BAG: Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub
BAG, Urteil vom 14.2.2017 – 9 AZR 386/16
ECLI:DE:BAG:2017:140217.U.9AZR386.16.0
BB-ONLINE BBL2017-948-3
Sachverhalt
Die Parteien streiten über einen Ersatzurlaubsanspruch des Klägers.
Der Kläger ist bei der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilzulieferindustrie, seit dem 1. August 2007 beschäftigt. Zuletzt war er mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 35 Stunden im Rahmen einer Fünftagewoche tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie des Saarlandes vom 20. Juli 2005 (MTV) Anwendung. Darin heißt es auszugsweise:
„§ 16
Grundsätze der Urlaubsgewährung
1.
Jeder Beschäftigte hat nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen in jedem Urlaubsjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.
2.
Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
§ 17
Berechnung der Urlaubsdauer
1.
Der Urlaub beträgt bei zwölfmonatiger ununterbrochener Beschäftigung im gleichen Betrieb für Beschäftigte 30 Arbeitstage.
§ 22
Erlöschen des Urlaubsanspruchs
Der Urlaubsanspruch erlischt nach Ablauf des Urlaubsjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde, oder dass der Urlaub aus betrieblichen Gründen oder wegen Krankheit nicht genommen werden konnte. In diesem Falle ist der Urlaub bis spätestens drei Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres in Anspruch zu nehmen.“
Im Jahr 2013 erhielt der Kläger 24 Arbeitstage Urlaub von den ihm nach dem MTV zustehenden 30 Urlaubstagen. Vom 23. Dezember 2013 bis zum 28. März 2014 war er arbeitsunfähig krank. Die Beklagte wies in der Entgeltabrechnung für den Monat April 2014 den nicht gewährten tariflichen Mehrurlaub aus dem Jahr 2013 nicht mehr aus. Der Kläger machte diesen Urlaub mit einem Schreiben vom 8. Juli 2014 erfolglos geltend.
Der Kläger hat zuletzt die Auffassung vertreten, dass ihm aus dem Jahr 2013 noch ein tariflicher Mehrurlaub von vier Arbeitstagen zustehe. Dieser sei nicht mit Ablauf des 31. März 2014 verfallen. § 22 MTV enthalte kein eigenständiges, von § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG abweichendes Fristenregime. Entscheidend für die Annahme eines Gleichlaufs zwischen gesetzlicher und tariflicher Regelung sei, dass die Tarifvertragsparteien das Fristenregime des BUrlG unverändert gelassen und lediglich die Gründe für die Übertragung von Urlaub modifiziert hätten.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass er gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Gewährung von tariflichem Mehrurlaub aus dem Jahr 2013 iHv. weiteren vier Arbeitstagen hat.
Zu ihrem Klageabweisungsantrag hat die Beklagte die Auffassung vertreten, die Tarifvertragsparteien hätten sich vom gesetzlichen Fristenregime gelöst und eine eigenständige Regelung getroffen. Der restliche tarifliche Mehrurlaubsanspruch sei deshalb mit Ablauf des 31. März 2014 verfallen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage - soweit für die Revision von Bedeutung - stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Aus den Gründen
8 Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Die Klage ist zwar zulässig, aber unbegründet.
9 I. Die Feststellungsklage ist zulässig. Der Kläger hat ein rechtliches Interesse daran, durch das Gericht feststellen zu lassen, dass ihm gegen die Beklagte ein aus dem Jahr 2013 resultierender Ersatzurlaubsanspruch zusteht (§ 256 Abs. 1 ZPO). Die Feststellungsklage ist nicht wegen des Vorrangs der Leistungsklage unzulässig (grdl. BAG 12. April 2011 - 9 AZR 80/10 - Rn. 11 bis 15, BAGE 137, 328).
10 II. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Ersatzurlaub von vier Tagen gemäß § 275 Abs. 1 und Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB. Der noch im Streit stehende tarifliche Mehrurlaub des Klägers aus dem Jahr 2013 ist aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit mit Ablauf des 31. März 2014 gemäß § 22 MTV verfallen, bevor Verzug hätte eintreten können. Der MTV enthält ein eigenständiges, vom BUrlG abweichendes Fristenregime, nach dem der tarifliche Urlaub auch bei fortbestehender Krankheit drei Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt.
11 1. Der MTV findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) Anwendung.
12 2. Dem Untergang der noch streitgegenständlichen vier Arbeitstage des tariflichen Mehrurlaubs mit Ablauf des 31. März 2014 steht die bis zum 28. März 2014 andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht entgegen.
