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Arbeitsrecht
13.06.2024
Arbeitsrecht
LSG Niedersachsen-Bremen: LSG Niedersachsen-Bremen: Versicherungsschutz auf dem Abweg

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 12.4.2024 – L 14 U 164/21

Volltext: BB-Online BBL2024-1459-3

 

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Arbeitsunfall (Wegeunfall).

 

Der I. geborene, an insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ I leidende Kläger verließ am 11. November 2016 gegen 17:00 Uhr seine Arbeitsstätte an der Adresse J. in K.. Er erlitt gegen 17:12 Uhr auf der L. in M. einen Verkehrsunfall als er auf die Gegenfahrbahn geriet und frontal mit einem Lkw zusammenstieß. Der Kläger erlitt dabei erhebliche Verletzungen, u.a. multiple Frakturen sowie ein Schädel-Hirn-Trauma mit Skalpierungsverletzung und wurde erst notärztlich und schließlich stationär behandelt. Das Einsatzprotokoll des Notarztes über das Unfallgeschehen hielt einen Blutzuckerspiegel von 50 mg/dl sowie die Erstdiagnose einer Hypoglykämie (Unterzuckerung), das Einsatzprotokoll des Rettungsassistenten einen Blutzuckerspiegel von 51,0 mg/dl fest. Zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls wohnte der Kläger an der Adresse N. in O. und war bei der A. beschäftigt.

 

Im Verwaltungsverfahren reichte der Kläger mit dem Fragebogen "Ergänzende Angaben zu einem Unfall auf dem Weg von und zur Arbeit" eine Kartenansicht von "google maps" seines üblichen Arbeitsweges ein und gab auf die Frage, aus welchem Grund er von dem gewöhnlichen Weg abgewichen sei, "wegen Unterzuckerung (lt. Aussage Arzt)" an.

 

Mit Bescheid vom 10. Januar 2017 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfallereignisses als Arbeitsunfall ab. Zum Unfallzeitpunkt sei der Kläger über seinen Wohnort hinaus in südöstlicher Fahrtrichtung unterwegs gewesen. Sowohl sein Wohnort als auch sein Arbeitsort befänden sich in entgegengesetzter Richtung. Der Verkehrsunfall habe sich somit auf einem Abweg ereignet.

 

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Zu dessen Begründung trug er vor, dass die Beklagte die Beweislast für eine Abkehr vom versicherten Weg trage, da es sich bei der Unterbrechung oder Beendigung des Weges um eine anspruchshindernde Tatsache handele. Es ließe sich nicht feststellen, dass seine Handlungstendenz auf ein Verlassen des versicherten Arbeitsweges gerichtet gewesen sei. An den Unfall sowie die unmittelbare Zeit davor habe er keine Erinnerung. Es sei davon auszugehen, dass er [der Kläger] aufgrund der zum Unfallzeitpunkt festgestellten starken Unterzuckerung bereits vorher orientierungslos gewesen, daher an seiner Wohnung vorbeigefahren und deshalb auf den Abweg geraten sei. Er sei daher auf diesem weiter versichert gewesen. Auf das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. November 2004 - L 3 U 132/04 - werde insoweit verwiesen.

 

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zog die Beklagte u.a. die Unfallakte des Landkreises P. bei und holte eine beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Q. vom 31. August 2017 ein, wonach die Blutzuckerwerte bei Aufnahme in die stationäre Behandlung und im weiteren Tagesverlauf keine Unterzuckerung ergeben hätten. Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 2017 den Widerspruch als unbegründet zurück. Ein irrtümlicher Abweg sei ausgeschlossen. Die Blutwerte hätten keine Unterzuckerung ergeben. Bei einer starken Unterzuckerung bereits an seinem Wohnort wäre der Kläger nicht mehr in der Lage gewesen - wie es Zeugen berichtet hätten - auf die Lichthupe entgegenkommender Pkw auf der übrigen Strecke bis zum Unfallort zu reagieren. Das Endziel des Weges sei unbekannt. Der fehlende Grund für die Abweichung vom direkten Weg gehe zulasten des Klägers. Auf das Urteil des BSG vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - werde insoweit verwiesen.

