LAG Nürnberg: Gegenstandswert – Mitverhandeln außergerichtlicher Ansprüche ohne Abschluss eines Vergleichs
LAG Nürnberg, Beschluss vom 16.7.2025 – 2 Ta 36/25
Volltext: BB-Online BBL2025-2228-2
Leitsatz
Endet das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren nicht durch Vergleich, so führen Verhandlungen bzw. Besprechungen über nicht rechtshängige Ansprüche im Hinblick auf die VV 3101 Nr. 2 1. Alt. und 3104 Abs. 2 RVG nur dann zu einem erhöhten Gegenstandswert, wenn sie bei Erledigung durch Vergleich zu einem überschießenden Vergleichswert geführt hätten und im Falle der gerichtlichen Geltendmachung als Hauptanträge und nicht als Hilfsanträge zu bewerten wären.
Aus den Gründen
A. Mit seiner Beschwerde wendet sich der Klägervertreter gegen den Beschluss vom 07.05.2025, in dem der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfahren auf 7.800,- € festgesetzt wurde. Gegenstand des Verfahrens war eine Feststellungsklage betreffend eine außerordentliche, hilfsweise als ordentliche erklärte Kündigung, ein allgemeiner Feststellungsantrag (Schleppnetzantrag) und ein hilfsweise geltend gemachter Weiterbeschäftigungsantrag. Der Kläger war zu einem Bruttomonatsgehalt von 2.600,- € bei der Beklagten beschäftigt.
Der Klägervertreter erhob für den Kläger Klage mit Schriftsatz vom 21.09.2020. Mit Schreiben vom 08.02.2021 teilte der Klägervertreter dem Gericht mit, dass er den Kläger nicht mehr anwaltlich vertrete. Das Verfahren endete durch klageabweisendes Versäumnisurteil vom 11.02.2021 (vgl. Bl. 59 ff. d.A.).
Mit Schreiben vom 31.12.2024, eingegangen beim Arbeitsgericht am selben Tag, stellte der Klägervertreter Antrag auf Vergütungsfestsetzung gegen den Kläger gemäß § 11 RVG.
Hierbei legte er einen Gegenstandswert für das Verfahren von 10.400,- € (3 Monatsgehälter für den Bestandsstreit, 1 Monatsgehalt für den Weiterbeschäftigungsantrag) zu Grunde sowie für außergerichtlich geführte Verhandlungen von weiteren 5.460,- € (Verhandlungen über Zeugnis 1 Monatsgehalt, über Nichtaufrechterhalten von Vorwürfen 1 Monatsgehalt, über eine Arbeitsbescheinigung 10% eines Monatsgehalts). Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 64 ff der Akten Bezug genommen.
Auf Anregung der Rechtspflegerin beim Arbeitsgericht beantragte der Klägervertreter am 19.03.2025 die Festsetzung des Gegenstandswertes für die Rechtsanwaltsgebühren, soweit der Streitgegenstand betroffen ist, auf 10.400,- € und im Hinblick auf die mitverhandelten weiteren Ansprüche auf 5.460,- € gemäß § 33 RVG (Blatt 73 der Akten).
Mit Beschluss vom 07.05.2025, zugestellt am 08.05.2025, setzte das Arbeitsgericht den Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit für das gesamte Verfahren auf 7.800,- € fest.
Hiergegen erhob der Klägervertreter mit Schriftsatz vom 22.05.2025 unter Wiederholung und Vertiefung seiner bisherigen Ausführungen insbesondere im Kostenfestsetzungsverfahren Beschwerde. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 86 ff der Akten Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht half der Beschwerde mit Beschluss vom 06.06.2025 nicht ab und legte das Verfahren dem Landesarbeitsgericht Nürnberg zur Entscheidung vor (Blatt 92 ff der Akten).
Das Landesarbeitsgericht gab den Beteiligten mit Schreiben vom 12.06.2025 Gelegenheit zur Stellungnahme bis 27.06.2025. Die Parteien sowie der Beklagtenvertreter gaben keine Stellungnahme ab. Der Klägervertreter nahm mit Schreiben vom 27.06.2025 Stellung. Hierauf wird Bezug genommen.
B. I. Die Beschwerde ist zulässig.
1. Die Beschwerde ist allerdings nicht nach § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG, sondern nach § 32 Abs. 2 RVG iVm § 68 GKG statthaft.
a. Der Anwalt kann die Wertfestsetzung seiner Gebühren nach § 33 RVG nur dann beantragen, wenn sich die Gebühren in einem gerichtlichen Verfahren nicht nach dem für die Gerichtsgebühren maßgebenden Wert richten oder es an einem solchen Wert fehlt. Die Festsetzung nach § 33 RVG ist subsidiär gegenüber der Wertfestsetzung nach § 32 RVG. Eröffnet § 32 RVG eine Wertfestsetzung, ist diese auch für die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren maßgebend und ein Verfahren nach § 33 RVG unzulässig. Es besteht insoweit kein Wahlrecht (HK-RVG/Kroiß, 9. Aufl. 2025, RVG § 33 Rn 3 mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammer gilt dies auch, wenn der Anwalt an einem gerichtlichen Vergleich mitwirkt, mit dem streitgegenständliche Ansprüche erledigt werden, aber auch, wenn über den Streitgegenstand des gerichtlichen Verfahrens hinaus weitere Gegenstände einbezogen werden (z.B. LAG Nürnberg 02.07.2024 – 2 Ta 59/24, BeckRS 2024/27418; 28.05.2020 – 2 Ta 76/20 juris; 24.02.2016 – 4 Ta 16/16 juris mwN; str.). Der für diesen Vergleich gerichtlich festgesetzte (über den Gegenstandswert des Streitverfahrens hinausgehende) Streitwert ist dann auch für die Berechnung der (Vergleichs-)Gebühren maßgebend (HK-RVG/Kießling, 9. Aufl. 2025, RVG § 32 Rn 27).
b. Dasselbe gilt, wenn zwar kein Vergleich zustande kommt, aber der Anwalt über außergerichtliche Ansprüche im Sinne der VV 3101 Nr. 2 1. Alt. und VV 3104 Abs. 2 RVG verhandelt. Denn beide Gebühren setzen – wie die Einigungsgebühr aus einem überschießenden Vergleichswert – Verhandlungen zur Einigung über nicht rechtshängige Ansprüche voraus. Ebenso wie die Einigungsgebühr nach VV 1000 RVG fallen die streitigen Gebühren deshalb nur an, wenn beide Parteien beteiligt sind, so dass sich insoweit der Gegenstandswert für die beteiligten Parteien und Anwälte nicht unterscheidet.
2. Die Beschwerde ist statthaft, § 68 Abs. 1 GKG, denn sie richtet sich gegen einen Beschluss, durch den der Wert für die Gerichtsgebühr gemäß § 63 Abs. 2 GKG festgesetzt worden ist. Zwar hat das Arbeitsgericht mit dem angegriffenen Beschluss auf Antrag des Klägervertreters ausdrücklich den Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit festgesetzt und den Beschluss mit der entsprechenden Rechtsmittelbelehrungnach § 33 RVG versehen. Das Landesarbeitsgericht ist im Beschwerdeverfahren aber nicht gehindert, sowohl den Antrag als auch den Beschluss des Arbeitsgerichts der zulässigen Verfahrensart zuzuordnen und entsprechend zu verbescheiden.
3. Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 200,- €. Die Beschwerde ist innerhalb der in § 63 Abs. 3 Satz 2 GKG bestimmten Frist eingelegt worden, § 68 Abs. 1 Satz 3 GKG. Der Klägervertreter kann aus eigenem Recht Beschwerde einlegen, § 32 Abs. 2 RVG.
II. Die Beschwerde ist nicht begründet. Dies gilt sowohl für die streitgegenständlichen Ansprüche (Bestandsstreit, Weiterbeschäftigung) als auch für die mitverhandelten weiteren (außergerichtlichen) Ansprüche.
1. Der für die Gerichtsgebühren und damit auch für die Vergütung des Rechtsanwalts nach § 32 RVG maßgebende Wert beträgt 7.800,- €.
a. Die seit 01.01.2020 für Streitwertbeschwerden allein zuständige Kammer 2 des Landesarbeitsgerichts Nürnberg folgt grundsätzlich den Vorschlägen der auf Ebene der Landesarbeitsgerichte eingerichteten Streitwertkommission. Diese sind im jeweils aktuellen Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichtsbarkeit niedergelegt (derzeitige Fassung vom 01.02.2024, NZA 2024, 308). Der Streitwertkatalog entfaltet zwar keine Bindungswirkung. Er stellt aber aus Sicht des erkennenden Gerichts eine ausgewogene, mit den gesetzlichen Vorgaben übereinstimmende Orientierung für die Arbeitsgerichte dar.
