LAG Rheinland-Pfalz: Fristlose Kündigung eines Rauchers bei "Kombinations-Pause"
LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21.1.2010 - 10 Sa 562/09
Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten vom 27.01.2009 wegen Überziehung der Pausenzeiten.
Der Kläger, geboren am 23.01.1955, geschieden, keine Unterhaltspflichten, ist am 1.7.1970 als Auszubildender bei der Beklagten eingetreten. Seit Abschluss seiner Berufsausbildung wird er als Chemielaborwerker zu einem Bruttomonatsentgelt von zuletzt ca. € 3.000,00 beschäftigt. Bei der Beklagten besteht ein Betriebsrat. Das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ist von der Beklagten wegen einer Alkoholerkrankung zum 4.5.1988 gekündigt worden. Am 18.9.1989 stellte sie ihn entsprechend der Betriebsvereinbarung „Suchtmittelmissbrauch" nach erfolgreicher Langzeitentwöhnungsbehandlung unter Anrechnung der früheren Dienstzeit wieder ein. Der Kläger ist starker Raucher. Er raucht nach eigenen Angaben täglich ca. 50 Zigaretten.
Der Kläger arbeitet in Gleitzeit nach der Betriebsvereinbarung „Flexible Jahresarbeitszeit" auf Basis der tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,5 Stunden. Der Arbeitszeitrahmen liegt montags bis freitags von 6:00 bis 20:00 Uhr, wobei die tägliche Arbeitszeit 10 Stunden nicht überschreiten darf. Die tägliche Anwesenheitszeit wird durch das Bedienen des Zeiterfassungsgeräts beim Kommen und Gehen erfasst. Das Zeiterfassungssystem errechnet die Pausenzeit und zieht sie automatisch von der Anwesenheitszeit ab.
Die BV „Flexible Jahresarbeitszeit" hat - auszugsweise - folgenden Wortlaut:
„5. Pausen
Die Länge der unbezahlten Pausen orientiert sich an der Anwesenheitszeit. Entsprechend der Anwesenheitszeit werden folgende Pausen in Abzug gebracht:
ab 4 Stunden 30 Minuten bis unter 9 Stunden
15 Minuten plus dem linear steigenden Anteil von 45 Minuten *)
ab 9 Stunden
60 Minuten Pause
*) graphische Darstellung der Pausenzeiten Anlage 1
Bei Überschreitung dieser Pausenzeiten oder bei Arbeitsunterbrechung aus sonstigen Gründen ist zu Beginn und Ende der Pause das Zeiterfassungsgerät zu bedienen.
...
7. Zeiterfassung
Mittels Zeiterfassung wird die Dauer des Arbeitseinsatzes dokumentiert. Es werden je Arbeitstag nach Abzug der Pausen maximal 10 Stunden im Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. ...
8. Einschränkungen
Für Mitarbeiter, die wiederholt diese Arbeitszeitvereinbarung nicht einhalten bzw. nicht einhalten können, wird eine Einzelfallregelung getroffen. ..."
Auf dem Werksgelände der Beklagten gibt es ausgewiesene Raucherräume und Raucherbereiche. Das Rauchen ist nur dort erlaubt. Der Kläger sucht regelmäßig den in seinem Arbeitsbereich ausgewiesenen Raucherraum auf, ohne das Zeiterfassungsgerät zu bedienen.
Mit Schreiben vom 6.3.2008 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung, weil er am 19.10.2007 (Anwesenheitszeit von 06:37 bis 14:28 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 49 Minuten) insgesamt 3 Stunden und 46 Minuten Pause gemacht haben soll. Im Einzelnen von:
06:37 - 06:50 Uhr 11:30 - 11:45 Uhr
07:25 - 07:50 Uhr 12:00 - 13:00 Uhr
08:10 - 08:45 Uhr 13:40 - 13:55 Uhr
10:05 - 10:55 Uhr 14:15 - 14:28 Uhr
Mit Schreiben vom 07.03.2008 erteilte ihm die Beklagte eine zweite Abmahnung, weil er am 28.01.2008 (Anwesenheitszeit von 06:37 bis 16:27 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 60 Minuten) insgesamt 2 Stunden und 55 Minuten Pause gemacht haben soll. Im Einzelnen von:
07:20 - 07:50 Uhr 12:05 - 13:05 Uhr
09:10 - 09:30 Uhr 13:45 - 14:00 Uhr
11:00 - 11:35 Uhr 15:25 - 15:40 Uhr
Beide Abmahnungen wurden dem Kläger am 1.4.2008 übergeben. Sie haben unter anderem folgenden Wortlaut:
„Sie haben sich durch Ihre unredliche Vorgehensweise Zeitguthaben erschlichen, auch indem Sie nicht unmittelbar nach dem Rauchen einer Zigarette Ihre Arbeit aufgenommen haben. (Des Weiteren haben Sie Ihren Arbeitstag mit jeweils einer Pause begonnen und beendet [nur Abmahnung vom 06.03.2008].) Wir fordern Sie auf, künftig Punkt 5 der Betriebsvereinbarung 47 „Flexible Jahresarbeitszeit" einzuhalten. Wir weisen Sie darauf hin, dass künftige Vorkommnisse ähnlicher Art zur Kündigung des mit Ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisses führen werden."
Mit Schreiben vom 27.01.2009, dem Kläger am 28.01.2009 zugegangen, kündigte die Beklagte nach Anhörung des Betriebsrates und des Klägers das Arbeitsverhältnis außerordentlich, hilfsweise ordentlich zum 30.9.2009. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass der Kläger an folgenden Tagen wie folgt Pause gemacht haben soll:
Am 05.01.2009 (Anwesenheitszeit von 06:29 bis 16:37 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 60 Minuten) insgesamt 2 Stunden 30 Minuten. Im Einzelnen:
07:15 - 07:30 Uhr 11:10 - 11:45 Uhr
09:10 - 09:25 Uhr 12:00 - 13:00 Uhr
10:45 - 10:55 Uhr 15:10 - 15:25 Uhr
Am 07.01.2009 (Anwesenheitszeit von 06:32 bis 16:18 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 60 Minuten) insgesamt 2 Stunden und 26 Minuten. Im Einzelnen:
07:53 - 08:09 Uhr 11:15 - 11:45 Uhr
09:10 - 09:25 Uhr 12:00 - 13:00 Uhr
10:15 - 10:25 Uhr 15:30 - 15:45 Uhr
Am 08.01.2009 (Anwesenheitszeit von 06:29 bis 16:17 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 60 Minuten) insgesamt 2 Stunden und 28 Minuten. Im Einzelnen:
07:45 Uhr - 08:05 Uhr 12:00 Uhr - 13:00 Uhr
09:10 Uhr - 09:20 Uhr 14:00 Uhr - 14:08 Uhr
10:00 Uhr - 10:30 Uhr 14:45 Uhr - 15:05 Uhr
Am 09.01.2009 (Anwesenheitszeit von 06:31 bis 15:08 Uhr, unbezahlte Pausenzeit 56 Minuten) insgesamt 3 Stunden. Im Einzelnen:
07:16 Uhr - 07:26 Uhr 10:40 Uhr - 11:20 Uhr
07:55 Uhr - 08:10 Uhr 12:00 Uhr - 13:00 Uhr
09:05 Uhr - 09:25 Uhr 13:45 Uhr - 13:55 Uhr
10:10 Uhr - 10:25 Uhr 14:25 Uhr - 14:35 Uhr
Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, weder die außerordentliche noch die hilfsweise ordentliche Kündigung der Beklagten seien gerechtfertigt. Dem Kläger sei kein „klassischer" Zeiterfassungsbetrug vorzuwerfen, weil er nicht verpflichtet sei, im Zusammenhang mit Raucherpausen zu stempeln. Es liege vielmehr eine unverhältnismäßige Inanspruchnahme von bezahlten Raucherpausen während der Arbeitszeit vor. Damit habe der Kläger - die aufgeführten Pausenzeiten als zutreffend unterstellt - seine Hauptleistungspflicht zur Arbeit verletzt. Die angeführten Verstöße gegen die Arbeitspflicht trotz Abmahnungen reichten vorliegend nicht aus, um ein kündigungsrelevantes Fehlverhalten des Klägers zu begründen. Aufgrund der Handhabung der Pausenzeiten hätte es vor Ausspruch der Kündigung einer klaren Handlungsanweisung an den Kläger bedurft. Die Beklagte müsse zwar bezahlte Raucherpausen im vorgeworfenen Umfang nicht hinnehmen. Aufgrund der Praxis von Raucherpausen während der Arbeitszeit fehle es jedoch an klaren Vorgaben, die den Arbeitnehmern deutlich machten, wann konkret eine Verletzung der Arbeitspflicht vorliege. Es sei den Arbeitnehmern der Beklagten erlaubt, Raucherpausen während der bezahlten Arbeitszeit einzulegen. Das Zeiterfassungsgerät müsse nicht bedient werden. Es gebe insoweit keine erkennbare Grenze, bei deren Überschreitung dem Arbeitnehmer der Verstoß bewusst sein müsse. Vielmehr führe erst eine Gesamtschau des Verhaltens des Arbeitnehmers über mehrere Stunden oder einen Tag hinweg zu der Wertung, dass „jedenfalls in dem Umfang" Pausen nicht toleriert werden. Durch die grundsätzliche Tolerierung der Pausen sei eine Grauzone zwischen erlaubtem und nicht erlaubtem Verhalten entstanden. In den beiden Abmahnungen sei der Kläger lediglich darauf hingewiesen worden, dass er sich Zeitguthaben erschleiche, wenn er nicht unmittelbar nach dem Rauchen einer Zigarette die Arbeit aufnehme. Es sei ihm keine Verhaltensanweisung an die Hand gegeben worden, etwa in dem Sinn, dass bei bezahlten Raucherpausen eine Abwesenheit vom Arbeitsplatz über eine bestimmte Minutenzahl hinaus nicht geduldet werde und höchstens einmal in der Stunde vorkommen dürfe.
Durch die dem Arbeitnehmer auf diese Weise zugebilligte Eigenverantwortung im Zusammenhang mit Raucherpausen könnten sich im Arbeitsalltag Verhaltensweisen einschleichen, die ohne Richtungsvorgaben von Vorgesetzten nicht ohne weiteres ein kündigungsrelevantes Verhalten darstellten. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sich nicht heimlich von seinem Arbeitsplatz entfernt habe, sondern vor den Augen seiner Vorgesetzten. Es handele sich um ein Problem des täglichen Arbeitsablaufs, bei dem von Vorgesetzten im Rahmen ihrer Mitarbeiterführung eine Rückmeldung und ein Einschreiten zu erwarten sei, wenn sie mit dem Verhalten nicht einverstanden seien. Bei einer kommentarlosen Beobachtung einer den Arbeitsalltag prägenden Verhaltensweise - zu häufige und zu lange Pausen - durch Vorgesetzte, liege arbeitgeberseitig ein Organisationsverschulden vor. Nach dem Vortrag der Beklagten hatten die Vorgesetzten Einblick in das Pausenverhalten des Klägers, wie die durch drei Vorgesetzte gefertigte Pausendokumentation zeige. Die Beklagte werfe dem Kläger kein plötzliches Fehlverhalten vor. Vielmehr soll Ende 2008 bei dem Gruppenleiter der Verdacht entstanden sein, der Kläger überziehe Pausenzeiten erheblich. Die Beobachtungen seien jedoch nicht zum Anlass für Gespräche mit dem Kläger oder Abmahnungen mit konkreter Handlungsanweisung genommen worden.