 

Gegen den Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 24. Oktober 2017 beim Sozialgericht (SG) Klage erhoben. Zu deren Begründung hat er im Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft.

 

Im Rahmen des Klageverfahrens hat die Beklagte eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Q. vom 9. Februar 2018 beigebracht. Danach kann ein Orientierungsverlust i.S.e. isolierten Störung der Orientierung bei erhaltener Fähigkeit ein Auto zu lenken nicht als Folge einer Unterzuckerung auftreten. Es handele sich stets um eine systemische Reaktion des Körpers mit weiteren Symptomen wie z.B. Kopfschmerzen, Verstimmung, Reizbarkeit, Verwirrtheit und Koordinationsstörungen. Diese müssten belegt werden. Ohne andere Symptome sei ein Vorbeifahren des Klägers an seinem Wohnort aufgrund Unterzuckerung nicht möglich.

 

Auf Anordnung des SG hat der Facharzt für Innere Medizin Prof. Dr. R. am 6. Mai 2019 ein Gutachten erstattet. Danach litt der Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter einer Unterzuckerung, was sich aus den erniedrigten Blutwerten ergebe. Infolgedessen eintretende Symptome wie Verwirrtheit und Desorientierung seien in der Lage, den Willen des Klägers auf der Rückfahrt von der Arbeitsstätte zu seinem Wohnort wesentlich zu beeinträchtigen. Das Bedienen eines Pkw mag dabei gerade noch gehen, aber sicheres Fahren sei völlig unmöglich. Ihm [dem Gutachter] lägen jedoch nicht ausreichend Daten vor, um Ausmaß und Dauer der Unterzuckerung vor dem Unfall genau einzugrenzen. Unter der Annahme, dass der Blutzucker zum Zeitpunkt des Antrittes der Fahrt etwa zehn Minuten vor dem Passieren der Wohnung vielleicht schon bei 50 bis 60 mg/dl i.S.e. leichten Unterzuckerung erniedrigt gewesen sei, sei es wahrscheinlich, dass die Unterzuckerung auch weiter im Zeitpunkt des Passierens des Wohnhauses des Klägers und zum Zeitpunkt des Unfalles vorgelegen habe. Auch bei Normwerten des Blutzuckers bei Fahrtantritt sei es, unter der Annahme, dass der Blutzucker im Sinkflug begriffen gewesen sei, wahrscheinlich, dass die Unterzuckerung bereits im Zeitpunkt des Passierens des Wohnhauses des Klägers vorgelegen habe. Nach diabetologischer Erfahrung sei dies hinreichend wahrscheinlich, aber bei lückenhafter Datengrundlage nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen.

 

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. September 2019 führte Prof. Dr. R. aus, dass unter der (wahrscheinlichen) Annahme, dass der Kläger bereits die Fahrt mit einem niedrigen oder sogar erniedrigten Blutzucker angetreten und nichts zu sich genommen hat, und in Kenntnis des erniedrigten Blutzuckerwertes nach dem Unfall die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist - nahezu mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit -, dass der Blutzucker auch zum Zeitpunkt des Passierens des Hauses erniedrigt gewesen ist. Bei vernünftiger, lebensnaher Betrachtung bestehe überhaupt kein Zweifel an dem Vorliegen einer Unterzuckerung zu diesem Zeitpunkt. Ohne Kenntnis der Ausgangssituation vor Antritt der Fahrt sei die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Blutzucker zum Zeitpunkt des Passierens des Wohnhauses erniedrigt gewesen sei, zweifellos geringer, aber immer noch hoch. Allerdings bestehe sie nicht mehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. In der Zusammenschau bestehe bei vernünftiger lebensnaher Betrachtung auch hier kein begründbarer Zweifel an dem Vorliegen einer Unterzuckerung zu dem genannten Zeitpunkt wenige Minuten vor dem Unfall.

