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Arbeitsrecht
26.11.2009
Arbeitsrecht
LAG Berlin-Brandenburg: Gegenläufige betriebliche Übung bei Altfällen

LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9.9.2009 - 15 Sa 797/09

Leitsätze

1. Es kann offen bleiben, ob unter Vertrauensgesichtspunkten zugunsten des Arbeitgebers für sog. Altfälle anzunehmen ist, dass für vor dem 01.01.2002 vereinbarte Arbeitsverträge nicht die Beschränkungen nach § 308 Nr. 5 BGB zu gelten haben, so dass eine gegenläufige betriebliche Übung grundsätzlich möglich ist.

2. In einem solchen Fall muss der Arbeitgeber die Arbeitnehmer bei Verweigerung der Leistung unter Einräumung einer angemessenen Frist darauf hinweisen, dass ihr (dreimaliges) Schweigen als Zustimmung zu einer Abänderung des Arbeitsvertrages gewertet wird.

§ 308 Nr 5 BGB

Sachverhalt

Die Parteien streiten - wie in zahlreichen Parallelverfahren - darüber, ob ein Treuegeld zu zahlen ist.

Die Klägerin ist seit 1981 bei der Beklagten, bzw. deren Rechtsvorgängern, im Betrieb Hennigsdorf nördlich von Berlin beschäftigt. In diesem Betrieb wurde von der Beklagten eine Musterbetriebsordnung (MuBo) angewandt. Diese sollte ursprünglich im Jahre 1994 konzernweit als Betriebsvereinbarung umgesetzt werden. Der Betriebsrat in Hennigsdorf unterzeichnete die ihm angebotene Betriebsvereinbarung jedoch nicht. Die entsprechenden Leistungen wurden den Arbeitnehmern trotzdem gewährt. Insofern wurde ab dem 20. Dienstjahr und später gestaffelt jährlich ein Treuegeld gezahlt (6.16 MuBo). Im 25., 40. und 50. Dienstjahr wurde stattdessen ein erhöhtes Jubiläumsgeld ausgezahlt (6.14 MuBo). Durch Betriebsvereinbarung Nr. 86.1 vom 11. Januar 2002 wurde die Rundung der Euro-Beträge auf glatte Beträge vereinbart.

Am 25. Juni 2003 schrieb die Beklagte an den Betriebsratsvorsitzenden:

 „Kündigung der A.-Betriebsordnung

Die unterschiedlichen Regelungen unserer freiwilligen Sozialleistungen führen in ihrer kaum noch zu überblickenden Vielfalt zu einer nicht mehr hinnehmbaren Ungleichbehandlung unserer Mitarbeiter an den B.-Standorten. Es ist das erklärte Ziel von B., ein Sozialleistungssystem zu installieren, welches den Anforderungen der heutigen Arbeitswelt und den Bedürfnissen der Mitarbeiter besser Rechnung trägt. Aus diesem Grunde sehen wir uns gezwungen, die oben genannte Betriebsvereinbarung fristgemäß zum 31. Dezember 2003 zu kündigen."

Die Klägerin kannte dieses Schreiben nicht. Ab Januar 2004 zahlte die Beklagte an die Arbeitnehmer des Betriebs Hennigsdorf keine Treue- oder Jubiläumsgelder mehr.

Ein Teil der Belegschaft klagte bereits im Jahre 2004 hiergegen und obsiegte letztlich auch vor dem Bundesarbeitsgericht.

Mit Schreiben vom 11. Juni 2008 (Bl. 18 d. A.) machte die Klägerin ihren Anspruch auf Zahlung eines Treuegeldes für 2008 geltend. Mit der am 11. September 2008 eingegangenen Klage begehrt sie Zahlung dieses Treuegeldes mit dem Argument, die betriebliche Übung sei ihr gegenüber nicht beseitigt worden. Das Schweigen der Arbeitnehmer sei nicht als Zustimmung zu einer negativen betrieblichen Übung, sondern als Abwarten der Musterprozesse zu verstehen.

Die Klägerin hat beantragt,

1.  die Beklagte zu verurteilen, an sie einen Betrag in Höhe von 200,-- € nebst 5 Prozentpunkten Zinsen hieraus über dem Basiszinssatz seit dem 29.05.2008 zu bezahlen;

2.  festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, Treuegeld entsprechend der Regelung in Ziffer 6.16 der Muterbetriebsordnung der A.-Tochtergesellschaften in den neuen Bundesländern (Stand: 01.07.1994) und unter dem dortigen Voraussetzungen in der dort jeweils geregelten Höhe an die Klägerin zu bezahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, aufgrund einer gegenläufigen betrieblichen Übung gegenüber der Klägerin sei der ursprünglich vorhandene Anspruch jedenfalls im Jahre 2007 beseitigt worden. Seit diesem Zeitpunkt könnten Ansprüche aus betrieblicher Übung bezüglich des Treuegeldes nicht mehr geltend gemacht werden.

