R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Arbeitsrecht
22.10.2020
Arbeitsrecht
BAG: Beitragspflichten zum Sozialkassenverfahren

BAG, Urteil vom 17.6.2020 – 10 AZR 322/18

ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR322.18.0

Volltext: BB-Online BBL2020-2483-5

Orientierungssätze

1. Eine Klage auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes für gewerbliche Arbeitnehmer ist regelmäßig hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn die Sozialkasse darlegt, von welchem Arbeitgeber sie für welche Monate Beiträge in welcher Höhe begehrt. Die Kasse ist gehalten, die Beitragsklage nach Kalendermonaten aufzuschlüsseln (Rn. 12 ff.).

2. Der Streitgegenstand einer Beitragsklage der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes für Angestellte ist hinreichend bestimmt, wenn die Sozialkasse darlegt, von welchem Arbeitgeber sie für welche Zahl von Angestellten für welche Kalendermonate Beiträge in welcher Höhe begehrt (Rn. 12 ff.).

3. Es ist grundsätzlich nicht erforderlich, dass die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes die Arbeitnehmer, für die sie Beiträge erstrebt, namentlich benennt oder in anderer Weise individualisiert, um den Streitgegenstand zu bestimmen (Rn. 17 ff.).

4. Die Geltungserstreckung des VTV-Gerüstbau auf nicht originär tarifgebundene Arbeitgeber durch § 15 Abs. 1 iVm. Anlage 46 SokaSiG2 begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (Rn. 53 ff.).

5. § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verletzt insbesondere nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden (Rn. 61 ff.).

Sachverhalt

Die Parteien streiten über Beiträge nach dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20. Januar 1994 idF vom 11. Juni 2002 (VTV-Gerüstbau).

Der Kläger ist die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes, eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Zu den Aufgaben des Klägers gehört es, Beiträge im Sozialkassenverfahren des Gerüstbaugewerbes einzuziehen. Der VTV-Gerüstbau ist am 29. Oktober 2002 mit Wirkung zum 1. Juni 2002 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit für allgemeinverbindlich erklärt worden.

Die Parteien streiten im Revisionsverfahren noch über Sozialkassenbeiträge in Höhe von 32.085,02 Euro für den Zeitraum von Dezember 2011 bis Dezember 2013.

Der Beklagte unterhielt im streitgegenständlichen Zeitraum als Einzelunternehmer einen Gewerbebetrieb, in dem unstreitig jedenfalls auch Gerüstbauarbeiten anfielen. Gerüstmaterial wurde zu den Baustellen transportiert, auf- und abgebaut und in einem Lager vorgehalten.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet, für den streitgegenständlichen Zeitraum Beiträge zum Sozialkassenverfahren zu leisten. Erstinstanzlich hat der Kläger seinen Anspruch auf die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau gestützt, in der Berufungsinstanz hat er sich auf das Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren (SokaSiG2) berufen. Der betriebliche Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau sei eröffnet. Die gewerblichen Arbeitnehmer hätten in den Jahren 2011 bis 2013 arbeitszeitlich überwiegend die Gerüstbauarbeiten erbracht: Auf- und Abladen sowie Transportieren von Gerüstteilen vom Lagerplatz zu den Baustellen, Zusammenfügen von Gerüstteilen zu einem fertigen Gerüst und - nach Beendigung der auf dem Gerüst zu verrichtenden Tätigkeiten - Abbau von Gerüstkonstruktionen, Verladen der Teile und Rücktransport zum Lagerplatz, Instandhaltung und Wartung der Gerüstteile. Für die Berechnung der Forderung sei davon auszugehen, dass im Betrieb des Beklagten in den Jahren 2011 und 2012 zwei gewerbliche Arbeitnehmer und ein Angestellter beschäftigt gewesen seien. Für das Kalenderjahr 2013 gehe der Kläger von mindestens drei gewerblichen Arbeitnehmern und einem Angestellten aus.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an ihn 32.085,02 Euro zu zahlen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es sei fraglich, ob der betriebliche Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau eröffnet sei. Der Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit habe zunächst in den Bereichen der Raumausstattung und hiermit verbundenen Nebentätigkeiten, des Gartenbaus und der Lagerverwaltung gelegen. Nur am Rand habe er sich mit dem Gerüsttransport und dem Gerüstbau beschäftigt. Erst im Lauf der Jahre habe sich der Schwerpunkt in Richtung des Gerüstbaus verändert, sodass ab Januar 2015 überwiegend Gerüstbauarbeiten erbracht worden seien. Der gewerbliche Arbeitnehmer G habe im Jahr 2011 1.331 Stunden ausschließlich in den Bereichen Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung gearbeitet. Im Gerüstbau sei er überhaupt nicht tätig gewesen. Der gewerbliche Arbeitnehmer I habe im Jahr 2011 insgesamt 1.901 Stunden gearbeitet. Davon seien 1.711 Stunden auf die Bereiche Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung entfallen und nur 190 Stunden auf den zum Gerüstbau gehörenden Bereich Netztechnik. Der Arbeitnehmer S habe im Jahr 2011 1.910 Stunden im Bereich Gerüstbau und 212 Stunden im Lager- und Logistikbereich gearbeitet. Der Arbeitnehmer M sei im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung 412 Stunden tätig gewesen und ausschließlich als Fahrer eingesetzt worden, um Arbeitnehmer zu Baustellen und Auftragsorten zu fahren. Zu 50 % dürfte die Lagerverwaltung den Bereich des Gerüstbaus betreffen, zu 50 % die Bereiche der Raumausstattung und des Gartenbaus. Die Verteilung der Arbeitszeit in den Jahren 2012 und 2013 sei ähnlich gewesen. Die Ansprüche seien im Übrigen verjährt. Ferner rechne der Beklagte mit Gegenansprüchen wegen gewährten Urlaubs auf. Zudem sei das SokaSiG2 verfassungswidrig. Das Gesetz verstoße gegen das Rückwirkungsverbot und Art. 9 Abs. 3 GG. Es stelle auch einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in den Grundsatz der Gewaltenteilung dar. Dass ein Sozialkassenverfahren noch sinnvoll sei, müsse bezweifelt werden.

