BAG: Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei betrieblichen Regelung des Gesundheitsschutzes
BAG, Beschluss vom 11.12.2012 - 1 ABR 81/11
Sachverhalt
A. Die Beteiligten streiten über eine tarifvertragliche Besetzungsregel.
Die tarifgebundene Arbeitgeberin betreibt ein Unternehmen des Druckereigewerbes mit etwa 90 Arbeitnehmern. Antragsteller ist der bei ihr gebildete Betriebsrat.
Im Juni 1990 vereinbarten die Arbeitgeberin und der Betriebsrat in einer Betriebsvereinbarung (BV 2/1990) die Besetzung einer 5-Farben-Druckmaschine mit je einem Drucker und einem Helfer (Nr. 2 Abs. 2 BV 2/1990). In einer als Regelungsabsprache bezeichneten Vereinbarung vom 22. November 2004 (RA 3/2004) stimmten die Betriebsparteien überein, für die Besetzung von 8-Farben-Bogendruckmaschinen Nr. 2 BV 2/1990 anzuwenden. Die Arbeitgeberin kündigte die BV 2/1990 und die RA 3/2004 zum 31. Dezember 2009.
In dem für Bogendruck geltenden Anhang C II zum MTV für gewerbliche Arbeitnehmer der Druckindustrie (MTV Druck) ist bestimmt:
„2. An Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen werden je zwei Farbwerke durch einen Drucker bedient.**
** Protokollnotiz: Bei Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen bis zum Format III b) kann die Besetzung mit Fachkräften durch betriebliche Regelung abweichend erfolgen.
Bei Vorliegen besonderer technischer Ausstattung (zentrale Farb-, Wasser- und Registersteuerung) kann von dieser Bedienungsregelung abgewichen werden."
Die Arbeitgeberin betreibt eine MAN R 708 8-Farben-Bogendruckmaschine (MAN-Druckmaschine), die über eine zentrale Farb-, Wasser- und Registersteuerung verfügt, sowie eine Roland 6-Farben-Plus-Lack-Druckmaschine. An diesen setzt sie im Tagdienst jeweils einen Drucker und einen Helfer ein. Im Nachtdienst werden beide Maschinen zusammen mit zwei Druckern und einem Helfer besetzt.
Der Betriebsrat hat gemeint, an der MAN-Druckmaschine müssten stets zwei Drucker und zwei Helfer eingesetzt werden. Da die zum 31. Dezember 2009 gekündigten Regelungen nachwirkten, sei die MAN-Druckmaschine jedenfalls mit einem Drucker und einem Helfer zu besetzen.
Der Betriebsrat hat zuletzt beantragt,
1.
der Arbeitgeberin aufzugeben, die 708 MAN 8-Farben-Druckmaschine stets mit jeweils zwei Druckern und zwei Helfern zu besetzen,
hilfsweise,
2.
der Arbeitgeberin aufzugeben, die 708 MAN 8-Farben-Druckmaschine stets mit mindestens einem Drucker und einem Helfer zu besetzen,
3.
der Arbeitgeberin für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtungen aus den Anträgen zu 1. bzw. 2. bezogen auf jede Schicht ein Ordnungsgeld anzudrohen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird,
hilfsweise zu 1. und 2.,
4.
festzustellen, dass für eine Abweichung von der tarifvertraglichen Besetzungsregelung im Sinne der tariflichen Besetzungsregelung in Anhang C II Nr. 2 Abs. 2 des MTV Druck eine Vereinbarung der Betriebsparteien notwendig ist.
Die Arbeitgeberin hat die Abweisung der Anträge beantragt.
Das Arbeitsgericht hat die erstinstanzlich allein gestellten Anträge zu 1. bis 3. abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die dagegen vom Betriebsrat eingelegte Beschwerde, mit der dieser sein Begehren um den Feststellungsantrag erweitert hat, zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat die zuletzt gestellten Anträge weiter.
Aus den Gründen
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B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Anträge zu Recht abgewiesen.
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I. Für das mit dem Hauptantrag verfolgte Begehren fehlt es an einer Anspruchsgrundlage. Dabei kann dahinstehen, ob es sich - wie der Betriebsrat meint - bei dem von ihm behaupteten Verstoß gegen die Besetzungsregel in C II Nr. 2 Anhang MTV Druck überhaupt um eine Verletzung einer betriebsverfassungsrechtlichen Pflicht iSd. § 23 Abs. 3 Satz 1 BetrVG handelt. Die Verurteilung der Arbeitgeberin zur Beschäftigung von zwei Druckern und zwei Helfern kann nicht auf die Tarifnorm gestützt werden. Nach C II Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 Anhang MTV Druck müsste die Arbeitgeberin an der MAN-Druckmaschine vielmehr vier Drucker beschäftigen, denen jeweils ein Helfer beizustellen ist.