 

Auf Antrag des Klägers (§ 109 SGG) hat das SG ein Gutachten der Fachärztin für Innere Medizin S. vom 21. August 2020 eingeholt. Danach bestand bei dem Kläger zum Zeitpunkt des Unfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Unterzuckerung. Das von Zeugen beschriebene Fahrverhalten des Klägers vor dem Unfall und das Ausmaß des Kontrollverlustes zum Zeitpunkt des Unfalls zeigten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an, dass die schwere Unterzuckerung bereits viele Minuten vor dem Unfall begonnen habe. Sie [die Gutachterin] halte es für ausgeschlossen, dass der Kläger beim Passieren seines Wohnhauses noch Kontrolle über die Situation gehabt haben solle. Aus diabetologischer Sicht habe die Unterzuckerung bereits beim Verlassen der Arbeitsstätte bestanden.

 

Abschließend hat die Beklagte eine weitere beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. Q. vom 4. November 2020 beigebracht.

 

Mit Gerichtsbescheid vom 14. September 2021 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, das streitige Unfallereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen. Obwohl der Kläger zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls unstreitig an der Abzweigung zu seinem Wohnhaus vorbeigefahren sei, habe er sich zum Unfallzeitpunkt weiter auf dem versicherten Rückweg von der Arbeitsstätte befunden. Es habe ein mit dem Erhalt des Versicherungsschutzes der gesetzlichen Unfallversicherung auf diesem Abweg verbundener Sonderfall dergestalt vorgelegen, dass der Kläger aufgrund der seiner Diabeteserkrankung geschuldeten starken Unterzuckerung zum Zeitpunkt der Vorbeifahrt an der Abzweigung zum Wohnhaus nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine bewusste Entscheidung zur Einleitung des Abbiegevorgangs zu treffen. Das Gericht folge insoweit den eingeholten Gutachten.

 

Gegen den Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 14. Oktober 2021 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung führt sie aus, dass zunächst nicht im erforderlichen Vollbeweis feststehe, dass der Kläger im Zeitpunkt des Abweges bereits derart unterzuckert gewesen sei, dass er sich allein bedingt durch die daraus folgende Verwirrtheit auf den Abweg begeben habe. Es werde insoweit auf die Ausführungen des Gutachters Prof. Dr. R. verwiesen, wonach nicht ausreichend Daten vorgelegen hätten, um Ausmaß und Dauer der Unterzuckerung vor dem Unfall genau einzugrenzen. Nach ihm sei ohne Kenntnis der Ausgangssituation vor Antritt der Fahrt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Blutzucker zum Zeitpunkt des Passierens des Hauses erniedrigt gewesen sei, hoch, allerdings nicht im Grade einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. Auch in rechtlicher Hinsicht halte der Gerichtsbescheid einer Überprüfung nicht stand. Das BSG habe im Gegensatz zum Urteil vom 18. April 2000 - B U 7/99 R - in demjenigen vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - für einen versicherten Abweg bei einer irrtümlichen Abweichung nur auf äußere, mit der Art des Weges zusammenhängende Gefahren abgestellt. Daher werde bezweifelt, dass jedes irrige Abweichen aus innerer Ursache zu einem versicherten Abweg führe. Es sei nicht einzusehen, warum in die Wegeunfallversicherung Abwege aus innerer Ursache miteinzubeziehen sein sollten, wenn die Wegeunfallversicherung doch gerade vor äußeren Gefahren des Arbeitsweges schützen solle. Letztlich fehle es auch an einer Unfallkausalität. In dem Unfall selbst habe sich kein Risiko verwirklicht, das vom Schutzzweck der Wegeunfallversicherung gedeckt sei, wenn man davon ausginge, dass hier im Vollbeweis eine innere Ursache den Unfall herbeigeführt habe.

 

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

 

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 14. September 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Aus den Gutachten folge, dass die Unterzuckerung allein ursächlich für das Vorbeifahren an der Heimatstraße gewesen sei. Der Kläger habe sich nicht auf einem unversicherten Abweg befunden. Dies folge auch aus dem Urteil des SG Hamburg vom 18. November 2011 - S 40 U 314/07, dem auch der Fall einer Abweichung vom Arbeitsweg aufgrund Verwirrung infolge Unterzuckerung zugrunde gelegen habe. Vorliegend dürfe nichts Anderes gelten. Das Urteil des BSG vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - sei nicht anwendbar, weil der Kläger sich nicht "verirrt" habe. Er habe sich auf dem direkten Weg von seiner Arbeitsstätte zu seiner Wohnung befunden.