Selbst wenn man davon ausgehe, der Kläger sei ausreichend auf seine Pflichten im Zusammenhang mit Raucherpausen während der Arbeitszeit hingewiesen worden, hätte der Beklagten ein milderes Mittel zur Verfügung gestanden, um den Kläger zu vertragsgemäßem Verhalten anzuhalten. Sie hätte den Kläger anweisen können, bei Raucherpausen das Zeiterfassungsgerät zu bedienen. Damit wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, während der bezahlten Arbeitszeit Raucherpausen einzulegen.
Gegen dieses Urteil, das ihr am 25.8.2009 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit am 14.9.2009 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am Montag, dem 26.10.2009 eingegangenem Schriftsatz begründet.
Sie macht geltend, entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts handele es sich vorliegend um einen Arbeitszeitbetrug und nicht nur um eine unverhältnismäßige Inanspruchnahme von Raucherpausen. Der Kläger sei nach Ziffer 5 der BV 47 verpflichtet, bei Überschreitung der erarbeiteten Pausenzeit das Zeiterfassungsgerät zu bedienen. Trotz dieses klaren Sachverhalts habe das Arbeitsgericht eine Stempelpflicht verneint und damit Nichtraucherpausen und Raucherpausen ohne Rechtfertigung ungleich behandelt. Dabei habe selbst der Kläger nicht vorgetragen, weshalb Raucherpausen arbeitszeittechnisch besser zu bewerten seien als Nichtraucherpausen. Auch die Stempelpflicht für Raucherpausen richte sich nach den erarbeiteten Pausenzeiten. Der Kläger habe keinen Anspruch auf bezahlte Raucherpausen. Eine Duldung von bezahlten Raucherpausen gelte allenfalls dann, wenn die Mitarbeiter die Raucherpausen im richtigen Verhältnis zur Dauer der Anwesenheitszeit nehmen. Sollte hier eine Duldung jenseits der normalen Pausenregelung vorliegen, beschränke sie sich lediglich auf kurze (1-2 Zigaretten andauernde) Raucherpausen. Eine Bevorzugung von Raucherpausen habe sie zu keinem Zeitpunkt vornehmen wollen. Im Übrigen werfe sie dem Kläger nicht nur „Raucherpausen", sondern auch „Nicht-Raucherpausen" und gemischte „Kombinations-Pausen" vor, die er ebenfalls nicht gestempelt habe.
Es bestehe kein milderes Mittel als die fristlose Kündigung, allenfalls sei die ordentliche Kündigung als milderes Mittel zu akzeptieren. Eine erneute Anweisung an den Kläger, bei Raucherpausen das Zeiterfassungsgerät zu bedienen, würde bedeuten, dass sie ihm - trotz erfolgloser Abmahnungen - eine weitere Chance einräumen müsste. Im Übrigen würde die Einführung einer Stempelpflicht die unverhältnismäßige Inanspruchnahme von Pausen nicht unterbinden. Es sei ihr nicht anzulasten, dass sie die Bezahlung von Raucherpausen nicht rigoros unterbunden habe. Sie habe den Kläger nicht schlechter stellen wollen, als andere rauchende Mitarbeiter.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die Beklagte müsse sich entgegenhalten lassen, dass sie keine eindeutigen Regelungen zu Raucherpausen herbeigeführt habe. Als milderes Mittel hätte sie strengere Regelungen einführen bzw. eindeutigere Abmahnungen erklären müssen.
Aus den Gründen:
I. Die nach § 64 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gemäß §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 517, 519 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist somit zulässig.
II. In der Sache hat die Berufung der Beklagten jedoch keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage zu Recht stattgegeben. Die dagegen gerichteten Angriffe der Berufung bleiben erfolglos. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ist durch die Kündigung der Beklagten vom 27.01.2009 weder außerordentlich mit sofortiger Wirkung noch ordentlich zum 30.9.2009 aufgelöst worden. Die Beklagte ist deshalb zur Weiterbeschäftigung des Klägers verpflichtet.
