LAG Berlin-Brandenburg: Zulässige Aussetzung bei Zweifeln an Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung
LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.3.2015 – 15 Ta 433/15
Leitsatz
Eine Aussetzung nach § 98 Abs. 6 ArbGG ist jedenfalls dann wirksam, wenn das Arbeitsgericht aufgrund von Zweifeln an der Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung weitere Auskünfte eingeholt hatte und nach Erteilung dieser Auskünfte immer noch von "ernsthaften Zweifeln" ausgeht.
Norm: § 98 Abs 6 ArbGG
Aus den Gründen
I.
1 Die Parteien streiten in der Hauptsache über die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Beiträgen zu den Sozialkassen des Baugewerbes für die Zeit von Dezember 2006 bis Dezember 2008.
2 Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes. Auf der Grundlage des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages für das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) begehrt er von den beiden Beklagten die Zahlung von Beiträgen in Höhe von zuletzt 68.424,30 €. Die Beklagten sind nicht Mitglied eines der beiden tarifschließenden Arbeitgeberverbände des VTV. Sie unterhielten im Klagezeitraum einen baugewerblichen Betrieb im Sinne des § 1 Abs. 2 VTV.
3 In dem Hauptsacheverfahren, das noch im Dezember 2011 eingeleitet worden war, hat das Arbeitsgericht Berlin in der Sitzung vom 27. Mai 2014 die Parteien darauf hingewiesen, dass die Kammer Zweifel hegt, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in zutreffender Weise die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlichkeit, insbesondere das Erreichen des Quorums des § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG geprüft hat. Es hat daraufhin von der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes, vom Zentralverband Deutsches Baugewerbe, dem Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e. V., der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt, der Bundesagentur für Arbeit und der Bau Berufsgenossenschaft weitere Auskünfte eingeholt (Bl. 637 - 640 d. A.).
4 Nach vorheriger Anhörung der Parteien hat das Arbeitsgericht unter dem 16. Dezember 2014 den Rechtsstreit gem. § 98 Abs. 6 ArbGG bis zur rechtkräftigen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 24. Februar 2006 und 15. Mai 2008 ausgesetzt. Das Arbeitsgericht hat sich insofern der Begründung des Beschlusses des hessischen LAG vom 1. Oktober 2014 - 10 Sa 505/13 - angeschlossen. Vorliegend stehe und falle die Begründetheit der Klage mit der Entscheidung der Frage, ob die Allgemeinverbindlicherklärungen wirksam seien. Die Entscheidungskompetenz komme nunmehr dem LAG Berlin-Brandenburg zu. Für eine Inzidentkontrolle durch die Kammer sei kein Raum. Die von der Partei darzulegenden ernsthaften Zweifeln an der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen seien dargetan, was nicht zuletzt Anlass gewesen sei, mit Hinweis- und Beweisbeschluss vom 27. Mai 2014 zunächst selbst in die Wirksamkeitsprüfung einzutreten.
5 Dieser Beschluss ist dem Kläger am 23. Januar 2015 zugestellt worden. Die sofortige Beschwerde ging am 6. Februar 2015 beim Landesarbeitsgericht ein. Der Kläger ist der Ansicht, dass die Darlegungen im Aussetzungsbeschluss nicht ausreichend seien. Die Kammer hätte alle ihr bekannten Umstände, die für oder gegen die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen sprechen, würdigen und gewichten müssen. Bei Einbeziehung des Sachvortrags des Klägers und vor allem der eingeholten Auskünfte spreche sehr viel mehr für als gegen die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen. Die aufgrund des gegnerischen Sachvortrages möglicherweise zunächst entstandenen ernsthaften Zweifel seien jedenfalls durch die eingeholten Auskünfte inzwischen ausgeräumt.
6 Mit Beschluss vom 26. Februar 2015 hat das Arbeitsgericht der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen. Die bestehenden Zweifel seien durch die - äußerst knappen - Auskünfte, die die Kammer eingeholt habe, nicht ausgeräumt worden. So sei zur Überzeugung der Kammer nicht plausibel dargetan, dass die vorhandenen Daten zur Ermittlung des Quorums aus § 5 Abs. 1 TVG statistisch valide und verifizierbar aufgearbeitet worden seien. Überdies sei die Kammer der Auffassung, dass für eine Inzidentkontrolle in Bezug auf die Wirksamkeit der AVE nach den gesetzlichen Neuregelungen nunmehr kein Raum bleibe.
II.
