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Arbeitsrecht
12.10.2020
Arbeitsrecht
BAG: Berücksichtigung von Urlaubsstunden bei der Berechnung von tarifvertraglichen Mehrarbeitszuschlägen – Tarifauslegung – Vorabentscheidungsersuchen

Das BAG hat mit Beschluss vom 17.6.2020 – 10 AZR 210/19 (A) – wie folgt entschieden:

1. Die Auslegung von § 4.1.2. des Manteltarifvertrags für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 (MTV) ergibt, dass für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer in einem Kalendermonat Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden zu berücksichtigen sind und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer Urlaub in Anspruch nimmt (Rn. 22 ff.).

2. Die Berechnung der Mehrarbeitszuschläge nach § 4.1.2. MTV kann einen finanziellen Anreiz für Arbeitnehmer begründen, Urlaub nicht in Anspruch zu nehmen (Rn. 30 ff.).

3. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta) und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankert (Rn. 39 ff.).

4. Arbeitnehmer dürfen nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen davon abgehalten werden, ihr Recht auf Mindestjahresurlaub auszuüben (Rn. 45 ff.).

5. Anreize, aus wirtschaftlichen Gründen auf den Mindestjahresurlaub zu verzichten, können gegen § 1 BUrlG verstoßen. Ein mit § 1 BUrlG nicht zu vereinbarender Anreiz, auf Urlaub zu verzichten, kann auch in Tarifverträgen nicht wirksam verein-bart werden. Die Öffnungsklausel in § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG, nach der in Tarifverträgen grundsätzlich von den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes abgewichen werden kann, gilt nicht für § 1 BUrlG (Rn. 36).

6. § 1 BUrlG ist unionsrechtskonform auszulegen. Nach § 1 BUrlG hat jeder Arbeit-nehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Das entspricht den Regelungen in Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG (Rn. 37).

7. Mit der Vorlagefrage möchte der Senat wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegenstehen, die für die Berechnung, ob und für wie viele Stunden einem Arbeitnehmer Mehrarbeitszuschläge zustehen, nur die tatsächlich gearbeiteten Stunden berücksichtigt und nicht auch die Stunden, in denen der Arbeitnehmer seinen bezahlten Mindestjahresurlaub in Anspruch nimmt (Rn. 38 ff.).

8. Das Bundesverfassungsgericht überprüft die Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen selbst am Maßstab der Unionsgrundrechte. Außer-halb des vollharmonisierten Bereichs kommt eine Kontrolle am Maßstab der Unionsgrundrechte in Betracht, wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte bestehen, dass eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte nicht das grund-rechtliche Schutzniveau des Unionsrechts wahrt. Das Bundesverfassungsgericht ist für die Auslegung von Unionsrecht selbst nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen. Der Senat lässt offen, ob die Vorla-gepflicht des Bundesarbeitsgerichts nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in diesen Fällen neben derjenigen des Bundesverfassungsgerichts fortbesteht (Rn. 56 ff.).

(Orientierungssätze)

EUV Art. 6 Abs. 1; AEUV Art. 153 Abs. 2 Satz 1 Buchst. b iVm. