R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Arbeitsrecht
20.07.2017
Arbeitsrecht
HessStGH: Keine Prüfung des Streikrechts für Pilotenvereinigung Cockpit aus Hessischer Verfassung

HessStGH, Urteil vom 10.5.2017 – P.St. 2545

Volltext des Urteils: BB-ONLINE BBL2017-1728-1

unter    www.betriebs-berater.de

AMTLICHE LEITSÄTZE

1.         Enthalten  Landesgrundrechte  weitergehende  Gewährleistungen als Bundesgrundrechte, besteht Raum für die Kontrolle der  Anwen- dung von Bundesrecht durch die Landesstaatsgewalt  am  Maßstab von Landesgrundrechten nur, wenn das Bundesrecht dem Gesetzes- anwender einen Entscheidungsspielraum belässt, in dem sich das Landesgrundrecht  entfalten  kann;  ansonsten  darf  die  Anwendung von Bundesrecht nur am Maßstab  von Landesverfassungsrecht über- prüft werden, das  mit  Grundrechten  des  Grundgesetzes  inhalts- gleich  ist.

2.         Ein Gericht des Landes Hessen darf einer Gewerkschaft kein über Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehendes Streikrecht aus Art. 29 Abs. 4 HV zu- billigen. Das folgt aus Art. 31 GG und Art. 142 GG.

3.         Der durch die Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG gesetzte Rahmen, innerhalb dessen sich gewerkschaftliche Arbeits- kampfmaßnahmen halten müssen, lässt einem  Gericht  des  Landes bei der Prüfung eines  gegen solche Maßnahmen geltend gemachten Unterlassungsanspruchs gem. §§ 823, 1004 BGB keinen Raum für die Berücksichtigung einer etwaigen landesverfassungsrechtlichen Mehr- gewährleistung nach Art. 29 Abs. 4 HV. Denn im Falle der  Zuerken- nung eines über Art. 9 Abs. 3 GG  hinausreichenden  Streikrechts  aus der Hessischen Verfassung entstünde ein über Art. 31 GG aufzulö- sender Konflikt zwischen Bundes und Landesgrundrecht,  da  die  in Art. 12 und Art. 14 GG geschützten Grundrechte der Arbeitgeber weitergehend als durch das bundesverfassungsrechtliche Komple- mentärgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG eingeschränkt würden  (Fall sog.  mehrpoliger  Rechtsverhältnisse).

GG Art. 9 Abs. 4, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1;  HV Art. 29 Abs. 4

Sachverhalt

A

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen ein im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangenes Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. September 2015, in dem ihr die Durchführung eines Streiks sowie der Aufruf ihrer Mitglieder zum Streik untersagt worden sind. Die Antragstellerin sieht sich durch dieses Urteil in ihrem durch Art. 29 Abs. 4 der Hessischen Verfassung - HV - garantierten Streikrecht verletzt.

Die Antragstellerin ist eine Gewerkschaft, in der Cockpitbesatzungspersonal der zivilen Luftfahrt organisiert ist. Seit Ende 2013 verhandelten die Antragstellerin und der für die DL. AG und die LC. AG tätige Arbeitgeberverband über den Abschluss neuer Tarifverträge, die insbesondere Regelungen der Übergangsversorgung des Cockpitpersonals der DL. AG und der LC. AG enthalten sollten.

Anfang 2014 führte die Antragstellerin eine Urabstimmung unter ihren Mitgliedern durch, deren Gegenstand die Durchführung von Streikmaßnahmen zur „Durchsetzung [der] Forderung [...] zu einem neuen Tarifvertrag Übergangsversorgung“ war. Nach Zustimmung der erforderlichen Mehrheit ihrer Mitglieder rief die Antragstellerin zu einem ersten Streik vom 2. bis 4. April 2014 auf, weitere Streiks folgten in der Zeit von Mai bis Juli 2014.

Im Juli 2014 stellte die DL. AG der Öffentlichkeit ein Konzept zum Konzernumbau vor (sog. „Wings“-Konzept). Danach soll die bereits existierende ausländische Tochtergesellschaft der DL. AG Interkontinentalflüge auf niedrigem Kostenniveau anbieten. Die Antragstellerin kritisiert dieses Konzept, da es nach ihrer Auffassung mit dem Abbau von Arbeitsplätzen, deren regionaler Verlagerung zu schlechteren Bedingungen und der Schaffung konzerninterner Konkurrenz mit dem Zweck der Schwächung der Antragstellerin als Tarifpartei verbunden sei.

Im Zeitraum zwischen August 2014 und März 2015 streikten die Mitglieder der Antragstellerin insgesamt weitere elf Mal, unter anderem gegen die DL. AG und die LC. AG. Deren Versuche, die Arbeitskampfmaßnahmen der Antragstellerin im Wege einstweiliger Anordnungen gerichtlich untersagen zu lassen, blieben erfolglos.

Mit Beschlüssen vom 4. September 2015 entschied die Antragstellerin, bei der LC. AG am 8. September 2015 und bei der DL. AG am 8. und 9. September 2015 Streiks durchzuführen. Die Beschlüsse sowie die ihnen folgenden Streikaufrufe bezeichnen ausweislich ihres Inhalts als Streikziel jeweils den Abschluss eines „Tarifvertrages Übergangsversorgung für das Cockpitpersonal“.

Die DL. AG und die LC. AG stellten daraufhin vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Anträge auf Untersagung eines Streikaufrufs bzw. der Durchführung eines Streiks, weil die Antragstellern mit den geplanten Streiks auch das „Wings-Konzept" verhindern wolle und deshalb ein teilweise unzulässiges Streikziel verfolge. Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main lehnte die Anträge mit Urteil vom 8. September 2015 als unbegründet ab. Die Arbeitskampfmaßnahmen der Antragstellerin seien nicht rechtswidrig, da sie keine unzulässigen Streikziele verfolge. Abzustellen sei bei der Bestimmung des Streikzieles aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit allein auf den Inhalt der Streikbeschlüsse der Antragstellerin im Rahmen einer formalen Betrachtung. Aus den Streikbeschlüssen ergebe sich, dass Streikziel der Abschluss eines Tarifvertrages zur Übergangsversorgung für das Cockpitpersonal sei. Dieses Streikziel sei zulässig. Auf die hiergegen von der Antragstellerin eingelegte Berufung änderte das Hessische Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 9. September 2015 die Entscheidung des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main ab und untersagte der Antragstellerin, ihre Mitglieder zu bundesweiten Streiks am 9. September 2015 aufzurufen und/oder Streiks im genannten Zeitraum durchzuführen.

Zur Begründung führte es aus, der Streik sei offensichtlich rechtswidrig, weil es der Antragstellerin neben ihrem offen verlautbarten Ziel des Abschlusses eines neuen Tarifvertrags zur Übergangsversorgung auch darum gegangen sei, wegen des „Wings-Konzepts" Druck auf die DL. AG und die LC. AG aufzubauen, um diese von ihren Plänen zum Konzernumbau abzubringen. Dies sei unzulässig, da der Arbeitskampf um ein tariflich regelbares Ziel geführt werden müsse, was aber bei der Frage, ob eine Gesellschaft in Österreich gegründet werde und dort Piloten zu anderen Arbeitsbedingungen eingestellt würden, nicht der Fall sei. Die Kammer sei davon überzeugt, dass der Arbeitskampf im Schwerpunkt nicht um die Verbesserung der Übergangsversorgung geführt werde. Auch wenn die formellen Streikbeschlüsse für die Bestimmung des Streikzieles in erster Linie maßgeblich seien, sei gleichwohl anerkannt, dass auch auf Umstände außerhalb des formellen Streikbeschlusses abgestellt werden könne, wenn das gegenüber dem Arbeitgeber kommunizierte Kampfziel unklar sei.

II.

Gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts hat die Antragstellern Grundrechtsklage eingelegt. Zugleich hat sie Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben.

Sie erachtet die Grundrechtsklage als zulässig.

Der Rechtsweg sei erschöpft. Ein Verfahren in der Hauptsache stelle nach der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs im Verhältnis zum vorläufigen Rechtsschutz ein eigenständiges Verfahren dar.

Die parallel erhobene Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht führe gem. § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG nicht zur Unzulässigkeit der Grundrechtsklage nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG, da die Hessische Landesverfassung in Art. 29 Abs. 4 ein weiterreichendes Streikrecht gewähre als das Grundgesetz - GG - in Art. 9 Abs. 3.

Während sich der verfassungsrechtliche Schutz der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz nach herrschender Ansicht auf den Abschluss von Tarifverträgen beziehe, sei der Schutzbereich des Art. 29 Abs. 4 HV weiter gefasst. Insbesondere lasse sich der Norm nach ihrem eindeutigen Wortlaut keine Beschränkung des in der Hessischen Verfassung gewährleisteten Streikrechts auf tariffähige Ziele entnehmen. Für diese Sichtweise streite auch die systematische Auslegung der Hessischen Verfassung. Denn Art. 36 HV enthalte bezogen auf Gewerkschaften und Unternehmervertretungen Regelungen, die Art. 9 Abs. 3 GG entsprächen. Die Hessische Verfassung gehe über eine solche „Basisregelung“ jedoch hinaus, indem sie mit Art. 29 Abs. 4 HV systematisch ein inhaltlich nicht weiter konditioniertes Streikrecht gewährleiste, das weder auf gesetzgeberische Anerkennung noch auf richterliche Billigung angewiesen sei. Dieses systematische Stufenverhältnis spreche für eine Mehrgewährleistung.

Dem stehe auch nicht entgegen, dass ein gegenüber dem Grundgesetz weitergehender Schutzbereich des Streikrechts aus der Hessischen Verfassung zu einer Einschränkung der Grundrechte der Arbeitgeber aus Art. 12 und Art. 14 GG führe. Das Grundrecht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 12 GG unterliege nämlich einem einfachen Gesetzesvorbehalt, könne daher durch einfaches Landesrecht und damit erst Recht durch die Landesverfassung eingeschränkt werden. Erkenne man diese Argumentation nicht an, entleere man die Grundrechte der Hessischen Verfassung eines eigenständigen Inhalts, was mit der Regelung des Art. 142 GG unvereinbar sei, die als lex specialis zu Art. 31 GG konzipiert sei.

Die Grundrechtsklage sei begründet, da die Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. September 2015 die Antragstellerin in ihrem Grundrecht aus Art. 29 Abs. 4 HV verletze. Das Hessische Landesarbeitsgericht habe bereits den weitergehenden Gewährleistungsgehalt des Art. 29 Abs. 4 HV verkannt und fälschlicherweise die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Einschränkungen des Schutzbereichs des Streikrechts in Art. 9 Abs. 3 GG auf das hessische Streikrecht übertragen. Die Entscheidung verlasse zudem auf tatsächlicher Ebene in unzulässiger Weise die für das einstweilige Rechtsschutzverfahren bestehende Bindung der Gerichte an die formalen Anknüpfungspunkte für die Bestimmung der hinter der Ausübung des Streikrechts stehenden Zielsetzungen; maßgeblich sei ausschließlich der Inhalt der Streikbeschlüsse. Übersehen habe das Gericht auch, dass Art. 29 Abs. 4 HV die Gerichte daran hindere, im einstweiligen Verfügungsverfahren ein Streikverbot anzuordnen, wenn zu dessen Begründung höchstrichterlich ungeklärte und schwierige Rechtsfragen zum Nachteil der zum Streik aufrufenden Gewerkschaft entschieden werden müssten. Überdies garantiere Art. 29 Abs. 4 HV die Weiterführung einer rechtmäßig begonnenen Tarifauseinandersetzung durch Einsatz weiterer Arbeitskampfmittel. Schließlich habe das Landesarbeitsgericht in verfassungsrechtlich unzulässiger Art und Weise ein angebliches „Streikziel hinter dem Streikziel“ gleichsam hinzugerechnet, das sie tatsächlich gar nicht verfolgt habe; jedenfalls gebiete Art. 29 Abs. 4 HV, wie dies auch bei der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 11 HV bzw. Art. 5 Abs. 1 GG anerkannt sei, dass die Gerichte bei Auslegung von Erklärungen und Verhalten der Gewerkschaften in Tarifkonflikten im Zweifel die das Streikrecht am geringsten beeinträchtigende Auslegungsalternative wählen müssten.

Mit der zum Bundesverfassungsgericht eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt die Antragstellerin im Kern, die Streikuntersagung durch das Hessische Landesarbeitsgericht verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG.

Die Antragstellerin beantragt,

1. festzustellen, dass das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. September 2015 - 9 SaGa 1082/15 - die Antragstellerin in ihrem Grundrecht aus Art. 29 Abs. 4 der Hessischen Verfassung verletzt;

2. das Urteil für kraftlos zu erklären.

III.

Der Antragsgegner beantragt,

die Grundrechtsklage zurückzuweisen.

Er hält sie bereits für unzulässig, da die Antragstellerin das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts auch vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen habe. Das nach Art. 29 Abs. 4 HV gewährleistete Streikrecht sei nicht umfassender als jenes nach Art. 9 Abs. 3 GG, da Art. 29 Abs. 4 HV kein anderes Prüfprogramm vorgebe als Art. 9 Abs. 3 GG und deshalb - nach den Maßstäben einer Prüfung der Antragsbefugnis ohne vorweggenommene Begründetheitsprüfung - nicht plausibel die Möglichkeit bestehe, dass das angegriffene Urteil zwar Art. 29 Abs. 4 HV, nicht jedoch Art. 9 Abs. 3 GG widerspreche.

Ein uneingeschränktes Streikrecht lasse sich auch nicht aus dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 4 HV herleiten. Die in der Norm erhaltene Formulierung „anerkannt" mache nämlich allenfalls deutlich, dass der Verfassungsgeber das Grundrecht nicht unter den Vorbehalt gesetzlicher Ausgestaltung gestellt habe. Soweit sich die Antragstellerin auf die Verfassungssystematik berufe und Art. 36 HV als „Basisregelung" der gewerkschaftlichen Betätigung entsprechend Art. 9 Abs. 3 GG deute, überzeuge dies bereits deshalb nicht, weil die Antragstellerin damit aus dem Text des Grundgesetzes von 1949 Rückschlüsse auf den Willen des Landesverfassungsgebers im Jahr 1946 ziehe. Es liege auch nicht nahe, dass bei einem solch vermeintlichen Stufenverhältnis die „Spezialregelung" der „Basisvorschrift" systematisch vorangestellt wäre. Die Zuordnung des Streikrechts zu Art. 29 HV könne überdies auch schlicht dem Schwerpunkt geschuldet sein, den der Verfassungsgeber der Norm gegeben habe, nämlich der Regelung des Arbeitsrechts, Tarifsystems und Schlichtungswesens. Hier füge sich das Streikrecht unproblematisch ein. Diese Einbindung, die eine Verknüpfung des gewerkschaftlichen Streikrechts in Art. 29 Abs. 4 HV mit den Vorschriften zu Tarifverträgen in Art. 29 Abs. 2 HV nahelege, widerspreche im Übrigen auch der Annähme der Antragstellern, das Streikrecht nach Art. 29 Abs. 4 HV bestehe unabhängig von tariflich regelbaren Zielen.

Für die Ansicht der Antragstellerin spreche auch nicht die teleologische Auslegung von Art. 29 Abs. 4 HV, da man als Zweck dieser Regelung nur festhalten könne, dass der gewerkschaftliche Streik privilegiert sei, nicht jedoch jegliche Beschränkung - etwa durch kollidierendes Verfassungsrecht - ausgeschlossen sein solle.

Unzweifelhaft sei aber - was die Antragstellerin selbst nicht anders vertrete -, dass das durch die Hessische Verfassung gewährleistete Streikrecht zumindest durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbar sei. Daher könne jedenfalls wegen Art. 31 GG den Gewerkschaften über Art. 29 Abs. 4 HV kein Streikrecht zugebilligt werden, das die Arbeitgeber stärker belaste als jenes nach Art. 9 Abs. 3 GG. Die Rechtsprechung zu dem aus Art. 9 Abs. 3 GG entwickelten Streikrecht der Gewerkschaften halte aber in Konkretisierung der verfassungsimmanenten Schranken des Streikrechts zur Herstellung eines verhältnismäßigen Ausgleiches mit den Rechten der Arbeitgeberseite auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG einen Arbeitskampf nur dann für zulässig, wenn er auf Abschluss eines rechtmäßigen Tarifvertrages gerichtet sei. Unternehmerische Entscheidungen seien danach der tariflichen Regelung entzogen. Würde ein Streik, der sich gegen eine unternehmerische Entscheidung richte, nach Art. 29 Abs. 4 HV gerichtlich erlaubt, bedeutete dies eine über die Grenzen des Art. 9 Abs. 3 GG hinausreichende Einschränkung der Grundrechte des Arbeitgebers aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 GG. Die Annahme der Antragstellerin eines durch Art. 29 Abs. 4 HV „inhaltlich nicht konditionierten Streikrechts“ führe daher zu einer Disharmonie mit den Artikeln 1 bis 18 GG, so dass Art. 29 Abs. 4 HV jedenfalls hinsichtlich einer überschießenden Gewährleistung insoweit nichtig, zumindest aber unanwendbar sei. Dann sei aber die Voraussetzung des § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG in keinem Fall erfüllt.

IV.

Die Landesanwältin beantragt,

die Grundrechtsklage zurückzuweisen.

Auch sie hält die Grundrechtsklage nach Maßgabe des § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG für unzulässig und schließt sich im Wesentlichen der Argumentation des Antragsgegners an. Jedenfalls könne diese landesverfassungsrechtliche Vorschrift den Gewerkschaften aufgrund der Regelung des Art. 31 GG kein im Umfang über Art. 9 Abs. 3 GG hinausreichendes Streikrecht zubilligen.

V.

Die DL. AG und die LC. AG - die Drittbegünstigten - halten die Grundrechtsklage aus den vom Antragsgegner genannten Gründen für unzulässig, darüber hinaus auch für unbegründet.

Die Grundrechtsklage sei überdies auch deshalb unzulässig, weil sie gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoße, dem es widerspreche, im Eilverfahren ergangene Entscheidungen im Wege einer Grundrechtsklage verfassungsrechtlich zu überprüfen, bevor das Fachgericht im Hauptsacheverfahren entschieden habe. Die Antragstellerin habe zunächst die Möglichkeit, die streitigen Fragen durch eine Feststellungsklage klären zu lassen, da auch vergangene Rechtsverhältnisse feststellungsfähig seien, etwa wenn eine Wiederholungsgefahr bestehe. Auf eine solche beziehe sich die Antragstellerin ausdrücklich. Soweit die Antragstellerin sich darauf berufe, aus verfassungsrechtlichen Gründen dürften im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes weder strittige Rechtsfragen entschieden noch Umstände außerhalb des Streikbeschlusses berücksichtigt werden, treffe diese These nicht zu; für Eilentscheidungen seien die gleichen rechtlichen Maßstäbe wie im Hauptsacheverfahren anzulegen, was sich schon aus der Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz ergebe.

Aus den Gründen

B

I.

Die fristgemäß erhobene Grundrechtsklage ist unzulässig.

Die Grundrechtsklage ist nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG unzulässig, weil die Antragstellerin in derselben Sache Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingelegt hat und auch kein Fall einer durch Landesgrundrechte verbürgten Mehrgewährleistung im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG vorliegt.

1. Verfassungsbeschwerde und Grundrechtsklage betreffen dieselbe Sache.

Beide Rechtsbehelfe wenden sich gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. September 2015. Die Antragstellern erstrebt in beiden Verfahren die Feststellung, dass sie durch diese Entscheidung in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Streikrecht verletzt ist. Zwar stützt sie sich in ihrer Grundrechtsklage auf die Behauptung einer Verletzung ihres in Art. 29 Abs. 4 HV gewährleisteten Grundrechts, während sie mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG rügt. Die Verfahren vor dem Staatsgerichtshof einerseits und dem Bundesverfassungsgericht andererseits betreffen daher wegen der formalen Unterschiedlichkeit der Prüfungsmaßstäbe (Landesverfassungsrecht einerseits, Bundesverfassungsrecht andererseits) unterschiedliche Verfahrensgegenstände.

- Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu u.a., BVerfGG, § 90 Rn. 431; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 142 Rn. 76; Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, Einleitung zu §§ 43-47 Rn. 4; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 309 f. -

Bei der Bestimmung des Begriffs „derselben Sache" in § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG darf indes nicht auf eine formale Betrachtungsweise abgestellt werden. Da die in der Norm enthaltene Subsidiaritätsbestimmung die Zweigleisigkeit des Grundrechtsschutzes verhindern soll, kommt es auf eine materielle Betrachtung des Streitstoffes und auf das in den beiden verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzverfahren angestrebte Ziel an.

- Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 43 Rn. 19 -

Die materielle Identität von Streitstoff und Ziel ist vorliegend schon deshalb offensichtlich, weil eine antragsgemäße Entscheidung des einen Verfassungsgerichts die des anderen gegenstandslos machte. Denn die Feststellung, dass das angegriffene Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts das Streikrecht der Antragstellerin verletzt, ist sowohl Ziel der Grundrechtsklage als auch der Verfassungsbeschwerde.

2. Nach § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG kann trotz materieller Identität des Streitstoffs und der Klageziele die Grundrechtsklage neben der Verfassungsbeschwerde erhoben werden, wenn die Hessische Verfassung einen weitergehenden Grundrechtsschutz als das Grundgesetz gewährleistet.

a) Es kann dahinstehen, ob die Antragstellern insoweit ihren Darlegungsobliegenheiten entsprochen und im Hinblick auf die positiven und negativen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 43 Abs. 1 StGHG

- vgl. hierzu Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 43 Rn. 78, 84 -

hinreichend substantiiert im Sinne von § 43 Abs. 2 StGHG vorgetragen hat. Fraglich ist dies, weil die Antragstellerin einerseits die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 29 Abs. 4 HV durch die Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts im einstweiligen Verfügungsverfahren rügt, es sich andererseits dabei bereits nach ihrem eigenen Vortrag um solche Rügen handelt, die sie unter Berufung auf Art. 9 Abs. 3 GG auch mit der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben hat.

Diese Frage kann offenbleiben, weil die Grundrechtsklage auch unter Berücksichtigung von § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG unzulässig ist.

Aus diesem Grund gibt es auch keine Veranlassung, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob der Staatsgerichtshof vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Oktober 1997

- BVerfGE 96, 345 ff. -

an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält, wonach er die Anwendung materiellen Bundesrechts durch die Landesstaatsgewalt - hier §§ 1004 Abs.1, 823 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB - in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3, Art. 12 und Art. 14 GG - am Maßstab der Hessischen Verfassung nicht überprüft.

