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Arbeitsrecht
04.03.2019
Arbeitsrecht
ArbG Berlin: Betriebsübergang; übergangsfähige wirtschaftliche Einheit; Luftverkehrsunternehmen; Stationen; Lex Ryanair; Massenentlassungsanzeige; örtliche Zuständigkeit; Großunternehmen; Sozialtarifvertrag; Kündigungshindernis

Das ArbG Berlin, 7.2.2019 – 41 Ca 4536/18 hat wie folgt entschieden:

1. Verlangt man für einen Betrieb(steil) i.S.d. §§ 613a BGB, 17 KSchG Leitungspersonal in der betreffenden Einheit, so ist bei Stationen für Flugpersonal ohne Stationsleiter dieses Leitungspersonal in den gegenüber ihrer Crew vorgesetzten Flugkapitänen zu sehen. Das Flugpersonal einer Station hat auch ohne einen Stationsleiter eine konstante hierarchische Aufbauorganisation: Flugkapitän - Copilot - Purserette/Purser - sonstiges Kabinenpersonal. Die wechselnde Besetzung der Stellen ist wie auch sonst unschädlich. In Verbindung mit dem Stationsortsprinzip schafft dies eine ausreichend stabile und identifizierbare organisatorische Einheit, die das am Stationsort stationierte Flugpersonal zusammenfasst. Damit haben Stationen eine hinreichende „funktionelle Autonomie“ i.S.d. EuGH. Es geht nicht um die fehlende Dauerhaftigkeit der konkreten Kommandantenstellung beim einzelnen Flug, sondern um die Dauerhaftigkeit der hierarchisch strukturierten Organisation auf der Ebene der Stationen (a.A. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.01.2019 - 15 Sa 1307/18).

2. Stationen von Fluggesellschaften sind für das ihnen zugeordnete Flugpersonal für sich genommen auch dann übergangsfähige, massenentlassungspflichtige und demnächst betriebsratsfähige (vgl. § 117 Absatz 1 Satz 2 BetrVG n.F. („Lex Ryanair“)) wirtschaftliche Einheiten, wenn die Dienstplanung zentral erfolgt und die Station für das Flugpersonal keinen eigenen Stationsleiter hat. Ansonsten gäbe es im Fall einer ausländischen Einsatzzentrale für an deutschen Stationen stationiertes Flugpersonal keinen Arbeitnehmerschutz nach der Betriebsübergangs- oder Mitbestimmungsrichtlinie, was dem Gebot der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) der jeweiligen Richtlinie widerspräche.

3. Eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG ist an die örtlich zuständige Arbeitsagentur zu richten. Eine Anzeige an eine örtlich unzuständige Arbeitsagentur führt zur Unwirksamkeit der Kündigung. Dies auch dann, wenn die Arbeitsagentur keine Bedenken erhebt. Unsicherheiten können durch vorsorgliche mehrfache Einreichung bei allen in Betracht kommenden Arbeitsagenturen gemeistert werden.

4. Die Bundesagentur für Arbeit eröffnet nach § 17 der „Fachlichen Weisungen KSchG“ gemäß Ziffer 2.2.3 Örtliche Zuständigkeit zu (4) für „Großunternehmen mit deutschlandweitem Filialnetz“ die Möglichkeit einer Sammelanzeige bei der Arbeitsagentur für Arbeit am Hauptsitz des Unternehmens. Dabei ist für jeden Betrieb der „Vordruck KSchG 1“ auszufüllen. Erstattet ein Arbeitgeber keine solche Sammelanzeige, sondern eine einzige Gesamtanzeige ohne Verwendung der Vordrucke für jeden Betrieb, so ist dies nur dann unschädlich, wenn die Arbeitsagentur den an sich örtlich zuständigen Agenturen für Arbeit die Angaben der Arbeitnehmer des jeweiligen Betriebs aufbereitet nach Maßgabe des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG i.V.m. § 17 Absatz 2 Nr. 1 bis Nr. 5 KSchG weiterleiten konnte und vor Ausspruch der Kündigung weiter geleitet hat.

5. Im Geltungsbereich des § 117 Abs. 2 BetrVG können die Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass betriebsbedingte Kündigungen „nur nach Abschluss eines Sozialtarifvertrages … über einen Interessenausgleich und Sozialplan zulässig“ sind. Dieses tarifvertragliche Kündigungshindernis gilt nach § 3 Abs. 2 TVG unabhängig von einer Gewerkschaftszugehörigkeit. Ein solches Kündigungshindernis gilt trotz § 113 InsO auch in der Insolvenz. Sieht der Tarifvertrag keinen Lösungsmechanismus für den Fall einer fehlenden Einigung der Tarifvertragsparteien vor, gilt das tarifvertragliche Kündigungshindernis nicht „auf ewig“, sondern analog § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO nur für einen Zeitraum von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder Verhandlungsaufforderung unter der Voraussetzung einer vollständigen Unterrichtung der Gewerkschaft. Dies ist vom Arbeitgeber im Einzelnen darzulegen.

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