Mit Urteil vom 26. März 2009 hat das Arbeitsgericht Neuruppin der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Weil die Beklagte nicht erklärt habe, die jährliche Zahlung von Treue- oder Jubiläumsgeld sei eine freiwillige, jederzeit widerrufliche Leistung, sei für die Anwendung einer gegenläufigen betrieblichen Übung nach der Rechtsprechung des BAG kein Raum.

Dieses Urteil ist der Beklagten am 15. April 2009 zugestellt worden. Am 21. April 2009 erfolgte die Berufung. Nach Verlängerung bis zum 15. Juli 2009 ging am 10. Juli 2009 die Berufungsbegründung beim Landesarbeitsgericht ein.

Die Beklagte ist weiterhin der Ansicht, dass durch eine negative betriebliche Übung der Anspruch der Klägerin beseitigt worden sei. Auch nach der Entscheidung des BAG vom 18.3.2009 käme eine konkludente Vertragsänderung in Betracht. Es liege ein so genannter Altfall vor, so dass die Grundsätze der gegenläufigen betrieblichen Übung weiterhin anzuwenden seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Neuruppin vom 25. März 2009 - 5 Ca 1065/08 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Aus den Gründen

Die Berufung hat keinen Erfolg.

I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG, 519 f. ZPO).

II. Die Berufung ist nicht begründet. Im Ergebnis zu Rech hat das Arbeitsgericht Neuruppin der Klage stattgegeben. Der im Wege der betrieblichen Übung begründete Anspruch ist nicht durch eine gegenläufige betriebliche Übung beseitigt worden.

1. Der hier geltend gemachte Anspruch ist ursprünglich im Wege einer betrieblichen Übung begründet worden, da die Beklagte über 10 Jahre hinweg diese Leistungen ohne Vorbehaltserklärungen erbracht hat. Hiervon gehen auch die Parteien aus. Das Bundesarbeitsgericht hat dies ebenfalls festgestellt (BAG vom 28.06.2006 - 10 AZR 385/05 - NZA 2006, 1174).

2. Dieser Anspruch ist weder durch eine Änderungskündigung, einen Änderungsvertrag oder eine ablösende Betriebsvereinbarung beseitigt worden. Keine dieser Gestaltungsmöglichkeiten hatte die Beklagte ergriffen.

Ein solcher Anspruch ist auch nicht durch einfache einseitige Erklärung des Arbeitgebers zu beseitigen. Insofern reicht es nicht aus, dass der Arbeitgeber gegenüber anderen Arbeitnehmern die Übung einstellt und der Arbeitnehmer hierzu schweigt. Dies gilt selbst dann, wenn es sich bei den betrieblichen Leistungen um einmalige Leistungen wie z. B. Jubiläumszuwendungen handelt und der Anspruchsteller selbst noch nie in den Genuss dieser Leistung gelangt ist (BAG vom 28.05.2008 - 10 AZR 275/07 - BB 20008, 1847 Rn. 30).

Danach scheidet eine konkludente Änderung des Arbeitsvertrages, soweit Ansprüche aus betrieblicher Übung betroffen sind, durch einmalige Erklärung aus.

3. Eine gegenläufige betriebliche Übung hat den Inhalt des Arbeitsverhältnisses der Klägerin nicht geändert.

3.1 Nach der Entscheidung des BAG vom 18.03.2009 (10 AZR 281/08 - NZA 2009, 601) steht nunmehr fest, dass seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am 1. Januar 2002 gemäß § 308 Nr. 5 BGB Schweigen als fingierte Willenserklärung zur Begründung einer gegenläufigen betrieblichen Übung ausscheidet. Hiervon geht auch die Kammer aus.

3.2 Das Bundesarbeitsgericht hat in der dortigen Entscheidung unter den Randnummern 21f jedoch ausgeführt, dass für sog. Altfälle Besonderheiten gelten. Dies betreffe Arbeitsverhältnisse, die vor dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes begründet wurden, wobei der Arbeitsvertrag im Vertrauen auf die damals geltende Gesetzeslage und die nicht den Wirkungen des AGB-Rechts unterworfene Rechtsprechung abgeschlossen wurde. Für die Parteien hätte zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung bestanden, Vereinbarungen zu treffen, die einer Inhaltskontrolle nach den §§ 305 ff BGB standhalten und den nach § 308 Nr. 5 BGB an fingierte Erklärungen zu stellenden Anforderungen genügen. Damit geht das BAG davon aus, dass für sog. Altfälle weiterhin die Möglichkeit einer gegenläufigen betrieblichen Übung besteht.