- So StGH ESVGH 22, 13 [17]; 31, 174 [175]; 40, 1, [3]; Beschluss vom 14.04.1998 - P.St. 1076 -, StAnz. 1989, 1661 [1663]; Beschluss vom 13.01.1993 - P.St. 1143 - NVwZ 1994, 64; Beschluss vom 11.9.1998 - P.St. 1346 -, StAnz 1998, 4074 -

b) Die Grundrechtsklage gibt dem Staatsgerichtshof keine Veranlassung zu einer Entscheidung, ob sich aus Art. 29 Abs. 4 HV bei isolierter Betrachtung ein über die Gewährleistung von Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehendes Streikrecht herleiten lässt. Jedenfalls durfte das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung von Art. 31 GG und Art. 142 GG der Antragstellern auch in Ansehung von Art. 29 Abs. 4 HV kein Streikrecht zubilligen, das über dasjenige aus Art. 9 Abs. 3 GG hinausgeht.

 (aa) Art. 31 GG regelt als eine grundlegende Vorschrift des Bundesstaatsprinzips die Lösung von Widersprüchen zwischen Bundes- und Landesrecht. Können die sich in ihrem Regelungsbereich überschneidenden Normen bei ihrer Anwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, so bricht Bundesrecht jeder Rangordnung eine landesrechtliche Regelung auch dann, wenn sie Bestandteil des Landesverfassungsrechts ist.

- BVerfGE 96, 345 [364] -

Enthalten Landesverfassungen Grundrechte, die in Übereinstimmung mit den im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechten stehen, so bleiben die Grundrechte der Landesverfassungen nach Art. 142 GG in Kraft. Eine solche Übereinstimmung mit dem Grundgesetz ist anzunehmen, wenn der Gewährleistungsbereich der jeweiligen Grundrechte und ihre Schranken einander nicht widersprechen. Diese Widerspruchsfreiheit besteht bei Grundrechten, die inhaltsgleich sind. Inhaltsgleich sind Grundrechte, wenn sie „den gleichen Gegenstand in gleichem Sinne, mit gleichem Inhalt und in gleichem Umfang" regeln.

- BVerfGE 96, 345 [365] -

Aber auch Landesgrundrechte, die im Vergleich zu den korrespondierenden Bundesgrundrechten einen weitergehenden oder geringeren Schutz verbürgen, widersprechen diesen nicht, weil das jeweils engere Grundrecht insoweit eine bloße Mindestgarantie verbürgt.

- Sacksofsky, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 142 Rn. 40 (Nov. 2004); Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 142 Rn. 14 (Okt. 2008); Huber, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 142 Rn. 12 f.; vgl. BVerfGE 96, 345 [365] -

Enthalten die Landesgrundrechte weitergehende Gewährleistungen, besteht Raum für die Kontrolle der Anwendung von materiellem Bundesrecht durch die Landesstaatsgewalt am Maßstab von Landesgrundrechten allerdings nur, wenn das Bundesrecht dem Gesetzesanwender einen Entscheidungsspielraum belässt, in dem sich das Landesgrundrecht entfalten kann;

- Sacksofsky, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 142 Rn. 110 ff. (Nov. 2004); Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 142 Rn. 52; Rozek, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 85 Rn. 44; ebenso Günther, Verfassungsgerichtsbarkeit in Hessen, 2004, § 43 Rn. 46 (S. 764) im Falle der Anwendung von Bundesverfahrensrecht -

nur in diesem Fall können die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG erfüllt sein. Ansonsten darf die Anwendung von Bundesrecht nur am Maßstab von Landesverfassungsrecht überprüft werden, das mit Grundrechten des Grundgesetzes inhaltsgleich ist.

 (bb) Das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts beruht primär auf der Anwendung von materiellem Bundesrecht. Es hat die Untersagungsverfügung mangels spezieller einfachrechtlicher Regelung des Streikrechts auf die §§ 1004 Abs. 1 und 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 12 und 14 GG gestützt und dabei die Grundrechte der DL. AG und LC. AG - der Drittbegünstigten - aus Art. 12 und 14 GG mit dem Streikrecht der Gewerkschaft C. - der Antragstellerin - aus Art. 9 Abs. 3 GG abgewogen.

Der durch die Art. 9 Abs. 3, Art. 12 und Art. 14 GG gesetzte Rahmen, innerhalb dessen sich Arbeitskampfmaßnahmen halten müssen, lässt einem Gericht des Landes bei Prüfung eines gegen solche Maßnahmen geltend gemachten Unterlassungsanspruchs gem. §§ 823, 1004 BGB keinen Raum für die Berücksichtigung einer etwaigen landesverfassungsrechtlichen Mehrgewährleistung nach Art. 29 Abs. 4 HV. Denn im Falle der Zuerkennung eines über Art. 9 Abs. 3 GG hinausreichenden Streikrechts nach Art. 29 Abs. 4 HV entstünde ein über Art. 31 GG aufzulösender Konflikt zwischen Bundes- und Landesgrundrecht.

 (cc) Derartige Konfliktfälle treten in mehrpoligen Rechtsverhältnissen auf, in denen ein landesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz, der über das grundgesetzliche Schutzniveau hinausgeht, zu einer stärkeren Beschränkung der Grundrechte des Grundgesetzes führt als im Falle eines identischen Schutzniveaus der entsprechenden Grundrechtskodifikationen in Grundgesetz und Landesverfassungen.

- Korioth, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 142 Rn. 14 (Okt. 2008); Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9 Rn. 329 Fn. 1 (Sept. 2016); Huber, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 142 Rn. 13a; Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 142 Rn. 51; v. Camphausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 142 Rn. 13; Maurer, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 82 Rn. 64; Löhr, Die Rechte des Menschen in der Verfassung des Landes Hessen im Lichte des Grundgesetzes, 2007, S. 87; Menzel, Landesverfassungsrecht - Verfassungshoheit und Homogenität im grundgesetzlichen Bundesstaat, 2002, S. 194; Stöhr, in Pfennig/Neumann, Verfassung von Berlin, 3. Aufl. 2000, Vorbem. zu Abschnitt II: Grundrechte, Staatsziele, Rn. 12 -

Dies gilt auch in Fällen nur mittelbarer Drittwirkung von Grundrechten.