Das Arbeitsgericht hat zwei ursprünglich getrennte Prozesse verbunden und der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf Antrag der Parteien mit Beschluss vom 8. März 2017, der den Parteien am 10. März 2017 zugestellt worden ist, das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Mit Schreiben vom 20. Oktober 2017, bei Gericht an demselben Tag eingegangen, hat der Kläger das Verfahren wieder angerufen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiter das Ziel, dass die Klage vollständig abgewiesen wird.

Aus den Gründen

9          A. Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat Anspruch auf die geltend gemachten Beiträge aus § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 und § 1 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 1 und Abs. 2, § 15 Abs. 6 VTV-Gerüstbau.

10        I. Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.

11        1. Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift neben einem bestimmten Antrag auch eine bestimmte Angabe des Gegenstands und des Grundes des erhobenen Anspruchs enthalten. Ob der Streitgegenstand hinreichend bestimmt ist, ist auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen (BAG 26. Januar 2017 - 8 AZR 848/13 - Rn. 29; BGH 6. Februar 2019 - VIII ZR 54/18 - Rn. 9 mwN). Die Klagepartei muss eindeutig festlegen, welche Entscheidung sie begehrt. Dazu hat sie den Streitgegenstand so genau zu bezeichnen, dass der Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis (§ 308 ZPO) keinem Zweifel unterliegt und die eigentliche Streitfrage mit Rechtskraftwirkung zwischen den Parteien entschieden werden kann (§ 322 ZPO). Sowohl bei einer der Klage stattgebenden als auch bei einer sie abweisenden Sachentscheidung muss zuverlässig feststellbar sein, worüber das Gericht entschieden hat (für die st. Rspr. BAG 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - Rn. 20 mwN). Bei mehreren im Weg einer objektiven Klagehäufung nach § 260 ZPO in einer Klage verfolgten Ansprüchen muss erkennbar sein, aus welchen Einzelforderungen sich die „Gesamtklage“ zusammensetzt (BAG 19. Februar 2019 - 3 AZR 215/18 - Rn. 16, BAGE 165, 357; 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - aaO).

12        a) Eine Klage auf Beiträge zu dem Sozialkassenverfahren der Bauwirtschaft für gewerbliche Arbeitnehmer genügt grundsätzlich bereits dann den Vorgaben des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn der Kläger darlegt, von welchem Arbeitgeber er für welche Kalendermonate Beiträge in welcher Höhe begehrt (BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 16 ff.). Macht die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft Beiträge für Angestellte geltend, ist der Streitgegenstand hinreichend bestimmt, wenn sie darlegt, von welchem Arbeitgeber sie für welche Zahl von Angestellten in welchem Kalendermonat Beiträge in welcher Höhe erstrebt (BAG 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 24 ff.). Diese Rechtsprechung lässt sich auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes übertragen.

13        b) Der prozessuale Anspruch einer Beitragsklage der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes auf der Grundlage des VTV-Gerüstbau umfasst für gewerbliche Arbeitnehmer regelmäßig den in einem Kalendermonat anfallenden Sozialkassenbeitrag. Verlangt der Kläger Beiträge für einen längeren Zeitraum als einen Kalendermonat, handelt es sich um eine „Gesamtklage“. Der Kläger hat dann darzulegen, wie sich die Ansprüche auf die einzelnen Monate verteilen. Das hat der Senat bereits für Klagen auf Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft entschieden (BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 17 ff.). Für Angestellte macht die Sozialkasse für die einzelnen Monate keinen einheitlichen Beitragsanspruch, sondern im Weg der objektiven Klagehäufung zusammengefasste Einzelansprüche für die jeweilige Zahl der beschäftigten Angestellten geltend. Die Beiträge für Angestellte bestimmen sich nach der Zahl der beschäftigten Angestellten im jeweiligen Kalendermonat (BAG 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 25 f.).

14        aa) Eine hinreichend bestimmte Klage auf monatlich zu leistende Vergütung im Arbeitsverhältnis erfordert, dass der Kläger die begehrten Teilbeträge auf die einzelnen Monate aufteilt (BAG 29. August 2018 - 7 AZR 206/17 - Rn. 21; 7. Juli 2015 - 10 AZR 416/14 - Rn. 13, BAGE 152, 108). Eine Klage auf eine monatliche Zulage ist grundsätzlich nur dann hinreichend bestimmt, wenn ihr entnommen werden kann, welche Beträge für die einzelnen Monate des Klagezeitraums beansprucht werden (BAG 18. Februar 2016 - 6 AZR 629/14 - Rn. 22). Bei der Drittschuldnerklage auf gepfändetes Arbeitsentgelt, das nach Zeitabschnitten bemessen ist, gehört zu der erforderlichen Bestimmung des Streitgegenstands die Angabe der Zeitabschnitte, für die Entgelt in bestimmter Höhe verlangt wird (BAG 7. Juli 2015 - 10 AZR 416/14 - Rn. 15, aaO).

15        bb) Entsprechend gilt für eine Klage auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes, dass der Kläger regelmäßig gehalten ist, die Klageforderung nach Kalendermonaten aufzuschlüsseln (vgl. für Beitragsklagen zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft BAG 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 25; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 19). Wie sich aus § 14 Abs. 1 und Abs. 2 VTV-Gerüstbau iVm. § 5 Nr. 6.2 des Rahmentarifvertrags für das Gerüstbauerhandwerk (RTV) vom 27. Juli 1993 idF vom 11. Juni 2002 sowie § 15 Abs. 1 und Abs. 6 VTV-Gerüstbau ergibt, stellt der Verfahrenstarifvertrag grundsätzlich auf eine monatliche Beitragszahlung ab. Wie bei anderen Zahlungen, die nach Monaten bemessen werden, muss der Kläger deshalb bestimmen, für welche Monate er Beiträge in welcher Höhe erstrebt. Sofern die Bruttolöhne für gewerbliche Arbeitnehmer ausnahmsweise nicht monatlich abgerechnet werden und die Beiträge entsprechend für andere Abrechnungszeiträume gemeldet und gezahlt werden müssen, ist die Beitragsklage nach den Abrechnungszeiträumen aufzuschlüsseln.

16        cc) Der Kläger hat die Beiträge in den Klageschriften diesen Anforderungen entsprechend nach Kalendermonaten aufgegliedert berechnet.

17        c) Entgegen der Auffassung des Beklagten muss der Kläger die Arbeitnehmer, für die er Beiträge erstrebt, nicht namentlich benennen oder in anderer Weise individualisieren, um den Streitgegenstand zu bestimmen.

18        aa) Der Kläger macht für die einzelnen Monate jeweils einen einheitlichen Beitragsanspruch für gewerbliche Arbeitnehmer geltend, der sich aus der jeweiligen Bruttolohnsumme ergibt. Die Bruttolohnsumme kann den Bruttolohn mehrerer gewerblicher Arbeitnehmer zusammenfassen. Die Bruttomonatslöhne einzelner gewerblicher Arbeitnehmer stellen keine gesonderten Streitgegenstände dar. Bei einem Beitragsanspruch für mehrere gewerbliche Arbeitnehmer, der sich auf denselben Kalendermonat bezieht, handelt es sich um einen einheitlichen Streitgegenstand. Der Beitrag errechnet sich nach § 14 Abs. 1 VTV-Gerüstbau aus der Summe der Bruttolöhne aller von diesem Tarifvertrag erfassten Arbeitnehmer des Betriebs. Um den Streitgegenstand iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu bestimmen, ist, ausgehend von der materiellen Rechtslage, auf die Gesamtsumme der Bruttomonatslöhne abzustellen. Ob die Gesamtsumme zutreffend aus den Bruttomonatslöhnen einzelner Arbeitnehmer berechnet ist, ist keine Frage der hinreichenden Bestimmtheit der Klage, sondern ihrer Begründetheit (vgl. für Sozialkassenbeiträge in der Bauwirtschaft BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 21 ff.).

19        bb) Die Sozialkasse muss auch die Angestellten, für die sie Beiträge verlangt, nicht namentlich benennen oder in anderer Weise individualisieren, um den Streitgegenstand zu bestimmen. Die Beiträge für Angestellte richten sich allein nach der Zahl der beschäftigten Angestellten und der Beschäftigungstage im Kalendermonat, wobei im Regelfall von einem vollen Kalendermonat auszugehen ist. Auf darüber hinausgehende individuelle Eigenschaften kommt es nicht an (BAG 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 26).

20        cc) Der Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, bei einer weiteren Beitragsklage sei ohne Aufschlüsselung der Beiträge nach bestimmten Arbeitnehmern nicht klar, über welche Ansprüche bereits entschieden worden sei.

21        (1) Entschieden wird mit der jeweiligen Beitragsklage nur über Beiträge in bestimmter Höhe für den nach Monaten bemessenen Abrechnungszeitraum. Die Beiträge müssen dagegen nicht einzelnen Arbeitnehmern zugeordnet werden, damit der Anspruch hinreichend bestimmt ist.

22        (2) Bei Klagen auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes handelt es sich regelmäßig um offene oder verdeckte Teilklagen. Der Kläger ist für die Berechnung der Beiträge in der Regel auf eigene Meldungen des Arbeitgebers oder auf Informationen durch Dritte - etwa die Bundesagentur für Arbeit oder das Hauptzollamt - angewiesen, die fehlerhaft sein können. Er behält sich daher regelmäßig vor, weitere Beiträge zu fordern, wenn er Kenntnis davon erlangt, dass die tatsächlichen Beitragsansprüche höher sind als ursprünglich angenommen. Hat ein Kläger im vorangegangenen Prozess nur einen Teilanspruch geltend gemacht, erfasst die Rechtskraft des Urteils lediglich diesen Teil des Anspruchs und erstreckt sich nicht auf den nicht eingeklagten restlichen Anspruch. Das gilt grundsätzlich auch, wenn der Kläger im Vorprozess eine sog. verdeckte Teilklage verfolgt hat, ohne sich weiter gehende Ansprüche vorzubehalten (vgl. für Klagen auf Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 25).

23        2. Der Kläger konnte seine Beitragsklage in der Berufungsinstanz in zulässiger Weise erstmals auf § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 und § 14 Abs. 1 und Abs. 2 VTV-Gerüstbau stützen. Er hat damit keine neuen prozessualen Streitgegenstände in den Prozess eingeführt. Auch wenn er sich in erster Instanz lediglich auf die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau gestützt hat, leitet er den Klageanspruch aus ein und demselben Lebenssachverhalt her. Er stützt ihn lediglich auf zwei konkurrierende Anspruchsgrundlagen (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 13, BAGE 166, 233). Es handelt sich deshalb nicht um eine an die gesetzliche Frist des § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO iVm. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG gebundene Anschlussberufung.

24        II. Die Klage ist begründet. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, stehen dem Kläger die eingeklagten Beiträge aus § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 zu. Die Beitragspflicht des Beklagten folgt aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 iVm. § 14 Abs. 1 und Abs. 2, § 15 Abs. 6 VTV-Gerüstbau.

25        1. Der im Land Baden-Württemberg gelegene Betrieb des Beklagten unterfällt dem räumlichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau (§ 1 Abs. 1). Die beim Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer und der beschäftigte Angestellte werden vom persönlichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau erfasst (§ 1 Abs. 3).

26        2. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der betriebliche Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau nach § 1 Abs. 2 Abschn. I Buchst. a eröffnet ist.

27        a) Ein Betrieb unterfällt nach § 1 Abs. 2 Abschn. I Buchst. a VTV-Gerüstbau dem betrieblichen Geltungsbereich, wenn er nach seiner durch die Art der betrieblichen Tätigkeit geprägten Zweckbestimmung arbeitszeitlich überwiegend mit eigenem oder fremdem Material gewerblich Gerüste erstellt oder Gerüstmaterial bereitstellt (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 17, BAGE 166, 233). Auf wirtschaftliche Gesichtspunkte oder auf handels- oder gewerberechtliche Kriterien kommt es nicht an. Den Gerüstbauarbeiten sind diejenigen Nebenarbeiten zuzuordnen, die zu ihrer sachgerechten Ausführung notwendig sind (BAG 18. Oktober 2017 - 10 AZR 327/16 - Rn. 10).

28        b) Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass in einem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend Gerüstbautätigkeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Gerüstbau erbracht werden, obliegt dem Kläger. Sein Sachvortrag ist schlüssig, wenn er Tatsachen vorbringt, die den Schluss zulassen, der Betrieb des Arbeitgebers werde vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau erfasst. Dazu gehört neben der Darlegung von Arbeiten, die sich § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Gerüstbau zuordnen lassen, auch das Vorbringen, dass diese Tätigkeiten insgesamt arbeitszeitlich überwiegen. Nicht erforderlich ist, dass der Kläger jede Einzelheit der behaupteten Tätigkeiten vorträgt. Dem Arbeitgeber obliegt es, sich nach § 138 Abs. 2 ZPO zu dem schlüssigen Tatsachenvortrag des Klägers zu dem betrieblichen Geltungsbereich zu erklären. Regelmäßig trifft ihn die Last des substantiierten Bestreitens, weil der Kläger außerhalb des Geschehensablaufs steht und er keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen hat, während der Arbeitgeber sie kennt und ihm die entsprechenden Angaben zuzumuten sind. Das substantiierte Bestreiten kann sich auf die Art und/oder den Umfang der versehenen Arbeiten beziehen. Um feststellen zu können, welche Tätigkeiten in welchem Umfang ausgeübt wurden, muss der Arbeitgeber substantiiert bestreiten und entsprechende Tatsachen vortragen. Dazu gehört, dass er die zeitlichen Anteile der verschiedenen Tätigkeiten darlegt (vgl. BAG 18. Dezember 2019 - 10 AZR 141/18 - Rn. 20; 27. März 2019 - 10 AZR 512/17 - Rn. 19 ff.).

29        c) Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Landesarbeitsgericht mit zutreffender Begründung davon ausgegangen, dass im Betrieb des Beklagten arbeitszeitlich überwiegend Gerüstbauarbeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Gerüstbau erbracht werden.

30        aa) Der Kläger hat schlüssig behauptet, die gewerblichen Arbeitnehmer des Beklagten hätten in den Jahren 2011 bis 2013 arbeitszeitlich überwiegend Gerüstbauarbeiten verrichtet. Er hat vorgetragen, die Arbeitnehmer des Beklagten fügten Gerüstteile zu einem fertigen Gerüst zusammen und bauten Gerüstkonstruktionen wieder ab. Diese Tätigkeiten fallen unter „Gerüste erstellen“ iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. I Buchst. a VTV-Gerüstbau. Das behauptete Auf- und Abladen sowie Transportieren von Gerüstteilen vom Lagerplatz zu den Baustellen, das Verladen der Teile und der Rücktransport zum Lagerplatz, die Instandhaltung und die Wartung der Gerüstteile sind ebenfalls dem Gerüstbau zuzurechnen. Konkludent hat der Kläger damit auch zum Ausdruck gebracht, dass sich die Tätigkeit des Angestellten auf den Gerüstbau bezogen hat.

31        bb) Die Darlegungen des Beklagten zu Art und Umfang der im Betrieb versehenen Tätigkeiten stehen der Anwendung des VTV-Gerüstbau nicht entgegen.

32        (1) Der Beklagte hat behauptet, in dem streitgegenständlichen Zeitraum von 2011 bis 2013 habe der Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit in den Bereichen der Raumausstattung und hiermit verbundenen Nebentätigkeiten, des Gartenbaus und der Lagerverwaltung gelegen. Nur in zeitlich untergeordnetem Umfang seien Tätigkeiten des Gerüstbaus angefallen.

33        (2) Der Beklagte hat jedoch nicht ausreichend zwischen den Arbeitszeitanteilen für den Gerüstbau einerseits und den Arbeitszeitanteilen für die Bereiche Gartenbau und Raumausstattung andererseits unterschieden. Insbesondere hat der Beklagte versäumt, den zeitlichen Umfang der Lagerarbeiten konkret darzulegen, die sich nach seinem eigenen Vortrag zu etwa 50 % auf den Bereich des Gerüstbaus bezogen.

34        (a) Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass Lagerarbeiten, die Gerüstmaterial betreffen, dem Bereich des Gerüstbauerhandwerks zuzuordnen sind. Das ergibt sich aus der Regelung in § 5 Nr. 3.2.8 RTV. Danach sind Gerüstbau-Lagerarbeiter Arbeitnehmer, die im Gerüstbauerhandwerk, nicht aber im Gerüstbau eingesetzt werden. Sie werden nicht bei der Gerüstmontage oder -demontage eingesetzt, sondern transportieren und lagern Gerüst- und andere Baumaterialien. Daran wird deutlich, dass das Lagern von Gerüstmaterial dem Gerüstbauerhandwerk zuzuordnen ist.

35        (b) Der Beklagte wird mit seinem Vortrag zu den Zeitanteilen der einzelnen Arbeitnehmer für das Jahr 2011 seiner Einlassungspflicht nicht gerecht.

36        (aa) Der Beklagte hat in Bezug auf den gewerblichen Arbeitnehmer G vorgetragen, er habe im Jahr 2011 insgesamt 1.331 Stunden ausschließlich in den Bereichen Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung gearbeitet, ohne die Verteilung weiter aufzuschlüsseln. Im Hinblick auf alle Arbeitnehmer hat der Beklagte dargelegt, die Lagerverwaltung habe zu ungefähr 50 % den Bereich des Gerüstbaus und zu ebenfalls etwa 50 % die Bereiche Raumausstattung und Gartenbau betroffen. Sollte die Lagerverwaltung - was nach dem Vortrag des Beklagten möglich ist - den ganz überwiegenden Anteil der Arbeitszeit des Arbeitnehmers G ausgemacht haben, zählte knapp die Hälfte seiner Gesamtarbeitszeit zu dem Bereich des Gerüstbauerhandwerks.

