlich der Zusatzstunden gelten bis zum 31.12.2008, ohne Nachwirkung."
In der am 20. Dezember 2006 abgeschlossenen „Betriebsvereinbarung Endfertigung (Holzma 1 - Holzma 2 - Verladung)" (BV-Endfertigung) heißt es:
3. Außertarifliche Zulage
Es wird eine außertarifliche Zulage von EUR 74,- monatlich gezahlt (tarifliche Zuschläge für Spät- und Nachtschicht bleiben unberührt). Diese kann in einer noch zu vereinbarenden Prämienregelung aufgehen.
5. Laufzeit und Kündigungsfrist
Diese Betriebsvereinbarung gilt ab dem Tag der Unterzeichnung und kann mit einer Frist von 3 Monaten zum Jahresende, erstmals zum 31.12.2007 gekündigt werden. Die Bestimmungen hinsichtlich der Zusatzstunden enden ohne Nachwirkung am 31.12.2008."
Die Beklagte kündigte beide Betriebsvereinbarungen zum 31. Dezember 2009 und stellte die Zahlung der darin vereinbarten Zulagen zum Jahresende 2009 ein. Hierüber informierte sie die betroffenen Arbeitnehmer Ende Januar 2010. Eine in zwei weiteren Betriebsvereinbarungen vom 26. August 1996 und vom 17. Juli 1997 für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte geregelte sog. „Arbeitsplatzzulage" gewährt sie unverändert weiter. Zum 1. August 2011 trat bei ihr durch Spruch der Einigungsstelle eine neue Betriebsvereinbarung zur Schichtplanregelung in Kraft, in der keine Zulagen vorgesehen sind.
Mit ihren Klagen haben die Kläger zu 1. und 3. die Fortzahlung der Zulage für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis 30. Juni 2010 und die Kläger zu 2. und 4. für die Zeit vom 1. Januar 2010 bis 31. Dezember 2010 verlangt. Sie haben geltend gemacht, die gekündigten Betriebsvereinbarungen wirkten nach, weil sie teilmitbestimmt seien.
Der Kläger zu 1. hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 780,00 Euro brutto zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Der Kläger zu 2. hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Monate Januar 2010 bis einschließlich Dezember 2010 eine Zulage in Höhe von 888,00 Euro brutto zu zahlen.
Der Kläger zu 3. hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 444,00 Euro brutto zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Der Kläger zu 4. hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Monate Januar 2010 bis einschließlich Dezember 2010 eine Schichtzulage in Höhe von 1.560,00 Euro brutto zu zahlen.
Die Beklagte hat zur Begründung ihres Abweisungsantrags ausgeführt, einer Nachwirkung der Betriebsvereinbarungen stehe bereits entgegen, dass sie die Zahlung der in den Betriebsvereinbarungen vorgesehenen Zulagen vollständig eingestellt habe.
Das Arbeitsgericht hat den Klagen entsprochen, das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit ihren Revisionen begehren die Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Aus den Gründen
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Die Revisionen der Kläger haben Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat die Klagen zu Unrecht abgewiesen. Die Kläger können von der Beklagten die Zahlung der begehrten Zulagen verlangen. Der Anspruch der Kläger zu 1. und 4. folgt aus Ziff. 6 BV-Contibetrieb, der Anspruch der Kläger zu 2. und 3. aus Ziff. 3 BV-Endfertigung. Beide Betriebsvereinbarungen haben im streitgegenständlichen Zeitraum nachgewirkt (§ 77 Abs. 6 BetrVG).
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I. Die Betriebsvereinbarungen verstoßen nicht gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG.
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1. Nach dieser Bestimmung können Arbeitsentgelte oder Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Hierdurch soll verhindert werden, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend durch Betriebsvereinbarung geregelt werden (vgl. BAG 30. Mai 2006 - 1 AZR 111/05 - Rn. 26 mwN, BAGE 118, 211). Deshalb verstößt eine Betriebsvereinbarung über eine übertarifliche Zulage gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, wenn sie sich in der Aufstockung der Tariflöhne erschöpft (BAG 30. Mai 2006 - 1 AZR 111/05 - Rn. 29 mwN, aaO). Hiervon ist jedoch nicht auszugehen, wenn in der Betriebsvereinbarung zusätzliche Entgeltbestandteile geregelt sind, die an besondere Voraussetzungen gebunden und daher nicht Teil des Tariflohns sind (vgl. BAG 9. Dezember 1997 - 1 AZR 319/97 - zu III 3 a bb (1) der Gründe, BAGE 87, 234).