- Scholz, a. a. O.; Huber, a. a. O.; Dreier, a. a. O.; Maurer, a. a. O. -

 (dd) So verhält es sich beim Streikrecht. Denn die verfassungsmäßige Gewährung des Streikrechts für die Gewerkschaften geht notwendigerweise mit einer Einschränkung der Grundrechtssphäre der Arbeitgeber einher. Betroffen sind zum einen die durch Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Unternehmensautonomie, zum anderen das durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Unternehmenseigentum.

- S. nur Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9 Rn. 364 ff. (Sept. 2016); Höfling, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 9 Rn. 144; Bauer, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 9 Rn. 94; vgl. BVerfGE 84, 212 [228 f.] -

Angesichts dessen hat die Rechtsprechung für das Streikrecht nach Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsimmanente Schranken konkretisiert, um einen verhältnismäßigen Ausgleich mit den im Grundgesetz gewährleisteten Rechten der Arbeitgeber herbeizuführen. Würde Art. 29 Abs. 4 HV ein über Art. 9 Abs. 3 GG hinausgehendes Streikrecht gewährleisten, beschränkte das landesverfassungsrechtliche Grundrecht die in Art. 12 und Art. 14 GG geschützten Grundrechte der Arbeitgeber weitergehend als das bundesverfassungsrechtliche Komplementärgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG. Unmittelbare Folge wäre, dass der Gewährleistungsgehalt des Art. 29 Abs. 4 HV nicht in Übereinstimmung, sondern entgegen Art. 142, 31 GG in teilweisem Widerspruch zu Bundesgrundrechten stünde. Eine vom Landesarbeitsgericht zu beachtende landesverfassungsrechtliche Mehrgewährleistung für das Streikrecht nach Art. 29 Abs. 4 HV, die über das Schutzniveau des Art. 9 Abs. 3 GG hinausgeht, kann danach unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht kommen. Das Bundesrecht belässt insoweit dem Gesetzesanwender keinen Entscheidungsspielraum, der die Grundrechtsklage nach § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG zulässig machen würde.

c) Zu keinem anderen Ergebnis führt der Einwand der Antragstellerin, die Grundrechte der Arbeitgeber - speziell aus Art. 12 GG - stünden unter einfachem Gesetzesvorbehalt und seien daher sogar durch Landesrecht einschränkbar, mithin „erst recht" durch die Hessische Verfassung. Die Argumentation der Antragstellerin lässt die Anforderungen unberücksichtigt, die an Grundrechtsschranken im Sinne eines Gesetzesvorbehaltes zu stellen sind. Denn eine den Schutzbereich beeinträchtigende Rechtsnorm muss in Ansehung rechtsstaatlicher Anforderungen durch hinreichende Klarheit, Bestimmtheit und Vollständigkeit geprägt sein.

- Mann, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 12 Rn. 109 speziell zu Art. 12 GG -

Dies ist jedoch bei der ganz allgemein gehaltenen Regelung des Art. 29 Abs. 4 HV nicht der Fall. Denn ihr lassen sich genaue Konturen eines Streikrechts nicht hinreichend deutlich entnehmen. Dies zeigt sich bereits daran, dass selbst die Antragstellerin davon ausgeht, dass nicht jedes Streikziel von Art. 29 Abs. 4 HV gedeckt ist. Hinzu kommt, dass eine landesgesetzliche Regelung des Arbeitskampfrechts an die Bundesgrundrechte gebunden ist und sich innerhalb des durch Art. 9 Abs. 3, 12 und 14 GG abgesteckten Rahmens - ungeachtet, wie weit dieser reicht - halten muss und deshalb kein über Art. 9 Abs. 3 GG hinausreichendes Streikrecht einräumen darf. Dies gilt wie oben dargelegt auch für die Anwendung des Art. 29 Abs. 4 HV durch die Landesstaatsgewalt.

d) Ob sich als Rechtsfolge der Grundrechtskollision eine bloße Unanwendbarkeit oder die (Teil-)Nichtigkeit der Norm hinsichtlich eines „überschießenden" Gewährleistungsinhalts ergibt

- sog. "Derogation”: Pieroth, in: Jarass/Pieroth, 13. Aufl. 2014, Art. 31 Rn. 5; Huber, in: Sachs, Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 31 Rn. 23; Bernhardt/Sacksofsky, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 31 Rn. 15 (März 1998) -

oder bereits der Schutzbereich des Art. 29 Abs. 4 HV im Wege einer bundes(verfassungs-)rechtskonformen Interpretation entsprechend Art. 9 Abs. 3 GG enger zu bestimmen ist,

- vgl. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 142 Rn. 58 m.w.N -

kann offenbleiben. Denn für § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG kommt es allein auf die Frage an, ob der Grundrechtskläger sich vor dem Staatsgerichtshof auf einen weitergehenden Grundrechtsschutz der Hessischen Verfassung berufen kann, als ihm dies nach Maßgabe des Grundgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht möglich ist.

- Vgl. Bernhardt/Sacksofsky, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 31 Rn. 53 (März 1998): Divergenz im Ergebnis entscheidend -

Das Argument der Antragstellern, bei dieser Sichtweise verliere die Hessische Verfassung an Bedeutung, greift ebenfalls nicht. Denn in welchem Rahmen der Hessischen Verfassung im Allgemeinen und den in ihr gewährleisteten Grundrechten im Besonderen eine gegenüber den Gewährleistungen des Grundgesetzes eigenständige (weitergehende) Bedeutung zukommt, ergibt sich erst aus der im Lichte der Art. 31, 142 GG vorzunehmenden Auslegung und Anwendung der Hessischen Verfassung. Insoweit sind Mehrgewährleistungen jedenfalls im Verhältnis des Staates zum Bürger unproblematisch.