1. Die außerordentliche Kündigung der Beklagten ist unwirksam. Das Arbeitsgericht hat das Vorliegen eines wichtigen Grundes zur Kündigung im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB im Ergebnis und im Wesentlichen auch in der Begründung zutreffend verneint.
Zwar liegt ein Grund vor, der überhaupt an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dieser Grund führt jedoch im Rahmen der Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsprinzips, nicht zum Überwiegen der berechtigten Interessen der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB von einer zweistufigen Prüfung des wichtigen Grundes auszugehen. Zunächst ist zu prüfen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht (BAG Urteil vom 27.04.2006 - 2 AZR 386/05 - Juris Rn. 19).
Der arbeitsvertragliche Pflichtverletzung des Klägers ist geeignet eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen
1.1. Hiervon ausgehend hat das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Verletzung der Arbeitspflicht als Hauptpflicht aus dem Arbeitsvertrag im Einzelfall eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann.
Der Kläger hat erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzungen begangen, weil er seine unbezahlten Pausenzeiten, die sich aus Nr. 5 Abs. 1 der BV 47 ergeben, in gravierendem Umfang überzogen hat. Er hat zusätzlich zu den unbezahlten Pausen weitere Pausen eingelegt, für die er das volle Arbeitsentgelt erhalten hat. Pausen gehören nicht zur bezahlten Arbeitszeit. Der Kläger hat damit die Beklagte veranlasst, ihm Arbeitsentgelt für Zeiten zu zahlen, ohne die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen.
Den wiederholten Entzug der Arbeitsleistung ohne sachlichen Grund hat der Arbeitgeber auch dann nicht hinzunehmen, wenn er nicht vorsätzlich erfolgt sein sollte. Zumindest die Erbringung der Arbeitsleistung in der geschuldeten Zeit ist die Hauptpflicht, die der Arbeitnehmer schuldet. Verstöße in diesem Bereich berühren den Kernbereich des gegenseitigen Austauschverhältnisses. Der Arbeitgeber kann von dem Arbeitnehmer, der keinen bestimmten Erfolg seiner Arbeitsleistung schuldet, wenigstens verlangen, dass er die vereinbarte Arbeitszeit tatsächlich erbringt. Nur für diesen Fall schuldet er auch das vollständige Entgelt.
Auch wenn der Kläger den Umfang (Länge und Zeitpunkte) der Pausenzeiten, die die Beklagte im Einzelnen aufgeführt hat, pauschal bestreitet, so hat er selbst einräumt, dass er aufgrund seiner starken Nikotinabhängigkeit mehrmals am Tag zusätzliche Zigarettenpausen in der bezahlten Arbeitszeit eingelegt hat. Der Kläger hat damit unstreitig Zeiten, in denen er keine Arbeitsleistung erbracht hat, als Arbeitszeit bezahlen lassen und sich auf Kosten der Beklagten unberechtigte Vorteile verschafft. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, Raucherpausen oder sonstige Arbeitsunterbrechungen als Arbeitszeit zu vergüten.
Unterbricht der Arbeitnehmer während er bezahlten Arbeitszeit seine Arbeit und bleibt untätig, weil er sich privaten Dingen widmet (z.B. eine Zigarettenpause einlegt, private (Telefon-) Gespräche führt, Karten spielt, privat im Internet surft, Zeitung liest, etc.) verletzt er seine Hauptleistungspflicht zur Arbeit. In Entscheidungen zur privaten Internetnutzung (BAG Urteil vom 07.07.2005 - 2 AZR 581/04 - Juris Rn. 27 ff., Urteil vom 27.04.2006 - 2 AZR 386/05 - Juris Rn. 25 ff.) nimmt das Bundesarbeitsgerichts an, dass eine gravierende zeitliche Vernachlässigung der Arbeitspflicht vorliegt, wenn sich der Arbeitnehmer z.B. über einen längeren Zeitraum ca. 10 % der Arbeitszeit (BAG 27.04.2006, Juris Rn. 26) oder innerhalb eines Zweiwochenzeitraums an zwei Arbeitstagen jeweils ca. 1 ½ Stunden (BAG 07.07.2005, Juris Rn. 28) während der bezahlten Arbeitszeit privaten Dingen widmet.