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2. Hiernach verstoßen die Zulagenregelungen in der BV-Contibetrieb und der BV-Endfertigung nicht gegen den Tarifvorbehalt des § 77 Abs. 3 BetrVG. Die dort vereinbarten Zulagen stellen eine besondere Leistung dar, die nur den Arbeitnehmern gewährt wird, die in den dort vereinbarten Schichtsystemen arbeiten. Durch die Zulagen wird daher nicht lediglich der Tariflohn erhöht.
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II. Die Kündigungen der BV-Endfertigung und der BV-Contibetrieb durch die Beklagte zum 31. Dezember 2009 haben die Ansprüche der Kläger auf die Zulagen nicht entfallen lassen. Die Betriebsvereinbarungen unterliegen gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG der Nachwirkung. Hiervon sind entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts auch die Zulagenregelungen erfasst.
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1. Nach § 77 Abs. 6 BetrVG gelten die Regelungen einer Betriebsvereinbarung in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Zu diesen Angelegenheiten gehören Regelungen über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) und der betrieblichen Lohngestaltung (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG). Betriebsvereinbarungen über Gegenstände, die nicht der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, entfalten kraft Gesetzes keine Nachwirkung. Betriebsvereinbarungen mit teils erzwingbaren, teils freiwilligen Regelungen wirken grundsätzlich nur hinsichtlich der Gegenstände nach, die der zwingenden Mitbestimmung unterfallen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Betriebsvereinbarung sinnvoll in einen nachwirkenden und einen nachwirkungslosen Teil aufspalten lässt. Andernfalls entfaltet zur Sicherung der Mitbestimmung die gesamte Betriebsvereinbarung Nachwirkung (BAG 5. Oktober 2010 - 1 ABR 20/09 - Rn. 18 mwN, BAGE 135, 382).
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2. Nach diesen Grundsätzen haben die gekündigten Betriebsvereinbarungen im streitgegenständlichen Zeitraum nachgewirkt. Beide enthalten zwar sowohl mitbestimmte als auch teilmitbestimmte Regelungen. Die Auslegung der Betriebsvereinbarungen macht jedoch deutlich, dass sich durch die Zusammenführung beider Regelungskomplexe in eine Betriebsvereinbarung die Nachwirkung der erzwingbaren Angelegenheiten auf die freiwillig vereinbarten erstreckt. Dies hat das Landesarbeitsgericht zu Unrecht unberücksichtigt gelassen.
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a) Die Regelungen über die Schichtarbeit unterliegen nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats (BAG 19. Juni 2012 - 1 ABR 19/11 - Rn. 18). Demgegenüber sind die Zulagenregelungen nur teilmitbestimmt. Der Arbeitgeber kann den Dotierungsrahmen mitbestimmungsfrei vorgeben, bedarf jedoch für die Ausgestaltung, also für den Verteilungs- und Leistungsplan, nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG der Zustimmung des Betriebsrats. Die Nachwirkung derart teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen hängt im Falle ihrer Kündigung durch den Arbeitgeber davon ab, ob die finanziellen Leistungen ersatzlos beseitigt oder lediglich reduziert werden sollen. Will ein Arbeitgeber mit der Kündigung einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung seine finanziellen Leistungen vollständig und ersatzlos einstellen, tritt keine Nachwirkung ein. Im Falle einer vollständigen Einstellung der Leistungen verbleiben keine Mittel, bei deren Verteilung der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen hätte (BAG 5. Oktober 2010 - 1 ABR 20/09 - Rn. 19 f., BAGE 135, 382).
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b) Die Entscheidung der Beklagten, ab dem 1. Januar 2010 keine Mittel mehr für die in der BV-Endfertigung und der BV-Contibetrieb geregelten Zulagen mehr zur Verfügung zu stellen, hat die Zahlungsansprüche der von dieser Betriebsvereinbarung erfassten Arbeitnehmer nicht entfallen lassen. Die Nachwirkung der Schichtplanregelungen erfasst vereinbarungsgemäß auch die Zulagenregelungen.