 

Mit Schriftsätzen jeweils am 9. April 2024 bei Gericht eingegangenen Schriftsätzen haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen sind.

 

Aus den Gründen

Der Senat kann vorliegend durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben.

 

Die zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat mit der angegriffenen Entscheidung zu Unrecht die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verpflichtet, das Unfallereignis vom 11. November 2016 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den streitigen Verkehrsunfall als Arbeitsunfall (Wegeunfall) anzuerkennen.

 

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt damit voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität) (st. Rspr. d. BSG, vgl. Urt. v. 30. Januar 2020 - B 2 U 19/18 R - Rn. 13, juris, und Urt. v. 28. Juni 2022 - B 2 U 16/20 R - Rn. 11, juris, jeweils m.w.N.).

 

Der Kläger erlitt zwar, indem er mit dem Lkw kollidierte, eine zeitlich begrenzte, von außen kommende Einwirkung auf seinen Körper und damit einen Unfall i.d. Sinne. Dieser führte zu multiplen Verletzungen, u.a. einem Schädel-Hirn-Trauma und damit zu einem Gesundheitsschaden. Auch war der Kläger zum Unfallzeitpunkt dem Grunde nach als Beschäftigter der A. gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Allerdings befand er sich zum Zeitpunkt des Unfallereignisses nicht mehr auf einem versicherten Weg, so dass der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung entfiel.

 

Gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII sind versicherte Tätigkeiten auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Ein sachlicher Zusammenhang mit dem versicherten Zurücklegen des Weges i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII besteht, wenn das konkrete Handeln des Versicherten zur Fortbewegung auf dem Weg zur oder von der versicherten Tätigkeit gehört. Maßgebend für die Beurteilung, ob eine konkrete Verrichtung der grundsätzlich versicherten Fortbewegung dient, ist die Handlungstendenz des Versicherten. Das Handeln muss subjektiv - zumindest auch - auf die Erfüllung des Tatbestands der jeweiligen Tätigkeit ausgerichtet sein. Darüber hinaus muss sich die subjektive Handlungstendenz als von den Instanzgerichten festzustellende Tatsache im äußeren Verhalten des Handelnden (Verrichtung), so wie es objektiv beobachtbar ist, widerspiegeln (vgl. BSG, Urt. v. 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - Rn. 15, juris). Bei allen (Rück-)Wegen setzt § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII nur den Ort der versicherten Tätigkeit als Startpunkt fest ("von"), lässt aber das Ziel offen. Daher ist in jedem Einzelfall festzustellen, welches individuelle Ziel der Versicherte ansteuerte, als er verunglückte. Zwischen dem gesetzlich festgelegten Startpunkt und dem ermittelten Zielpunkt ist nicht der Weg an sich, sondern dessen Zurücklegen versichert, also das "Sichfortbewegen" bzw. "Unterwegssein" auf der Strecke zwischen beiden Punkten mit der Handlungstendenz, den - typischerweise im Privatbereich gelegenen - Zielort zu erreichen. Die konkrete, objektiv beobachtbare Verrichtung des Sichfortbewegens auf dem Weg zum Zielort muss der Betroffene auch subjektiv zu diesem Zweck durchgeführt haben (vgl. BSG, Urt. v. 28. Juni 2022 - B 2 U 16/20 R - Rn. 12 f., juris m.w.N.).

 

Nach dem Vortrag des Klägers bewegte er sich - soweit er sich erinnern kann - nach Beendigung seiner Tätigkeit und Verlassen des Arbeitsortes zunächst mit dem Willen fort, seine Wohnung an der Adresse N. zu erreichen. Weder aus seinem Vortrag noch aus sonstigen Umständen lässt sich feststellen, dass der Kläger sich zu einem anderen Ziel fortbewegte und fortbewegen wollte, an dem er zwei Stunden oder mehr hätte verbringen wollen (sog. dritter Ort).