13 a) Der aus dem Jahr 2013 stammende Urlaub hätte - soweit es den gesetzlichen Mindesturlaub betrifft - unbeschadet des Umstands, dass der Übertragungszeitraum grundsätzlich am 31. März 2014 endete (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG, § 22 MTV), fortbestanden. Aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie, ABl. EU L 299 vom 18. November 2003 S. 9) ist § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform dahin gehend auszulegen, dass der gesetzliche Mindesturlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krank und deshalb arbeitsunfähig ist (grdl. BAG 7. August 2012 - 9 AZR 353/10 - Rn. 23 ff., BAGE 142, 371). Unterläge der tarifliche Mehrurlaub dem gesetzlichen Fristenregime, wäre der noch streitgegenständliche tarifliche Resturlaub aus dem Jahr 2013 nicht mit Ablauf des 31. März 2014 erloschen. Der Kläger war vom 23. Dezember 2013 bis zum 28. März 2014 arbeitsunfähig krank. Das Arbeitsgericht hat die Klage iHv. zwei Tagen des tariflichen Mehrurlaubs, die der Kläger vor seiner Erkrankung im Urlaubsjahr bzw. nach seiner Genesung im Übertragungszeitraum nicht rechtzeitig verlangt hat, rechtskräftig abgewiesen. Der verbleibende, in der Revisionsinstanz noch zur Entscheidung anfallende tarifliche Mehrurlaub von vier Tagen wäre über den 31. März 2014 hinaus erhalten geblieben und unterläge dem für das Urlaubsjahr 2014 geltenden Fristenregime (vgl. BAG 7. August 2012 - 9 AZR 353/10 - Rn. 34, aaO).
14 b) Tarifvertragsparteien können jedoch Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln (vgl. EuGH 3. Mai 2012 - C-337/10 - [Neidel] Rn. 34 ff. mwN; BAG 15. Dezember 2015 - 9 AZR 747/14 - Rn. 13; 12. April 2011 - 9 AZR 80/10 - Rn. 21, BAGE 137, 328). Diese Befugnis schließt die Befristung des tariflichen Mehrurlaubs ein (BAG 15. Dezember 2015 - 9 AZR 747/14 - aaO; 7. August 2012 - 9 AZR 760/10 - Rn. 18, BAGE 143, 1).
15 c) Für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, den tariflichen Mehrurlaub einem eigenen, von dem des gesetzlichen Mindesturlaubs abweichenden Fristenregime zu unterstellen, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen. Ein Gleichlauf ist nicht gewollt, wenn die Tarifvertragsparteien entweder bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich vom gesetzlichen Fristenregime gelöst und eigenständige, vom BUrlG abweichende Regelungen zur Befristung und Übertragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs getroffen haben (BAG 15. Dezember 2015 - 9 AZR 747/14 - Rn. 14; 22. Mai 2012 - 9 AZR 575/10 - Rn. 12). Dies ist zB dann der Fall, wenn der Tarifvertrag auf eine Übertragungsanordnung verzichtet und der Urlaub ohne besondere Gründe und ohne die Notwendigkeit einer Übertragung bis zum 31. März des Folgejahres geltend gemacht werden kann (vgl. BAG 15. Dezember 2015 - 9 AZR 747/14 - Rn. 16 f.). Ein eigenständiges Fristenregime ist auch dann anzunehmen, wenn der Tarifvertrag zwar nicht auf die Übertragung, aber auf das Vorliegen von Übertragungsgründen verzichtet (anders noch BAG 12. April 2011 - 9 AZR 80/10 - Rn. 29 ff., BAGE 137, 328). Ein Verzicht auf die Übertragungsvoraussetzungen hat dieselben Auswirkungen wie ein Verzicht auf die Übertragungsnotwendigkeit. Der Urlaubsanspruch kann in beiden Fällen - abweichend von § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG - erstmals mit Ablauf des 31. März des Folgejahres erlöschen. Dies bewirkt eine Lösung vom Fristenregime des BUrlG. Entsprechendes gilt für eine Modifizierung der gesetzlichen Übertragungsvoraussetzungen. Die Übertragungsvoraussetzungen und das Fristenregime stehen notwendigerweise in einem inneren Zusammenhang. Abweichungen von den gesetzlichen Übertragungsvoraussetzungen führen in den davon betroffenen Fallkonstellationen zu einer Verschiebung des Fristenregimes und damit zu einer eigenständigen Fristenregelung.
16 d) Daran gemessen haben die Tarifvertragsparteien des MTV den tariflichen (Mehr-)Urlaub einem eigenständigen, vom BUrlG abweichenden Regelungsregime unterstellt.
17 aa) Nach dem Wortlaut des § 22 MTV erlischt der Urlaubsanspruch nach Ablauf des Urlaubsjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde oder der Urlaub aus betrieblichen Gründen oder wegen Krankheit nicht genommen werden konnte. In diesem Fall ist der Urlaub bis spätestens drei Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres in Anspruch zu nehmen. Damit haben sich die Tarifvertragsparteien hinreichend deutlich vom Regelungsregime des § 7 Abs. 3 Satz 1 bis Satz 3 BUrlG gelöst und ihren Willen verdeutlicht, dass der Urlaub, der wegen Krankheit nicht bis zum 31. März des Folgejahres in Anspruch genommen wird, erlischt.