37        (bb) Hinsichtlich des gewerblichen Arbeitnehmers I hat der Beklagte vorgetragen, er habe im Jahr 2011 1.901 Stunden gearbeitet. Davon seien 1.711 Stunden auf die Bereiche Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung entfallen. Da der Beklagte nicht aufschlüsselt, wie sich diese 1.711 Stunden arbeitszeitlich auf die Tätigkeiten in den Bereichen Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung aufteilen, ist zu seinen Lasten davon auszugehen, dass die Arbeiten ganz überwiegend zu der Lagerverwaltung gehörten. Diese ist nach dem eigenen Vortrag des Beklagten mit der Hälfte der Arbeitszeit dem Gerüstbaugewerbe zuzurechnen. Zusammen mit den 190 Stunden, die nach dem Vorbringen des Beklagten auf den Bereich Netztechnik entfielen, der zum Gerüstbau gehört, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Arbeitnehmer I überwiegend Tätigkeiten des Gerüstbauerhandwerks verrichtet hat.

38        (cc) Der Arbeitnehmer S hat nach dem Vortrag des Beklagten 1.910 Stunden im Bereich Gerüstbau und 212 Stunden im Lager- und Logistikbereich gearbeitet. Damit hat er ganz überwiegend Gerüstbauarbeiten erbracht.

39        (dd) Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer M war als Fahrer eingesetzt. Für ihn ist nicht konkretisiert, auf welchen Geschäftsbereich sich diese Fahrtätigkeit bezog. Auch nach dem Vorbringen des Beklagten ist nicht auszuschließen, dass sie dem Bereich Gerüstbau zuzuordnen ist.

40        (ee) Zusammengefasst kann für das Jahr 2011 nach dem Vortrag des Beklagten nur für den Arbeitnehmer G angenommen werden, dass er mit einem leicht überwiegenden Anteil seiner Arbeitszeit außerhalb des Gerüstbaus eingesetzt war. Alle anderen gewerblichen Arbeitnehmer waren auch nach dem Beklagtenvorbringen möglicherweise arbeitszeitlich überwiegend oder ausschließlich im Bereich des Gerüstbaus eingesetzt. Damit kann nach dem Vorbringen des Beklagten nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Bereich arbeitszeitlich überwog.

41        (c) In den Jahren 2012 und 2013 haben sich die Arbeitszeitanteile nach dem Vortrag des Beklagten weiter in Richtung des Gerüstbaus verschoben. Auch für diese Jahre ist demnach davon auszugehen, dass die Tätigkeiten im Bereich des Gerüstbaus arbeitszeitlich überwogen.

42        3. Die Höhe der Forderungen hat der Kläger schlüssig dargelegt. Der Beklagte hat sie nicht bestritten.

43        4. Die in der Revisionsinstanz noch streitigen Beiträge für den Zeitraum von Dezember 2011 bis Dezember 2013 sind weder verjährt noch verfallen.

44        a) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf die von ihm erhobene Einrede der Verjährung berufen.

45        aa) Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend zugrunde gelegt hat, gilt für die hier streitigen Beitragsansprüche mangels einer abweichenden tarifvertraglichen Regelung die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Die Verjährungsfrist beginnt nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB frühestens mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Regelmäßig entsteht ein Anspruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn er nach § 271 BGB fällig ist (BAG 20. Mai 2020 - 10 AZR 576/18 - Rn. 33; BGH 21. Juni 2018 - IX ZR 129/17 - Rn. 6). Die Verjährungsfrist kann nicht zulasten des Berechtigten beginnen, solange er nicht in der Lage ist, den Anspruch geltend zu machen, indem er Klage erhebt (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB; BAG 20. Mai 2020 - 10 AZR 576/18 - Rn. 33 mwN; BGH 17. Februar 1971 - VIII ZR 4/70 - zu 1 der Gründe, BGHZ 55, 340).

46        bb) Die Beitragsansprüche sind nach § 15 Abs. 6 VTV-Gerüstbau „bis zum nächsten 15. des Monats“ zu zahlen. Der älteste Beitragsanspruch für Dezember 2011 ist mit dem 15. Januar 2012 fällig geworden und entstanden iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres 2012 und endet mit Ablauf des 31. Dezember 2015.

47        cc) Die Verjährungsfrist für den Beitragsmonat Dezember 2011 ist durch eine am 12. Dezember 2014 bei Gericht eingegangene und dem Beklagten am 24. Dezember 2014 zugestellte Beitragsklage nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt worden. Die Verjährungsfrist für die Beitragsmonate Januar 2012 bis Dezember 2013 ist durch eine am 19. März 2015 eingegangene und am 2. April 2015 zugestellte Klage gehemmt worden.