 

Zum Zeitpunkt des Unfallereignisses befand sich der Kläger jedoch auf einem unversicherten Abweg, weil er den direkten Weg zu seiner Wohnung verlassen hatte. Wie sich aus dem Wortlaut des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII und dem dort verwendeten Begriff "unmittelbar" ergibt, steht grundsätzlich nur das Zurücklegen des direkten Weges nach und von der versicherten Tätigkeit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Allerdings berühren geringfügige Unterbrechungen, die auf einer Verrichtung beruhen, die bei natürlicher Betrachtung zeitlich und räumlich noch als Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit in seiner Gesamtheit anzusehen ist, und gleichsam "im Vorbeigehen" oder "ganz nebenher" erledigt werden kann, den Versicherungsschutz nicht. Bewegt sich der Versicherte dagegen nicht auf direktem Weg in Richtung seiner Arbeitsstätte oder seiner Wohnung, sondern in entgegengesetzter Richtung von diesem Ziel fort, befindet er sich auf einem sog Abweg. Wird ein solcher Abweg bei einer mehr als geringfügigen Unterbrechung des direkten Weges zurückgelegt, besteht, sobald der direkte Weg verlassen und der Abweg begonnen wird, kein Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung. Erst wenn sich der Versicherte wieder auf dem direkten Weg befindet und der Abweg beendet ist, besteht erneut Versicherungsschutz (vgl. BSG, Urt. v. 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - Rn. 17, juris).

 

Der Kläger befand sich unmittelbar vor dem Unfall nicht mehr auf dem direkten, üblichen Weg von seiner Arbeitsstätte zu seiner Wohnung, unabhängig davon, ob dieser - wie im Verwaltungsverfahren durch einen eingereichten Kartenausschnitt verdeutlicht - über T. -U. -V. -W. -X. -Y. -Z. oder - wie im Klageverfahren durch einen eingereichten Kartenausschnitt verdeutlicht - über B. -U. -V. -W. -X. -AA. -AB. -Z. führte. Denn der Unfall ereignete sich auf Höhe der AC. in M. und damit 4,8 km vom Wohnort des Klägers bzw. 4,0 km von der Einmündung der Straße Z. in den AB. entfernt und in der entgegengesetzten Richtung zum Arbeitsort. Bereits aufgrund der zurückgelegten Distanz handelt es sich nicht um eine unerhebliche Abweichung vom (üblichen) Arbeitsweg. Wann und an welcher Stelle genau der Abweg begann, also entweder bei der letztgenannten Route an der Einmündung der Straße Z. in den AB. oder beim unmittelbaren Vorbeifahren an der Wohnung N. im Falle der erstgenannten Route, kann dabei offenbleiben, da der Kläger sich zum Unfallzeitpunkt in jedem Fall auf einem erheblichen Abweg befand.

 

Der Kläger war auf dem von ihm eingeschlagenen Abweg nicht ausnahmsweise in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert.

 

Nicht jedes Abweichen vom direkten Weg führt zu einer Lösung des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes in der Wegeunfallversicherung. Versicherungsschutz kann ausnahmsweise auch auf einem Abweg bestehen, wenn dieser im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Der Versicherungsschutz bleibt erhalten, wenn der Versicherte irrtümlich von dem direkten Weg aus Gründen abweicht, die ihrerseits mit dem Zurücklegen des versicherten Weges, insbesondere seiner Beschaffenheit, in Zusammenhang stehen. So besteht Versicherungsschutz in der Wegeunfallversicherung auch auf irrtümlich befahrenen Wegstrecken, wenn der Irrtum auf äußeren, mit der besonderen Art des Weges verbundenen Gefahren, wie z.B. Dunkelheit, Sichtbehinderung durch Nebel, schlecht beschilderte Wege oder dergleichen, beruht. Das Verirren resultiert in einem solchen Fall aus Umständen, die sich gerade aus der äußeren Beschaffenheit des Verkehrsraumes ergeben, den der Versicherte zum Aufsuchen seiner Arbeitsstelle oder zur Rückkehr von seiner Arbeitsstelle zu seiner Wohnung - also betrieblich veranlasst - nutzen muss, und ist deshalb im Hinblick auf den Schutzzweck der Wegeunfallversicherung in den Versicherungsschutz einbezogen. Dagegen besteht kein Versicherungsschutz, wenn die irrtümliche Abweichung von dem direkten Weg nicht auf äußeren, mit der besonderen Art des Weges und seinen Gefahren zusammenhängenden, sondern auf in der Person des Versicherten liegenden, eigenwirtschaftlichen Gründen - wie z.B. Unaufmerksamkeit aufgrund angeregter Unterhaltung - beruht. Denn in diesem Fall wird der Abweg aus Gründen zurückgelegt, die gerade nicht auf der Beschaffenheit der zurückzulegenden Wegstrecke, sondern auf Umständen aus dem eigenwirtschaftlichen Bereich beruhen (vgl. BSG, Urt. v. 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - Rn. 19, juris).