Aus dem Umstand, dass die Beklagte in beschränktem Maße kurze Raucherpausen (1 bis 2 Zigaretten täglich) während der bezahlten Arbeitszeit duldet, konnte der Kläger nicht herleiten, ihm sei gestattet, seine Pausenzeiten nach Belieben in erheblichem zeitlichem Umfang auszunutzen. Der Kläger räumt ein, dass er wegen seiner starken Nikotinsucht täglich ca. 50 Zigaretten raucht und deshalb mehrmals täglich für vier bis zehn Minuten den Raucherraum aufsucht. Legt man diese Angaben zugrunde, dann raucht der Kläger (bei einer täglichen Schlafdauer von acht Stunden) in acht Stunden ca. 20 Zigaretten. Selbst wenn man zu seinen Gunsten unterstellt, dass er zum Rauchen einer Zigarette nur fünf Minuten benötigt (wobei er noch den Arbeitskittel ablegen und den ausgewiesenen Raucherraum aufsuchen muss), so summieren sich die zusätzlichen Zigarettenpausen auf arbeitstäglich ca. 100 Minuten. Der Kläger kann nicht ernsthaft damit rechnen, dass die Beklagte solche exzessiven Raucherpausen innerhalb der bezahlten Arbeitszeit duldet bzw. gestattet.
Vorliegend: Die Interessenabwägung fällt aufgrund des Alters und der sehr langen Betriebszugehörigkeit zugunsten des Klägers aus
1.2. Die Verfehlungen des Klägers führen im Rahmen der Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht zum Überwiegen der Interessen der Beklagten an der fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Bei der Interessenabwägung sind einerseits die Schwere der Verfehlung, deren Folgen für den Arbeitgeber, die Betriebsordnung und den Betriebsfrieden, ein eventuell eingetretener Vertrauensverlust sowie die Größe des Verschuldens und der Grad der bestehenden Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen. Andererseits sind die Dauer des Arbeitsverhältnisses, etwaige Verdienste um den Betrieb, die diskriminierende Wirkung der fristlosen Kündigung, das Lebensalter und die Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigung zu berücksichtigen.
Die Pflichtverletzungen des Klägers sind zwar gravierend. Jedoch fällt zu seinen Gunsten die immens lange Betriebszugehörigkeit deutlich ins Gewicht. Das im Juli 1970 begründete Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien hat im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung im Januar 2009 bereits über 38 Jahre bestanden. Der Kläger ist seit seinem 15. Lebensjahr bei der Beklagten beschäftigt und hat sein ganzes Arbeitsleben in ihrem Werk verbracht. Zu Gunsten des am 23.01.1955 geborenen Klägers ist außerdem sein Lebensalter zu berücksichtigen. Er war bei Zugang der Kündigung 54 Jahren alt und damit in einem Alter, in dem es für ihn praktisch aussichtslos ist, einen auch nur annähernd vergleichbaren Arbeitsplatz wie bei der Beklagten zu finden. Die Folgen der Arbeitslosigkeit träfen den Kläger hart. Die Berufungskammer verkennt nicht, dass das Arbeitsverhältnis nicht beanstandungsfrei verlaufen ist. Selbst der Kündigungsausschuss des Betriebsrates teilt in seiner Stellungnahme zur Kündigung mit, ihm sei klar, dass der Kläger nicht der „Musterknabe" des Betriebes sei.
Die lange Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter des Klägers, das seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich beschneidet, rechtfertigen es zwar nicht, dass er seine Arbeitspflicht vernachlässigt und während der bezahlten Arbeitszeit in erheblichem Umfang zusätzliche Pausen einlegt, jedoch begründen sie ein erhebliches Bestandsschutzinteresse. Das Interesse der Beklagten, das Arbeitsverhältnis fristlos mit sofortiger Wirkung zu beenden, tritt dahinter zurück.