48        dd) Es kann dahinstehen, ob die Hemmung der Verjährung nach § 204 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 BGB in der bis zum 31. Oktober 2018 geltenden Fassung (jetzt: § 204 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 BGB in der seit dem 1. November 2018 geltenden Fassung) zwischenzeitlich geendet und neu begonnen hat, weil der Rechtsstreit vom 8. März 2017 bis 20. Oktober 2017 geruht hat. Selbst in diesem Fall wäre die Verjährungsfrist gewahrt.

49        b) Durch die Erhebung der Beitragsklagen im Dezember 2014 und April 2015 ist auch die vierjährige Verfallfrist des § 18 VTV-Gerüstbau gewahrt.

50        5. Die Beitragsansprüche des Klägers sind nicht ganz oder teilweise durch Aufrechnung nach § 389 BGB erloschen.

51        a) Der Beklagte ist nach § 14 Abs. 4 Satz 2 VTV-Gerüstbau nicht berechtigt, mit Erstattungsforderungen gegen bestehende Beitragsrückstände aufzurechnen (vgl. BAG 3. Juli 2019 - 10 AZR 499/17 - Rn. 79, BAGE 167, 196; 19. Februar 2014 - 10 AZR 428/13 - Rn. 28).

52        b) Im Übrigen fehlt eine hinreichend bestimmte Aufrechnungserklärung. Der Beklagte hat die zur Aufrechnung gestellten möglichen Erstattungsansprüche nicht beziffert. Eine Aufrechnung setzt jedoch voraus, dass klar ist, mit welcher Forderung aufgerechnet wird. Für die Aufrechnung mit einer Gegenforderung gilt der Bestimmtheitsgrundsatz. Es muss feststellbar sein, welche der zur Aufrechnung gestellten Gegenansprüche in welcher Höhe erloschen sind (BAG 20. November 2018 - 9 AZR 349/18 - Rn. 13 mwN).

53        6. Gegen die Geltungserstreckung des VTV-Gerüstbau auf den nicht originär tarifgebundenen Beklagten durch § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 bestehen aus Sicht des Senats keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 31 ff., BAGE 166, 233; vgl. für das SokaSiG BAG 22. Januar 2020 - 10 AZR 387/18 - Rn. 45 ff.; 22. Januar 2020 - 10 AZR 323/18 - Rn. 24 ff.; 18. Dezember 2019 - 10 AZR 424/18 - Rn. 71 ff.; 27. November 2019 - 10 AZR 399/18 - Rn. 28 ff.; 27. November 2019 - 10 AZR 400/18 - Rn. 28 ff.; 27. November 2019 - 10 AZR 476/18 - Rn. 46 ff.; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 567/17 - Rn. 49 ff.; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 15 ff.; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 177/18 - Rn. 55; 24. September 2019 - 10 AZR 562/18 - Rn. 20 ff.; 28. August 2019 - 10 AZR 549/18 - Rn. 84 ff., BAGE 167, 361; 28. August 2019 - 10 AZR 550/18 - Rn. 23 ff.; 3. Juli 2019 - 10 AZR 498/17 - Rn. 39 ff.; 3. Juli 2019 - 10 AZR 499/17 - Rn. 81 ff., BAGE 167, 196; 8. Mai 2019 - 10 AZR 559/17 - Rn. 29 ff.; 27. März 2019 - 10 AZR 318/17 - Rn. 47 ff.; 27. März 2019 - 10 AZR 512/17 - Rn. 32 ff.; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 42 ff., BAGE 164, 201).

54        a) § 15 Abs. 1 SokaSiG2 ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 34 ff., BAGE 166, 233).

55        aa) Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, das SokaSiG2 verstoße gegen Art. 9 Abs. 3 GG, weil es den frei gebildeten Koalitionen und nicht dem Gesetzgeber zustehe, die Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung zu gestalten. Die Tarifvertragsparteien hatten für den von § 15 Abs. 1 SokaSiG2 in Bezug genommenen Verfahrenstarifvertrag einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung gestellt. Beim Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung unterliegt der Normgeber der Grundrechtsbindung (vgl. BAG 18. Dezember 2019 - 10 AZR 424/18 - Rn. 76; 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 23).

56        bb) Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie ist jedenfalls gerechtfertigt. Die Regelung des § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verfolgt einen legitimen Zweck. Sie dient dazu, den Fortbestand des Sozialkassenverfahrens im Gerüstbauerhandwerk und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, indem sie die Anwendung des VTV-Gerüstbau auf Nichtverbandsmitglieder ausdehnt. Darüber hinaus schafft das SokaSiG2 Bedingungen für einen fairen Wettbewerb. Das Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Es ist auch erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten Erwägungen sind - entgegen der Auffassung des Beklagten, der Sozialkassenverfahren für nicht mehr sinnvoll hält - von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Schließlich sind die mit § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verbundenen Belastungen zumutbar. Die bezweckte Sicherung des Sozialkassenverfahrens des Gerüstbaugewerbes sowie die Herstellung von Bedingungen für einen fairen Wettbewerb stehen im allgemeinen Interesse und stellen einen gewichtigen Belang im Rahmen der durchzuführenden Abwägung dar. Demgegenüber wird die Tarifautonomie der vom SokaSiG2 erfassten Arbeitgeber und Verbände allenfalls geringfügig beeinträchtigt (vgl. BAG 22. Januar 2020 - 10 AZR 387/18 - Rn. 48 ff.; 28. August 2019 - 10 AZR 550/18 - Rn. 26).