 

Vorliegend ist weder vom Kläger vorgetragen worden noch für den Senat ersichtlich, dass der Kläger aufgrund äußerer, mit der Beschaffenheit des Weges im Zusammenhang stehenden Gründen von dem direkten Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung abgewichen ist. Der Kläger selbst beruft sich insoweit allein darauf, dass er infolge einer Orientierungslosigkeit/Verwirrtheit infolge einer diabetesbedingten Unterzuckerung irrtümlich auf den Abweg gelangt sei. Nach der oben zitierten Rechtsprechung des BSG stellt dies jedoch gerade keinen den Versicherungsschutz ausnahmsweise auch auf dem Abweg begründenden Umstand dar. Denn Ursache für das Einschlagen des Abweges ist damit gerade nicht ein Umstand, der mit der Beschaffenheit des Arbeitsweges zusammenhängt, sondern allein ein solcher, der in der Person des Klägers begründet, hier seiner Diabetes-Erkrankung und ggf. der mangelnden Aufnahme von Kohlenhydraten vor und während der Fahrt, und damit dem unversicherten eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen ist (vgl. zum Verirren aufgrund einer "regen Unterhaltung", welche ebenfalls einen Umstand darstellt, der rechtlich wesentlich dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen ist BSG, Urt. v. 24. März 1998 - B 2 U 4/97 R - Rn. 26, juris).

 

Soweit das BSG in seinem Urteil vom 18. April 2000 - B 2 U 7/99 R - noch offenbar davon ausging, dass eine durch diabetesbedingte Unterzuckerung ausgelöste, im Zeitpunkt des Passierens einer zum Betrieb führenden Abzweigung eingetretenen und bis zum Unfall anhaltenden Bewusstseinsstörung, die den auf die Rückfahrt zum Betrieb gerichteten Willen des Versicherten ausschließt oder wesentlich beeinträchtigt, einen Versicherungsschutz auf dem Abweg begründen kann (vgl. dort Rn. 28 und 31, juris), ist dem vor dem Hintergrund des Urteils des BSG vom 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - nicht zu folgen. Der Senat ist zudem der Auffassung, dass eine Einbeziehung von Abwegen, die - wie hier - irrtümlich allein aufgrund innerer, eigenwirtschaftlicher Ursachen eingeschlagen werden, in die Wegeunfallversicherung eine Überdehnung des Versicherungsschutzes auf Arbeitswegen darstellte und zudem dem Sinn und Zweck der Wegeunfallversicherung widerspräche. Die Wegeunfallversicherung schützt nämlich allein vor Gefahren für Gesundheit und Leben, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fußgänger oder Benutzer eines Verkehrsmittels, also aus eigenem oder fremden Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen während der Zurücklegung des Weges hervorgehen (vgl. BSG, Urt. v. 17. Dezember 2015 - B 2 U 8/14 R - Rn. 23, juris). Allein aus privatwirtschaftlichen Gründen veranlasste Wegstrecken oder Unterbrechungen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit stehen dagegen grundsätzlich nicht unter Unfallversicherungsschutz. Der Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung gebietet auch keine Ausweitung dieses Schutzes auf irrtümlich befahrene Abwege, wenn die Gründe hierfür nicht im Zusammenhang mit der Beschaffenheit der Wegstrecke stehen. Dies wäre nicht mehr vom Zweck der Wegeunfallversicherung gedeckt, Versicherungsschutz auf Wegen, die wegen der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, und aufgrund von Gefahren, die aus der Beschaffenheit dieser Wege herrühren, zu gewähren (vgl. BSG, Urt. v. 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - Rn. 20, juris m.w.N.). Ob etwas Anderes gilt, wenn die Unterzuckerung und damit ggf. auch die Orientierungslosigkeit betriebliche Ursachen haben (vgl. dazu BSG, Urt. v. 18. April 2000 - B 2 U 7/99 R - Rn. 26, juris), bedarf keiner Klärung. Denn betriebliche Gründe für die Unterzuckerung vermag der Senat nicht festzustellen. Solche sind weder vom Kläger vorgetragen worden noch ansonsten ersichtlich.