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aa) Die in den Betriebsvereinbarungen getroffenen Schichtplan- und Zulagenregelungen stehen nicht losgelöst nebeneinander, sondern in einem inneren Zusammenhang. Dies folgt aus dem Regelungszusammenhang und dem sich hieraus ergebenden Leistungszweck. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die im Geltungsbereich der Betriebsvereinbarungen beschäftigten Arbeitnehmer abweichend von den tarifvertraglichen Vorschriften, die eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden bei einer Fünftagewoche vorsehen, im Bereich Endfertigung in einer Sechstagewoche mit einer täglichen Arbeitszeit von 8,75 Stunden und im Fünf-Schicht-Contibetrieb an allen Wochentagen mit einer täglichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden Schichtarbeit leisten. In beiden Schichtsystemen sind die meisten Urlaubstage als Betriebsurlaub bereits verplant, so dass den Arbeitnehmern nur wenige frei verfügbare Urlaubstage zur Verfügung stehen. Wenn die Betriebsvereinbarung, die hierfür Grundlage ist, zugleich bestimmt, dass eine außertarifliche Zulage bezahlt wird, die tarifliche Zuschläge für Spät- und Nachtschicht unberührt lässt, deutet dieser systematische Zusammenhang bereits darauf hin, dass die Zulagenzahlung auf die besonderen Erschwernisse der Schichtarbeit bezogen ist. Dies wird bestätigt durch die in beiden Betriebsvereinbarungen enthaltene Anrechnungsklausel, nach der die Zulage in einer noch zu vereinbarenden Prämienregelung aufgehen kann. Hinzu kommt, dass die Betriebsparteien für unterschiedliche Arbeitsbereiche gesonderte Bestimmungen über die Schichtplangestaltung sowie die Zulagenhöhe vereinbart haben. Die differenzierte Ausgestaltung der Zulagenhöhe, die sich im Bereich Endfertigung auf 74,00 Euro und im Bereich Fünf-Schicht-Contibetrieb auf 130,00 Euro beläuft, trägt dabei erkennbar den unterschiedlichen Belastungen der Arbeitnehmer in den beiden Schichtsystemen Rechnung.
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bb) Diese Ausgestaltung der Arbeitszeit- und Zulagenregelung macht deutlich, dass der Wille der Betriebsparteien darauf gerichtet war, die Zulagen als Ausgleich für die besonderen Arbeitsbelastungen der Schichtarbeit zu gewähren. Dies wird von der Beklagten auch nicht in Abrede gestellt. Soweit sie geltend macht, die Bezahlung von Zulagen sei gesetzlich nicht gefordert und in der neuen Betriebsvereinbarung vom August 2011 auch nicht vorgesehen, ist dies unerheblich, da es den Betriebsparteien unbenommen ist, für die Erschwernisse besonderer Arbeitszeitregelungen einen Ausgleich in Form von Zulagen freiwillig zu vereinbaren. Wenn Betriebsparteien Arbeitszeit- und Zulagenregelungen derart zusammenführen, kann dies nur so verstanden werden, dass deren Regelungswille darauf gerichtet war, den betroffenen Arbeitnehmern die Zulage solange zukommen zu lassen, wie diese nach Maßgabe der Betriebsvereinbarung Schichtarbeit zu leisten haben.
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cc) Das hat zur Folge, dass sich bei einer Kündigung der Betriebsvereinbarung die Nachwirkung der erzwingbaren Schichtplanregelung auch auf die teilmitbestimmte Zulagenregelung erstreckt. Der Arbeitgeber kann sich in diesem Fall von der Verpflichtung, die Zulagen zu zahlen, nur lösen, indem er eine neue Arbeitszeitregelung mit dem Betriebsrat vereinbart. Eine solche Neuregelung kann der Arbeitgeber - wie hier geschehen - ggf. in einem Einigungsstellenverfahren herbeiführen. Gegen seinen Willen kann die Einigungsstelle keine kompensatorischen Leistungen für ungünstige Arbeitszeitregelungen vorsehen.