57        cc) Der Beklagte kann nicht mit seiner Ansicht durchdringen, das SokaSiG2 verletze die Freiheit einzelner Arbeitgeber, einer Vereinigung beizutreten oder nicht beizutreten. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung des VTV-Gerüstbau einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmöglichkeit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit verletzt würde (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 41, BAGE 166, 233; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 52, BAGE 164, 201).

58        dd) Der Beklagte beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der möglicherweise unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau durch eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 40, BAGE 166, 233; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 51, BAGE 164, 201).

59        ee) Schließlich überzeugen die Bedenken des Beklagten nicht, dass ein konkurrierender Tarifpartner mit einem spezielleren Tarifvertrag das SokaSiG2 nicht verdrängen könne. Darin ist keine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG zu erkennen. Auch ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung ist einzuhalten, selbst wenn der Arbeitgeber nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist (§ 5 Abs. 4 Satz 2 TVG). § 15 Abs. 1 SokaSiG2 wirkt nicht anders als ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag. Das SokaSiG2 dient ebenso wie die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Einrichtung nach § 5 Abs. 1a TVG dem Zweck, den gleichmäßigen Beitragseinzug zu sichern. Das rechtfertigt es, einen Ausschluss von der Beitragspflicht durch speziellere Tarifverträge zu verhindern.

60        b) § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verstößt nicht gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Der Gesetzgeber hat lediglich eine möglicherweise aus formellen Gründen unwirksame Erstreckung der Normwirkung der Verfahrenstarifverträge um eine wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ergänzt, um auf diese Weise den möglichen Folgen der Beschlüsse des Senats vom 21. September 2016 für die Bauwirtschaft (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289) auch für andere Branchen vorzubeugen (vgl. BAG 30. Oktober 2019 - 10 AZR 38/18 - Rn. 25; 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 92 f., BAGE 164, 201).

61        c) § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verletzt nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 48 ff., BAGE 166, 233).

62        aa) Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte (BVerfG 10. April 2018 - 1 BvR 1236/11 - Rn. 133, BVerfGE 148, 217). Normen mit echter Rückwirkung („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“) sind grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig, sofern eine Durchbrechung dieses Verbots nicht ausnahmsweise durch zwingende Belange des Gemeinwohls oder ein nicht - oder nicht mehr - vorhandenes schutzbedürftiges Vertrauen des Einzelnen gestattet wird (BVerfG 16. Dezember 2015 - 2 BvR 1958/13 - Rn. 43, BVerfGE 141, 56; BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 49, BAGE 166, 233).

63        bb) Die in § 15 Abs. 1 SokaSiG2 angeordnete echte Rückwirkung begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei den nicht originär tarifgebundenen Arbeitgebern konnte sich kein hinreichend gefestigtes und damit schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, von Beitragszahlungen verschont zu bleiben oder Beiträge erstattet zu bekommen.

64        (1) Bis zum 20. September 2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau. Die Arbeitgeber mussten vielmehr vom Gegenteil ausgehen und ihre wirtschaftlichen Dispositionen auf die vollständige Erfüllung der in den verschiedenen Verfahrenstarifverträgen geregelten Pflichten einrichten. Das gilt für den unmittelbar von den Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289) betroffenen Bereich der Bauwirtschaft (BAG 20. November 2018 - 10 AZR 121/18 - Rn. 77 ff., BAGE 164, 201). Ebenso wenig konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt im Bereich des Gerüstbaugewerbes ein Vertrauen darauf bilden, die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau sei unwirksam (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 55, BAGE 166, 233).

65        (2) Die nicht verbandszugehörigen Arbeitgeber des Gerüstbaugewerbes konnten auch nach den Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 (- 10 ABR 33/15 - BAGE 156, 213; - 10 ABR 48/15 - BAGE 156, 289) nicht darauf vertrauen, nicht mehr zu Beiträgen zum Sozialkassenverfahren herangezogen zu werden oder bereits geleistete Zahlungen zurückerstattet zu erhalten. Aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 stand nicht fest, dass auch die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau in einem Verfahren nach § 98 ArbGG für unwirksam erklärt werden würde (BAG 27. März 2019 - 10 AZR 211/18 - Rn. 56 ff., BAGE 166, 233).

66        B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

stats