18 (1) § 22 MTV enthält zunächst eine wesentliche Abweichung von § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG. Nach der gesetzlichen Regelung wird der bis zum 31. Dezember des Kalenderjahres nicht genommene Urlaub nur dann in das Folgejahr übertragen, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Hat der Arbeitnehmer dagegen vom Arbeitgeber rechtzeitig Urlaub verlangt und dieser ihn im Kalenderjahr nicht gewährt, obwohl dies möglich gewesen wäre, verfällt der gesetzliche Urlaubsanspruch. Der so im Verzugszeitraum verfallene Urlaubsanspruch wandelt sich in einen auf Gewährung von Ersatzurlaub als Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch gemäß § 275 Abs. 1 und Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB um (vgl. BAG 3. Juni 2014 - 9 AZR 944/12 - Rn. 10 mwN). Die tarifliche Regelung in § 22 MTV modifiziert diese gesetzlichen Bestimmungen zur Befristung und Übertragung sowie zum Verfall des Urlaubsanspruchs.
19 (a) Seinem Wortlaut nach verzichtet § 22 Satz 1 MTV auf die Dringlichkeit der betrieblichen Gründe. Ob die Übertragung des Urlaubsanspruchs in das Folgejahr dadurch für aus der betrieblichen Sphäre stammende Gründe erleichtert werden soll, muss der Senat nicht entscheiden.
20 (b) Jedenfalls schließt § 22 MTV abweichend von § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG den Verfall des vom Arbeitnehmer rechtzeitig verlangten, ihm aber nicht gewährten Urlaubs sowie das Entstehen eines Schadensersatzanspruchs aus und ordnet dessen Übertragung in das Folgejahr an. Die tarifliche Bestimmung weitet damit das Fristenregime auf die Fälle des Ersatzurlaubsanspruchs aus.
21 (c) Schließlich beschränkt § 22 MTV die Übertragung des Urlaubs, der aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen nicht gewährt und genommen werden kann, allein auf Krankheitsfälle. Diese Modifizierung der Übertragungsgründe wirkt sich unmittelbar auf das Fristenregime aus. Nach dem Wortlaut der Tarifnorm und dem dadurch zum Ausdruck kommenden Willen der Tarifvertragsparteien soll die Beschränkung der Übertragung von Urlaub, der aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen im Urlaubsjahr nicht genommen werden konnte, auf Krankheitsfälle zu einem Erlöschen des Urlaubsanspruchs mit Ablauf des 31. Dezember des Urlaubsjahres führen, wenn sonstige - nicht in Zusammenhang mit einer Erkrankung stehende - personenbedingte Gründe vorliegen (zB Haft des Arbeitnehmers). Die Tarifnorm differenziert mithin innerhalb der personenbedingten Gründe iSd. § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG zwischen Verhinderungen aus Krankheitsgründen und sonstigen Gründen und trifft insoweit unterschiedliche Regelungen zur Befristung und Übertragung sowie zum Verfall des Urlaubsanspruchs.
22 (2) Der Annahme eines Gleichlaufs zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub steht aber auch der klare Wortlaut des § 22 MTV entgegen. Die Tarifvertragsparteien haben in § 22 MTV unmissverständlich angeordnet, dass der Urlaubsanspruch bei (andauernder) Erkrankung spätestens mit Ablauf des 31. März des Folgejahres untergehen soll. Diesem deutlich zum Ausdruck gebrachten Willen der Tarifvertragsparteien widerspricht eine Auslegung, der zufolge der tarifliche Urlaub dem Fristenregime des gesetzlichen Urlaubsanspruchs unterliegt, der aufgrund unionsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG erst 15 Monate nach Ablauf der Urlaubsjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war (vgl. BAG 7. August 2012 - 9 AZR 353/10 - Rn. 32, BAGE 142, 371). Dies hat zur Folge, dass der Arbeitnehmer im Anwendungsbereich des MTV das Risiko trägt, dass der Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub infolge Arbeitsunfähigkeit nicht erfüllbar ist.
23 bb) Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die eigenständige Tarifregelung im Hinblick auf den gesetzlichen Mindesturlaub krankheitsbedingt arbeitsunfähiger Arbeitnehmer unwirksam ist (§ 13 Abs. 1 Satz 1, § 1 BUrlG iVm. § 134 BGB). Für den vom gesetzlichen Mindesturlaub abtrennbaren Teil der einheitlich geregelten Gesamturlaubsdauer, den tariflichen Mehrurlaub, bleibt sie wirksam (vgl. BAG 19. Januar 2016 - 9 AZR 507/14 - Rn. 19; 12. November 2013 - 9 AZR 551/12 - Rn. 13).
24 e) Der Kläger hat seinen streitgegenständlichen Resturlaubsanspruch aus dem Jahr 2013 erst im Juli 2014 geltend gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war der Urlaub gemäß § 22 MTV bereits verfallen. Ein Ersatzurlaubsanspruch aus Verzug konnte nicht entstehen.
25 III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.