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II. Für den auf die durchgängige Besetzung der MAN-Druckmaschine mit mindestens einem Drucker und einem Helfer gerichteten ersten Hilfsantrag fehlt es an einer Anspruchsgrundlage.
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1. Der Betriebsrat kann seinen Anspruch nicht auf die BV 2/1990 stützen. Deren Regelungen gelten nicht für die MAN-Druckmaschine. Nach Nr. 1 BV 2/1990 betrifft die dort bestimmte Besetzungsregel die „Heidelberg Speedmaster 102 FP".
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2. Die RA 3/2004 trägt den geltend gemachten Durchführungsanspruch nicht. Diese regelt zwar die Anwendung der BV 2/1990 hinsichtlich der Besetzung von 8-Farben-Bogendruckmaschinen und damit auch der MAN-Druckmaschine. Die RA 3/2004 ist aber von der Arbeitgeberin fristgerecht zum 31. Dezember 2009 gekündigt worden und wirkt nicht nach.
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a) Gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG gelten nach Ablauf einer Betriebsvereinbarung deren Regelungen in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Dies betrifft die Angelegenheiten der zwingenden Mitbestimmung, zu denen auch das Mitbestimmungsrecht beim betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz (§ 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG) gehört. Betriebsvereinbarungen über Gegenstände, die nicht der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, entfalten kraft Gesetzes keine Nachwirkung.
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b) Es bedarf keiner Entscheidung, ob es sich bei der RA 3/2004 um eine Betriebsvereinbarung oder eine Regelungsabrede handelt und ob auch einer Regelungsabrede in entsprechender Anwendung von § 77 Abs. 6 BetrVG Nachwirkung zukommt. Der Betriebsrat hat bei der personellen Besetzung der MAN-Druckmaschine kein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG.
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aa) Nach dieser Vorschrift hat der Betriebsrat bei betrieblichen Regelungen über den Gesundheitsschutz mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber diese aufgrund einer öffentlich-rechtlichen Rahmenvorschrift zu treffen hat und ihm bei der Gestaltung Handlungsspielräume verbleiben. Dadurch soll im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer eine möglichst effiziente Umsetzung des gesetzlichen Arbeitsschutzes im Betrieb erreicht werden. Das Mitbestimmungsrecht setzt ein, wenn eine gesetzliche Handlungspflicht objektiv besteht und wegen des Fehlens einer zwingenden Vorgabe betriebliche Regelungen verlangt, um das vom Gesetz vorgegebene Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu erreichen. Eine Ausgestaltung als Rahmenvorschrift liegt vor, wenn die gesetzliche Regelung Maßnahmen zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erfordert, die zu treffenden Maßnahmen aber nicht selbst detailliert beschreibt, sondern dem Arbeitgeber lediglich ein zu erreichendes Schutzziel vorgibt. Ob die Rahmenvorschrift dem Gesundheitsschutz unmittelbar oder mittelbar dient, ist unerheblich. Ebenso wenig kommt es auf eine subjektive Regelungsbereitschaft des Arbeitgebers an (BAG 18. August 2009 - 1 ABR 43/08 - Rn. 16, 18, BAGE 131, 351).
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bb) Bei der Besetzungsregel in C II Nr. 2 Anhang MTV Druck handelt es sich nicht um eine solche Rahmenvorschrift. Tarifverträge gehören regelmäßig nicht zu den öffentlich-rechtlichen Rahmenvorschriften iSd. § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG (Wiese in GK-BetrVG 9. Aufl. § 87 Rn. 591). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, der an gesetzliche Vorschriften und an Unfallverhütungsvorschriften anknüpft. Tarifverträge können zudem keine öffentlich-rechtlichen Befugnisse im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes begründen.
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cc) Die Voraussetzungen des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG liegen nicht vor.
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Der Betriebsrat beruft sich für sein Mitbestimmungsrecht ausschließlich auf die sich für die Arbeitgeberin aus § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG ergebenden Handlungspflichten. Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Allerdings setzt das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nach der Senatsrechtsprechung bei öffentlich-rechtlichen Regelungen, die - wie § 3 Abs. 1 Satz 1 ArbSchG - weit gefasste Generalklauseln enthalten, das Bestehen einer unmittelbaren objektiven Gesundheitsgefahr voraus (BAG 8. Juni 2004 - 1 ABR 13/03 - zu B I 2 b bb [2] der Gründe, BAGE 111, 36; 16. Juni 1998 - 1 ABR 68/97 - zu B I 2 der Gründe, BAGE 89, 139). Dass eine solche für das an der MAN-Druckmaschine eingesetzte Personal besteht, ist weder vom Landesarbeitsgericht festgestellt noch vom Betriebsrat geltend gemacht worden.