b. Der Bestandsstreit ist mit einem Vierteljahresgehalt zu bewerten (§ 42 Abs. 2 Satz 1 GKG). Dies gilt auch bei einer außerordentlichen Kündigung, die hilfsweise auch als ordentliche Kündigung ausgesprochen ist (vgl. I. Nr. 21.1 Streitwertkatalog). Dies sieht der Klägervertreter ebenso.
c. Der hilfsweise gestellte Weiterbeschäftigungsantrag ist nicht zu bewerten, da über ihn nicht entschieden wurde (§ 45 Abs. 1 Satz 2 GKG).
d. Ein Vergleichsmehrwert war nicht festzusetzen, da ein Vergleich nicht geschlossen wurde.
2. Ein überschießender Gegenstandswert war auch im Hinblick auf die Ausführungen des Klägervertreters zu den Gebühren VV 3101 Nr. 2 1. Alt. RVG und VV 3104 Abs. 2 RVG nicht festzusetzen.
a. Der hilfsweise gestellte Weiterbeschäftigungsantrag ist schon deshalb nicht gegenstandswerterhöhend zu berücksichtigen, da sich nach § 23 Abs. 1 RVG der Gegenstandswert im gerichtlichen Verfahren nach den für die Gerichtsgebühren geltenden Wertvorschriften bestimmt, soweit sich die Gerichtsgebühren nach dem Wert richten. Zu diesen Wertvorschriften gehört auch § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Ist für nicht beschiedene Hilfsanträge gem. § 32 Abs. 1 RVG iVm §§ 63 Abs. 2, 39 ff. GKG kein Wertansatz zu bilden, kann dieses auch nicht über eine Festsetzung eines abweichenden Gegenstandswerts anwaltlicher Tätigkeit nach § 33 Abs. 1 RVG bzw. ein insoweit geführtes Beschwerdeverfahren erreicht werden. Denn in den Fällen des unbeschiedenen Hilfsantrags greift nach § 32 Abs. 1 RVG die gesetzlich angelegte und den Regelfall bildende Abhängigkeit der Anwaltsvergütung von dem für das gerichtliche Verfahren maßgeblichen Gebührenstreitwert nach §§ 39 ff. GKG ein (KG 11.6.2007 – 20 U 150/04, BeckRS 2008, 1369; OLG Köln 23.7.2008 – 22 U 141/07, BeckRS 2008, 20257). Eine abweichende Festsetzung bei Hilfsaufrechnung oder Hilfsantrag nach § 33 Abs. 1 RVG wäre demgegenüber mit einer Durchbrechung des in § 32 Abs. 1 RVG angelegten Abhängigkeitsgrundsatzes verbunden, die letztlich zu einer vom Gebührenstreitwert abgelösten Bemessung der Anwaltsvergütung nach Aufwand führen würde. Eine solche ist jedoch dem Vergütungsschema des RVG fremd, welches auf einer systembedingten Mischkalkulation beruht (LAG Hamm NZA-RR 2023, 214 Rn 13).
b. Auch soweit der Klägervertreter wegen Verhandlungen über nicht rechtshängige Ansprüche einen höheren Gegenstandswert im Hinblick auf die Verfahrensgebühr VV 3101 Nr. 2 1. Alt. RVG und die Terminsgebühr VV 3104 Abs. 2 RVG begehrt, war eine Erhöhung des Gegenstandswerts nicht veranlasst.
aa. Auch in diesem Fall ist – wie bei der Festsetzung eines Vergleichsmehrwerts im Falle eines Vergleichs – zu prüfen, ob die Verhandlungen oder Besprechungen über nicht rechtshängige Ansprüche einen Streit oder Ungewissheit über genau diese Ansprüche beseitigen sollen.