Eine hilfsweise ordentliche Kündigung scheidet hier aus, da die Betriebsvereinbarung eine Einzelfallregelung als milderes Mittel vorsieht
2. Das Arbeitsgericht hat ebenfalls zutreffend erkannt, dass auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Beklagten zum 30.09.2009 nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt ist.
Zwar war das Fehlverhalten des Klägers nach Art und Schwere grundsätzlich geeignet, den Ausspruch einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung zu rechtfertigen. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen unter II. 1.1. zur außerordentlichen Kündigung verwiesen werden.
Doch führt auch hier die abschließende Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass das Interesse des Klägers, das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, das Interesse der Beklagten daran, es wenigstens fristgerecht zum 30.09.2009 zu beenden, überwiegt. Auch hier sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter des Klägers ganz entscheidend zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen.
Bei der gebotenen umfassenden Interessenabwägung ist zu prüfen, ob anstelle der Kündigung eine mildere Maßnahme angemessen und ausreichend gewesen wäre. Eine ordentliche Kündigung ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur erforderlich (ultima ratio), wenn sie nicht durch mildere Maßnahmen zu vermeiden ist (BAG Urteil vom 15.08.2002 - 2 AZR 514/01 - Juris Rd. 33).
Nach Lage der Dinge kam vorliegend eine Herausnahme des Klägers aus der Gleitzeitregelung und die Einführung einer generellen Pflicht, zu Beginn und Ende jeder Pause das Zeiterfassungsgerät zu bedienen, als mildere Maßnahme als die ordentliche Kündigung in Betracht. In Ziffer 8 der BV 47 ist ausdrücklich vorgesehen, dass für Mitarbeiter, die wiederholt diese Arbeitszeitvereinbarung nicht einhalten, eine Einzelfallregelung getroffen wird. Es kann erwartet werden, dass bei einer Veränderung der Rahmenbedingungen (Stempelpflicht bei jeder Pause) künftige Vertragsverstöße nicht zu besorgen sind. Wenn der Kläger verpflichtet wird, zu Beginn und Ende jeder Pause das Zeiterfassungsgerät zu bedienen, kann er sich nur noch die Anwesenheitszeiten vergüten lassen, die er tatsächlich auch gearbeitet hat. Auf eine Ungleichbehandlung mit anderen Mitarbeitern könnte sich der Kläger in diesem Zusammenhang nicht berufen. Zu Gunsten der Beklagten ist zwar in Rechnung zu stellen, dass der Kläger bereits zweimal abgemahnt worden ist. Die Warnfunktion dieser Abmahnungen wird aber dadurch abgeschwächt, dass dem Kläger u.a. vorgeworfen wird, er habe „nicht unmittelbar nach dem Rauchen einer Zigarette" seine Arbeit aufgenommen. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger dieser Formulierung entnommen hat, es sei ihm erlaubt, Zigarettenpausen innerhalb der Arbeitszeit einzulegen. Die Berufungskammer legt Wert auf die Feststellung, dass weder die lange Dauer der Betriebszugehörigkeit noch das fortgeschrittene Lebensalter des Klägers als „Freibrief" missverstanden werden dürfen, arbeitsvertragliche Pflichten zu verletzen, insbesondere - wie hier - die Pausen zu überschreiten.
Gleichwohl ist der Beklagten die dauerhafte Weiterbeschäftigung des Klägers trotz des gezeigten Fehlverhaltens (noch) nicht unzumutbar. Dem Kläger muss allerdings klar sein, dass er sein Arbeitsverhältnis durch sein Fehlverhalten ernsthaft aufs Spiel gesetzt hat, und die Beklagte vergleichbare Pflichtverletzungen in Zukunft nicht mehr wird hinnehmen müssen.
III. Nach alledem ist die Berufung der Beklagten mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.