7 Die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht den Rechtsstreit gem. § 98 Abs. 6 ArbGG ausgesetzt.
8 1. Das BAG (Beschluss vom 07.01.2015 - 10 AZB 109/14 - NZA 2015, 237) hat hinsichtlich einer möglichen Aussetzung ausgeführt, dass § 98 Abs. 6 ArbGG auch auf bereits anhängige Verfahren Anwendung findet. Eine Aussetzung dürfe nur dann erfolgen, wenn die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits ausschließlich von der Frage der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung abhängt. Im Übrigen müssten ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung vorliegen. Hierfür genüge es, wenn das Gericht des Hauptsacheverfahrens aufgrund Parteivortrags oder aufgrund offen zu legender gerichtsbekannter Tatsachen zu dem Ergebnis kommt, das ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung bestünden. Hierbei habe das Gericht alle ihm bekannten Umstände, die für oder gegen die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung sprechen, in seine Würdigung einzubeziehen und unter Berücksichtigung des Zwecks des Verfahrens nach § 98 ArbGG einerseits und des Beschleunigungsinteresses der Parteien andererseits zu gewichten. Dem entscheidenden Gericht komme ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Dieser könne nur dahingehend überprüft werden, ob das Gericht den Begriff selbst verkannt, die Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob die Beurteilung wegen des Übersehens wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist.
9 2. Bei Anwendung dieser Kriterien kann im hiesigen Einzelfall und unter Berücksichtigung des dem Arbeitsgericht zustehenden Beurteilungsspielraums nicht festgestellt werden, dass die Aussetzung des Rechtsstreits fehlerhaft erfolgt ist.
10 Mit der Entscheidung des BAG ist davon auszugehen, dass § 98 Abs. 6 ArbGG n. F. auch auf bereits anhängige Verfahren Anwendung findet. Weiterhin ist davon auszugehen, dass es im hiesigen Rechtsstreit ausschließlich auf die Frage der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung ankommt, da die Beklagten schon nach der Feststellung des Arbeitsgerichts einen Baubetrieb im Sinne des VTV unterhalten.
11 Das Arbeitsgericht hat spätestens mit dem Nichtabhilfebeschluss ausreichend dokumentiert, dass nach seiner Ansicht ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen vorliegen. Diese Zweifel ergeben sich in dokumentierter Form schon aus dem Beschluss vom 27. Mai 2014. Danach hatte das Arbeitsgericht Zweifel, ob durch das zuständige Bundesministerium in zutreffender Weise die Voraussetzungen der Allgemeinverbindlich-erklärungen, insbesondere das Erreichen des erforderlichen Quorums geprüft worden sind. Auf Basis dieser Zweifel hat das Arbeitsgericht von verschiedenen Institutionen und Verbänden weitere Auskünfte eingeholt. Trotz der erteilten Auskünfte (Bl. 655 - 680, 690 f., 703 - 710 d. A.) hat das Arbeitsgericht in dem Nichtabhilfebeschluss ausgeführt, dass zu seiner Überzeugung nicht plausibel dargetan sei, dass die vorhandenen Daten zur Ermittlung des Quorums aus § 5 Abs. 1 TVG statistisch valide und verifizierbar aufgearbeitet worden seien. Dies reicht zur Dokumentation „ernsthafter Zweifel“ aus. Das Erreichen des Quorums nach § 5 Abs. 1 Ziff. 1 TVG a. F. ist Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung. Im Gegensatz zur Auffassung des Klägers kann es auch nicht darauf ankommen, ob nach Einbeziehung des klägerischen Sachvortrags und der eingeholten Auskünfte „sehr vielmehr für als gegen die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärungen spricht“. Diese endgültige Wertung ist indem auf Basis des § 98 ArbGG anhängigen Beschlussverfahrens zu treffen. Der an sich zu beachtende Beschleunigungsgrundsatz hilft insofern hier nicht weiter. Der hiesige Sachverhalt ist auch anders als in dem vom Bundesarbeitsgericht aufgehobenen Beschluss des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 1. Oktober 2014. Das Hessische Landesarbeitsgericht hatte noch angenommen, dass es unerheblich sei, ob der Richter des Ausgangsverfahrens die insoweit vorgebrachten Zweifel selbst teilt. Im Gegensatz zum Hessischen Landesarbeitsgericht geht das Arbeitsgericht Berlin weiterhin davon aus, dass ernsthafte Zweifel weiterhin vorhanden sind.
12 Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Die Entscheidungskriterien sind durch den Beschluss des BAG vom 7. Januar 2015 ausreichend konkretisiert. Insofern ist gegen den hiesigen Beschluss ein Rechtsmittel nicht gegeben.