 

Der Senat schließt sich vor dem Hintergrund obiger Ausführungen nicht der Auffassung des LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 9. November 2004 - L 3 U 132/04) an. Danach soll auch der Abweg, auf den ein Versicherter infolge einer Orientierungslosigkeit aufgrund von Unterzuckerung bei Diabetes-Erkrankung gelangt ist, vom Schutz durch die Wegeunfallversicherung umfasst sein (vgl. dort Rn. 30, juris). Diese Auffassung widerspricht dem oben aufgeführten Zweck der Wegeunfallversicherung vor äußeren Gefahren zu schützen, die durch die Teilnahme am Straßenverkehr entstehen. Gleiches gilt für die vom SG Hamburg in seinem Urteil vom 18. November 2011 - S 40 U 314/07 - geäußerte Auffassung, dass eine infolge Unterzuckerung eingetretene Bewusstseinsstörung beim Verlassen des direkten Weges den Versicherungsschutz auf dem Abweg nicht entfallen lässt (vgl. dort Rn. 39, juris).

 

Unerheblich ist, dass der Kläger sich auf dem aus innerer Ursache eingeschlagenen Abweg subjektiv weiter mit der Handlungstendenz seine Wohnung erreichen zu wollen, weiterbewegt hat. Die oben zitierten Grundsätze nach der Rechtsprechung des BSG gelten nämlich auch in diesem Fall. Für die Frage, ob auf einem irrtümlichen Abweg Versicherungsschutz besteht, ist nicht allein die Handlungstendenz des Versicherten auf dem Abweg maßgeblich, sondern die den Irrtum begründenden Umstände, weil grundsätzlich nur das Zurücklegen des unmittelbaren Weges und nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Abweg unter Versicherungsschutz steht. Dementsprechend ist das Bestehen des Versicherungsschutzes in der Wegeunfallversicherung in Fallkonstellationen zu verneinen, in denen der Versicherte eine Wegstrecke zwar subjektiv auch deshalb zurücklegte, weil er seine Arbeitsstelle bzw. seine Wohnung erreichen wollte, sich aber aus eigenwirtschaftlichen Gründen im Unfallzeitpunkt objektiv auf einem Abweg befand (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 21, juris). Dies ist - ausgehend von einer Orientierungslosigkeit infolge Unterzuckerung bei Diabetes-Erkrankung - hier gerade der Fall.

 

Der fehlende Nachweis von Gründen, die das Einschlagen des Abweges rechtfertigen könnten, geht zulasten des Klägers. Er trägt für die Nichterweislichkeit der für den eingeschlagenen Abweg maßgeblichen, den Versicherungsschutz begründenden Gründe die objektive Beweislast. Da die irrtümliche Nutzung eines objektiv nicht in Richtung der Arbeitsstätte führenden Weges nur unter bestimmten Umständen unter Versicherungsschutz steht, handelt es sich bei diesen Umständen - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht um anspruchsvernichtende, sondern anspruchsbegründende Tatsachen (vgl. BSG, Urt. v. 20. Dezember 2016 - B 2 U 16/15 R - Rn. 24, juris).

 

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

 

Die Revision wird zugelassen, da der Senat der Frage, ob ein Abweg, der aufgrund einer Bewusstseinsstörung bzw. Orientierungslosigkeit infolge einer inneren Ursache eingeschlagen wird, unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung steht, grundsätzliche Bedeutung beimisst (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

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