(1) Unter „Verhandlung“ im Sinne von VV 3101 Nr. 2 2. Alt. RVG ist entsprechend den Entstehungsvoraussetzungen der Terminsgebühr eine Besprechung über in diesem Verfahren nicht rechtshängige Ansprüche mit dem Ziel der Einigung zu verstehen (HKRVG/Mayer, 9. Aufl. 2025, RVG VV 3101 Rn. 23, beck-online). Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gebührentatbestandes müssen die Verhandlungen vor Gericht geführt werden. Verhandlungen außerhalb des Gerichts fallen jedenfalls nicht unter den Wortlaut des Gebührentatbestandes VV 3101 Nr. 2 2. Alt. RVG (HK-RVG/Mayer, 9. Aufl. 2025, RVG VV 3101 Rn. 26, beck-online). Die Terminsgebühr entsteht ferner auch dann, wenn der Anwalt an außergerichtlichen Besprechungen, die auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichtet sind, mitwirkt, allerdings gilt dies nicht für Besprechungen mit dem Auftraggeber. Dass bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, ist nicht zwingend erforderlich, da diese Entstehungsvariante des Gebührentatbestands ausdrücklich u.a. von „auf die Vermeidung des Verfahrens“ gerichteten Besprechungen spricht (VV Vorb. 3 Abs. 3 RVG; HK-RVG/Mayer, 9. Aufl. 2025, RVG VV 3104 Rn. 9, beck-online).
(2) Ein Verfahren über den außergerichtlichen Anspruch wird aber nur vermieden, wenn überhaupt ein Streit oder eine Ungewissheit über genau diesen Anspruch besteht. Dasselbe gilt für die Entstehung einer Verfahrensgebühr für Verhandlungen über nicht rechtshängige Ansprüche. Denn VV 3301 Nr. 2 RVG verlangt die Führung von Verhandlungen vor Gericht zur Einigung der Parteien … über in diesem Verfahren nicht rechtshängige Ansprüche. Das Ziel der Einigung über solche Ansprüche setzt aber ebenfalls voraus, dass überhaupt ein Streit oder eine Ungewissheit bezogen auf diese nicht rechtshängigen Ansprüche bestand.
bb. Zusätzlich ist die Wertung des § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG zu berücksichtigen. Verhandeln die Parteien über Ansprüche, die im Falle ihrer gerichtlichen Geltendmachung nur hilfsweise erhoben würden und kommt es nicht zu einem Vergleich, erhöhen diese nicht rechtshängigen Ansprüche den Gegenstandswert nicht. Übertragen auf den Kündigungsschutzprozess bedeutet das, dass das bloße Verhandeln (ohne Vergleichsabschluss) über nicht rechtshängige Ansprüche den Gegenstandswert nur dann erhöhen kann, wenn diese Ansprüche unabhängig vom Ausgang des Kündigungsschutzantrags wären; sie also als Hauptanträge neben dem Kündigungsschutzantrag und nicht im wohlverstandenen Kosteninteresse der Partei als Hilfsantrag gestellt werden würden.
c. Nach diesen Grundsätzen gilt folgendes:
aa. Das Verhandeln über das Endzeugnis mit der Bewertung gut, erhöht den Gegenstandswert nach der Wertung des § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG nicht. Zwar würde eine Einigung auf ein gutes Zeugnis im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses über eine außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung regelmäßig zu einem Vergleichsmehrwert von einem Monatsgehalt führen (vgl. I. Nr. 25.1.3 Streitwertkatalog). Verhandlungen über die Erteilung eines Endzeugnisses mit bestimmtem Inhalt im Rahmen einer Kündigungsschutzklage betreffen aber nur den Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet wird. Denn nur dann besteht überhaupt ein Anspruch auf Erteilung eines Zeugnisses (§ 109 GewO). Deshalb würde der Zeugniserteilungsantrag im Falle der gerichtlichen Geltendmachung im wohlverstandenen Kosteninteresse der vertretenen Partei als Hilfsantrag zum Kündigungsschutzantrag gestellt.
bb. Eine Regelung im Vergleich über das Nichtaufrechterhalten von Vorwürfen würde regelmäßig nicht zu einem Vergleichsmehrwert führen (LAG Nürnberg 11.05.2022 – 2 Ta 12/22). Deshalb führt auch das bloße Verhandeln hierüber nicht zu einem erhöhten Gegenstandswert.
cc. Eine Regelung im Vergleich über die Erteilung einer Arbeitsbescheinigung würde regelmäßig ebenfalls nicht zu einem Vergleichsmehrwert führen (LAG Nürnberg 19.07.2022 – 2 Ta 49/22). Deshalb führt auch das bloße Verhandeln hierüber nicht zu einem erhöhten Gegenstandswert.
3. Der Wert des Verfahrens hat sich zwischen Mandatsniederlegung und Versäumnisurteil nicht geändert.
C. Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden alleine ergehen, § 78 Satz 3 ArbGG.
Für eine Kostenentscheidung bestand kein Anlass, da das Beschwerdeverfahren gebührenfrei ist und eine Kostenerstattung nicht stattfindet, § 68 Abs. 3 GKG.