BAG: Vorabentscheidungsersuchen – Urlaub – volle Erwerbsminderung – Mitwirkungsobliegenheiten
Das BAG hat mit Beschluss vom 7.7.2020 – 9 AZR 245/19 (A) – wie folgt entschieden:
1. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zur Klärung der unionsrechtlichen Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, bei dem eine volle Erwerbsminderung im Verlauf des Urlaubsjahres ein-getreten ist, 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen kann (Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC).
2. Teilweise Parallelentscheidung zu führender Entscheidung BAG 7. Juli 2020 - 9 AZR 401/19 (A) -.
AEUV Art. 267; GRC Art. 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1; BUrlG §§ 1, 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3; BGB § 275 Abs. 1
1. Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) erlischt bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässi-gen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG), wenn der Arbeit-geber den Arbeitnehmer zuvor durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitneh-mer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (Rn. 13).
2. Die Befristung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber seinen aus einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG resultierenden Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs genügt, indem er den Arbeitnehmer - erforderlichenfalls förmlich - auffordert, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (Rn. 14).
3. Die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers bestehen auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist (Rn. 19). Die Rechtsfolge der unterlassenen Erfüllung der Obliegenheiten wird - wie ihr Inhalt - durch den Zweck bestimmt, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Urlaubsanspruch zu verwirklichen. Kann dieser Zweck nicht erreicht werden, verfällt der Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG, auch wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat (Rn. 24).
4. Der gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubs-jahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers erlischt gemäß § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt hat. Unter diesen Voraussetzungen liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen (Rn. 18).
5. Ist der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nach-gekommen, erlischt der gesetzliche Urlaubsanspruch ebenfalls gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres, sofern es dem Arbeitnehmer, allein weil er bis zu diesem Zeitpunkt durchgehend krankheitsbedingt arbeitsunfähig war, nicht möglich war, den Urlaub (vollständig) zu nehmen. In diesem Fall ist nicht die unterlassene Mitwirkung des Arbeitgebers, sondern die Arbeitsunfähigkeit kausal für die fehlende Möglichkeit des Arbeitnehmers, den Urlaubsanspruch zu realisieren (Rn. 19, 24 ff.).
6. Die Beantwortung der Frage, ob der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub bei einer ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung des Arbeitnehmers auch dann 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres (Rn. 30 ff.) oder einer längeren Frist (Rn. 44 ff.) gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG erlischt, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können, hängt von der Auslegung des Unionsrechts ab. Gleiches gilt für die Frage, ob der Arbeitgeber nach den Vorgaben des Unionsrechts gehalten ist, seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten bereits zu Beginn des Urlaubsjahres nachzukommen, will er das Risiko eines unbegrenzten Ansammelns von Urlaubsansprüchen vermeiden. Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat deshalb ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet (Rn. 29 ff.).
(Orientierungssätze)
AEUV Art. 267; GRC Art. 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1; BUrlG §§ 1, 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3; BGB § 275 Abs. 1