3. Auf die Frage, ob die Grundrechtsklage darüber hinaus auch am Grundsatz der Subsidiarität scheitert, weil die Antragstellerin eine Korrektur der im Eilverfahren ergangenen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts durch eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht gesucht hat, kommt es nicht mehr an.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 28 StGHG.

Abweichende Meinung

Abweichende Meinung der Mitglieder des Staatsgerichtshofs

Sacksofsky, Gasper und Giani

zu dem Urteil des Staatsgerichtshofs vom 10. Mai 2017

Wir können dem Urteil nicht zustimmen, weil es zu Unrecht die Grundrechtsklage für unzulässig erklärt und damit eine Prüfung verweigert, ob Art. 29 Abs. 4 HV ein weitergehendes Streikrecht gewährleistet als Art. 9 Abs. 3 GG.

Vielfach wurde die geringe Bedeutung von Landesgrundrechten im deutschen Bundesstaat angesichts der Dominanz des Bundesrechts gerügt; immer wieder aufgenommen wird etwa die Formulierung vom „Dornröschenschlaf".

- Der Begriff wurde wohl von Starck geprägt: Stern, Einführung, in: Starck/ders., Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Bd. I, 1983, S. 1, 14; Überblick über seine weitere Verwendung bei Möstl, AöR 130 (2005), 350, 354. -

Die Mehrheit hat in diesem Urteil das Korsett des Bundesrechts so eng geschnürt, dass sie die Chance, eines der Grundrechte der Hessischen Landesverfassung aus seinem Schlafe zu erwecken, verpasst hat, ohne dazu bundesrechtlich gezwungen zu sein. Sie wird damit dem Stellenwert der Landesverfassungen und der Landesverfassungsgerichte im föderalen System nicht gerecht.

Dabei ist der Ausgangspunkt der Mehrheitsmeinung durchaus zutreffend. Nach Art. 142 GG bleiben landesverfassungsrechtlich gewährleistete Grundrechte in Kraft, soweit sie in Übereinstimmung mit Grundrechten des Grundgesetzes stehen. Die Länder sind - wie auch die Mehrheit anerkennt - berechtigt, weitergehende Grundrechte als das Grundgesetz zu gewährleisten.

Der Hessische Gesetzgeber hat diese Einsicht in entsprechende verfassungsprozessuale Regelungen gegossen. So wird nach § 43 Abs. 1 Satz 2 StGHG die Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof unzulässig, wenn - wie im vorliegenden Fall - Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben wurde. Doch § 43 Abs. 1 Satz 3 StGHG lässt die Zulässigkeit bestehen, wenn die Hessische Verfassung weiterreichende Grundrechte als das Grundgesetz gewährleistet. Entscheidende Frage ist somit: Reicht das Grundrecht des Art. 29 Abs. 4 HV weiter als Art. 9 Abs. 3 GG? Diese überaus interessante und schwierige rechtliche Frage hätte es verdient gehabt, intensiv untersucht zu werden. Bei der Einengung des Streikrechts, etwa auf die Beschränkung tariffähiger Ziele, handelt es sich um eine bundesdeutsche Besonderheit, die auch international immer mehr unter Druck gerät.

- Siehe etwa: Gooren, Der Tarifbezug des Arbeitskampfes, 2014; Buchholtz, Streiken im europäischen Grundrechtsgefüge, 2014; Lörcher, in: Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl. 2011, § 10 Rn. 31 ff. -

Es liegt daher nahe, dass Art. 29 Abs. 4 HV, der seinem Wortlaut nach das Streikrecht dann anerkennt, „wenn die Gewerkschaften den Streik erklären", ein weiterreichendes Streikrecht gewährleistet als Art. 9 Abs. 3 GG in der Auslegung der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung und der überwiegend in der Literatur vertretenen Auffassung.

Doch die Mehrheit verzichtet auf eine solche Erörterung, da es nach ihrer Auffassung auf die Beantwortung dieser Frage gar nicht ankomme. Denn - so die Mehrheit - Art. 29 Abs. 4 HV dürfe aufgrund von Art. 31 GG nicht über das im Grundgesetz gewährleistete Streikrecht hinausgehen. Diese Behauptung trifft unseres Erachtens nicht zu.

1. Art. 31 GG kommt nur dann zur Anwendung, wenn eine Kollision zwischen Bundesrecht und Landesrecht besteht.

- BVerfGE 36, 342 [363] -

Es gibt keine bundesrechtliche Norm, die explizit definiert, wann Streikmaßnahmen zulässig sind und wann nicht. Die Mehrheit verweist denn auch lediglich auf einen „durch die Art. 9 Abs. 3, Art. 12 und Art. 14 GG gesetzte<n> Rahmen", der keinen Raum für die Berücksichtigung einer etwaigen landesverfassungsgerichtlichen Mehrgewährleistung lasse. Die Anrufung eines verfassungsrechtlichen „Rahmens" greift auf verfassungstheoretisch eingeführte Konzepte zurück, die eng mit der Funktionsweise der Demokratie verwoben sind. Danach ist zur Gestaltung von das Gemeinwesen betreffenden Fragen primär der demokratisch unmittelbar legitimierte Gesetzgeber berufen. Die Verfassung gibt lediglich den Rahmen vor, innerhalb dessen sich der politische Prozess entfalten kann. Demokratie kann nur existieren, wenn die Verfassung nicht alle Details bereits regelt, sondern Raum für unterschiedliche Lösungen lässt. Je engere rechtliche Bindungen der Verfassung entnommen werden, desto mehr verlagert sich Entscheidungsmacht vom Gesetzgeber hin zu Verfassungsgerichten. Die Gefahr eines „Jurisdiktionsstaats“ wird real.