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III. Auch der Feststellungsantrag ist unbegründet. Die Beklagte kann bei der MAN-Druckmaschine ohne Abrede mit dem Betriebsrat von der Besetzungsregel in C II Nr. 2 Satz 1 Anhang MTV Druck abweichen. Dies ergibt die Auslegung der Tarifnorm.
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1. Tarifnormen sind wie Gesetze auszulegen. Auszugehen ist vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck der tariflichen Regelung zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Regelungswerk ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang der Regelung, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern kann. Bleiben im Einzelfall gleichwohl Zweifel, können die Gerichte ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Kriterien zurückgreifen, wie etwa auf die Entstehungsgeschichte und die bisherige Anwendung der Regelung in der Praxis. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, gesetzeskonformen und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 30. Oktober 2012 - 1 AZR 794/11 - Rn. 10).
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2. Ein Abweichen von der Besetzungsregel in C II Nr. 2 Satz 1 Anhang MTV Druck ist bei Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen mit besonderer technischer Ausstattung nach Satz 2 ohne Abrede zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat möglich.
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a) Hierfür spricht schon der Wortlaut der Tarifnorm.
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Nach C II Nr. 2 Satz 1 Anhang MTV Druck werden an Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen je zwei Farbwerke durch einen Drucker bedient. Von dieser Grundregel enthält der nachfolgende Satz 2 eine Ausnahme. Bei einer besonderen technischen Ausstattung der Druckmaschine kann „von dieser Besetzungsregel" und damit von dem Grundtatbestand des Satz 1 abgewichen werden. Besondere Anforderungen für die anderweitige Besetzung mit Fachkräften enthält Satz 2 nicht. Insbesondere ist nicht vorgesehen, dass nur durch eine mit dem Betriebsrat geschlossene Vereinbarung von der Regelbesetzung abgewichen werden darf. Hingegen wird die in der Protokollnotiz zu Satz 1 enthaltene Ausnahme von der Besetzungsregel an eine solche Absprache geknüpft. Nach dieser kann bei Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen bis zum Format III b) die Besetzung mit Fachkräften durch „betriebliche Regelung" abweichend erfolgen. Dies kann nur dahingehend verstanden werden, dass die in Satz 2 bestimmte Ausnahme von der Besetzungsregel in Satz 1 keiner mit dem Betriebsrat getroffenen Absprache bedarf.
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b) Dem entspricht die Systematik der Tarifnorm.
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Der Regelungsgehalt der Protokollnotiz zu C II Nr. 2 Satz 1 Anhang MTV Druck beschränkt sich auf die dort festgelegte Besetzung von Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen mit Fachkräften. Für Druckmaschinen bis zum Format III b) wird durch betriebliche Regelung eine von der Bestimmung in Satz 1 abweichende Besetzung mit Fachkräften ermöglicht. Bei anderen Formaten verbleibt es bei der im Tarifvertrag vorgesehenen Besetzung mit Fachkräften. Die Protokollnotiz nimmt ersichtlich weder Bezug auf die nachfolgend geregelte Ausnahme noch lässt die in Satz 2 bestimmte Abweichungsmöglichkeit eine Verknüpfung mit der Protokollnotiz erkennen. Dies lässt auf den Willen der Tarifvertragsparteien schließen, den Geltungsbereich der Protokollnotiz nicht auf die Besetzung von Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen mit besonderer technischer Ausstattung zu erstrecken.
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c) Gegen die vom Betriebsrat vertretene Sichtweise spricht auch die Entstehungsgeschichte.
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Die Besetzungsregel in C II Nr. 2 Anhang MTV Druck enthielt ursprünglich nur die Grundregel in Satz 1 und die hiervon bestehende Ausnahme für Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen mit besonderer technischer Ausstattung. Bei dieser durfte der Arbeitgeber ohne eine Abrede mit dem Betriebsrat von der Besetzungsregel in Satz 1 abweichen. Die Protokollnotiz zu Satz 1 ist diesem erst nachträglich angefügt worden. Dass die in dieser enthaltene Ausnahme von der Besetzungsregel in Satz 1 zugleich die Anforderungen an die bereits bestehende Abweichungsmöglichkeit verschärfen und auch diese an den Abschluss einer betrieblichen Regelung binden wollte, ist fernliegend. Vielmehr sollte den Betriebsparteien durch die Protokollnotiz ein Abweichen bei der Besetzung der dort bezeichneten Bogendruck-Mehrfarbenmaschinen mit Fachkräften ermöglicht werden. Hierauf beschränkt sich ihr Regelungsinhalt.