Es kann offen bleiben, ob unter Vertrauensgesichtspunkten zugunsten des Arbeitgebers für sog. Altfälle anzunehmen ist, dass für vor dem 1. Januar 2002 vereinbarte Arbeitsverträge nicht die Beschränkungen nach § 308 Nr. 5 BGB zu gelten haben, so dass eine gegenläufige betriebliche Übung grundsätzlich möglich ist. Dies ist deswegen zweifelhaft, weil zwischen Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1. Januar 2002 und tatsächlichem Einstellen der Zahlungen im Jahre 2004 zwei Jahre lagen, die die Beklagte nicht dafür genutzt hat, mit den Arbeitnehmern einvernehmlich die Arbeitsverträge im Hinblick auf die neue rechtliche Situation abzuändern. Auch der Gesetzgeber hatte die Problematik für Altverträge durchaus gesehen und gemäß Artikel 229 § 5 Satz 2 EGBGB eine einjährige Übergangsfrist eingeräumt. An anderer Stelle geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass eine ergänzende Auslegung z. B. von Rückzahlungsklauseln deswegen nicht möglich sei, weil der Arbeitgeber die einjährige Übergangsfrist ungenutzt habe verstreichen lassen (BAG vom 11.04.2006 - 9 AZR 610/05 - NZA 2006, 1043, Rn. 37). Wenn dies schon für eine an sich im Arbeitsvertrag vorhandene Klausel gilt, spricht viel dafür, dass dies umso mehr für den Fall gilt, dass überhaupt keine entsprechende Klausel im Arbeitsvertrag vorhanden war. Jedenfalls kann es hier auch nicht auf den Zeitpunkt der Begründung des Arbeitsverhältnisses ankommen, da zu diesem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis noch in der DDR durchgeführt wurde. Selbst nach dem hier 1994 und 1996 die betriebliche Übung begründet worden war, bestand keinerlei Notwendigkeit, an entsprechende Klauseln im Arbeitsvertrag zu denken. Erst mit Urteil vom 26. März 1997 (NZA 1997, 107) hat das Bundesarbeitsgericht erstmals das Rechtsinstitut der gegenläufigen betrieblichen Übung zugelassen.

Doch auch wenn man mit dem BAG für sog. Altfälle davon ausgehen will, dass eine gegenläufige betriebliche Übung zumindest nicht an § 308 Nr. 5 BGB scheitert, so ist vorliegend eine rechtswirksame gegenläufige betriebliche Übung nicht in Gang gesetzt worden. In einem solchen Fall muss der Arbeitgeber die Arbeitnehmer bei Verweigerung der Leistung unter Einräumung einer angemessenen Frist darauf hinweisen, dass ihr (dreimaliges) Schweigen als Zustimmung zu einer Abänderung des Arbeitsvertrages gewertet wird. Daran fehlt es.

Zu den Wirksamkeitsvoraussetzungen nach § 308 Nr. 5 BGB gehört es, dass der Verwender sich in der Klausel verpflichtet, den Kunden auf die Bedeutung seines Verhaltens besonders hinzuweisen. Der Hinweis muss darüber hinaus auch tatsächlich erfolgen (Palandt-Grünberg, 68. Aufl., § 308 BGB Rn. 26a). Hieran fehlt es aber, denn die Beklagte hat ohne weitere Erklärungen jeweils die Zahlungen einfach nicht geleistet. Damit konnte eine gegenläufige betriebliche Übung - ihre Möglichkeit an sich unterstellt - nicht in Gang gesetzt werden.

Darüber hinaus verlangt das Bundesarbeitsgericht auch, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer auf die bisherige betriebliche Übung hinweist und sein Änderungsangebot mit dem Anerkenntnis eines Rechtsanspruchs des Arbeitnehmers verbindet (BAG vom 18.03.2009 a.a.O. Rn. 22). Auch diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wobei sich aus der Entscheidung des BAG aber nicht ergibt, ob diese Voraussetzungen nur vor dem dortigen Sonderfall zu gelten hat (so die Auffassung der Beklagten).

4. Die Höhe der Klageforderung ist zwischen den Parteien nicht im Streit.

Der Fälligkeitszeitpunkt für die Zahlung des Treuegeldes ist ebenfalls unstreitig.

5. Zu Recht hat das Arbeitsgericht Neuruppin auch dem Feststellungsantrag stattgegeben. Ein solcher Antrag ist als Zwischenfeststellungsklage zulässig (BAG vom 28.06.2006 - 10 AZR 385/05 - NZA 2006, 1174, Rn. 26). Er ist für die Folgejahre auch begründet, da der Anspruch aus betrieblicher Übung nicht beseitigt worden ist.

III. Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 ZPO).

Im Hinblick auf eine Vielzahl von Parallelrechtstreitigkeiten, die beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg und beim Arbeitsgericht Neuruppin anhängig sind, ist die Revision gem. § 72 Abs. 2 Ziff. 1 ArbGG zugelassen worden.

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