Ein Verständnis vom Rahmen in diesem Sinne konterkariert die Mehrheit aber, indem sie eine eindeutige Zuordnung der gegenläufigen Grundrechtspositionen - aus Art. 9 Abs. 3 GG einerseits und den Arbeitgebergrundrechten, insbesondere Art. 12 und 14 GG andererseits - vornimmt. Denn die Mehrheit leitet aus den in Spannung stehenden Grundrechten ein eindeutiges Ergebnis ab. Es gibt nach ihrem Verständnis nur einen einzigen Weg, wie Streikrecht und Unternehmergrundrechte zum Ausgleich gebracht werden können.

Diese Vorstellung konsequent zu Ende gedacht würde bedeuten, dass auch der Bundesgesetzgeber, sollte er diese Materie regeln wollen, keinerlei Gestaltungsspielraum hätte. Eine solche Position widerspricht Grundsätzen der Gewaltenteilung im demokratischen System.

Wenn aber dem Bundesgesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zukommt, kommt dieser auch - solange der Bundesgesetzgeber nicht gehandelt hat - den Ländern zu. So erkennt selbst die Mehrheit an, dass Landesgrundrechte, die weitergehende Grundrechte garantieren, für die Kontrolle der Anwendung von materiellem Bundesrecht herangezogen werden können, wenn das Bundesrecht dem Gesetzesanwender einen Entscheidungsspielraum belässt, in dem sich das Landesgrundrecht entfalten kann. Es gibt - außerhalb möglicherweise ausschließlicher Bundeskompetenzen - keinen rechtlichen Ansatzpunkt, einen Spielraum, der dem Bundesgesetzgeber zusteht, bei dessen Untätigbleiben den Ländern zu versagen. Daher können Landesgrundrechte manche dieser bundesrechtlich grundsätzlich zulässigen Ergebnisse ausschließen. In diesem Fall kommt es nicht zu einer Kollision zwischen Bundesrecht und Landesrecht, sondern den Normbefehlen beider Rechtsebenen kann gleichzeitig genügt werden. Eine Kollisionslage, die für die Anwendung von Art. 31 GG zwingende Voraussetzung ist, liegt somit nicht vor.

Zugespitzt formuliert: Die Mehrheit meint, Art. 9 Abs. 3 sowie Art. 12 und 14 GG eine eindeutige Regelung der Zulässigkeit von Streiks entnehmen zu können, während wir an dem traditionellen Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung festhalten. Aus Artikel 9 Abs. 3 GG ist nicht eindeutig heraus zu lesen, wo genau die Grenzen von Arbeitskampfmaßnahmen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zu ziehen sind. Diese Konkretisierung hätte der Bundesgesetzgeber vornehmen können - das hat er aber bis heute nicht getan. Aus dem Umstand, dass Art. 9 Abs. 3 GG einen verfassungsrechtlichen Schutz bestimmter Streikmaßnahmen nicht gebietet, lässt sich nicht ableiten, dass solche Streikmaßnahmen damit auch verfassungsrechtlich zwingend verboten wären. Genau in diesem Bereich können durch die Gesetzgebung, aber eben auch durch die Landesverfassungen, Regelungen getroffen werden.

Die Mehrheitsmeinung verneint diesen Spielraum unter Hinweis auf die Grenzen von Arbeitskampfmaßnahmen, die von der Rechtsprechung über die Jahre entwickelt worden sind. Doch das Bundesarbeitsgericht, auf dessen Rechtsprechung die ausziselierten Voraussetzungen zulässiger Streiks zurückgehen, bindet den Staatsgerichtshof nicht. Das Bundesarbeitsgericht ist kein vorrangiger oder gar authentischer Interpret des Grundgesetzes. Dies zeigt schon die Regelung des Art. 100 Abs. 3 GG, der eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht dann vorsieht, wenn das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweicht.

2. Unsere Auffassung hat nicht zur Konsequenz, dass unterschiedliche Regime zur rechtlichen Zulässigkeit für Streiks innerhalb der Bundesrepublik für immer hinzunehmen wären. Der Bund hat nach Art. 72 Abs. 1 Nr. 12 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zur Regelung des Arbeitsrechts. Er hat die Möglichkeit und das Recht, ein Gesetz zu schaffen, welches die rechtlichen Anforderungen an Streiks regelt. Schüfe er ein solches Gesetz, gäbe es „Bundesrecht“, welches nach Art. 31 GG entgegenstehendes Landesrecht bräche. Da der Bundesgesetzgeber ein solches Gesetz bisher aber nicht erlassen hat, kann - nimmt man Föderalismus ernst - nicht ersatzweise ein Bundesgericht für ihn handeln und die gleiche Wirkung entfalten. Fachgerichtliche Entscheidungen erstarken, auch wenn sie sich als gefestigte Rechtsprechung darstellen, nicht zu Rechtssätzen, die die Wirkung des Art. 31 GG auslösen können. Eine Art „schleichender Erosion“ der Landesverfassungsgrundrechte kann es aus Respekt vor der Eigenstaatlichkeit der Länder nicht geben.

Es muss daher bei der Feststellung bleiben: Entweder macht der nach dem Grundgesetz zuständige Normgesetzgeber des Bundes mit den in der Verfassung dafür vorgesehenen Instrumenten von seinem Recht Gebrauch und begrenzt nach Art. 31 GG das Landesrecht oder das Landesrecht gilt weiter mit allen prozessualen und materiellen Konsequenzen.

Die Argumentation der Mehrheit wird der besonderen Bedeutung der Landesverfassungen im föderalen Spannungsverhältnis nicht gerecht. Art. 142 GG legt ausdrücklich fest, dass die landesverfassungsrechtlichen Grundrechte fortgelten. Dies ist wie an vielen anderen Stellen dem Respekt des Grundgesetzes vor der Eigenstaatlichkeit der Länder geschuldet. Wenn der Bund aus übergeordneten Gründen diese landesrechtlichen Bestimmungen begrenzen oder aufheben will, kann er das nur im Wege der Gesetzgebung tun. Solange er dies unterlässt, gelten die Landesgrundrechte weiter.

stats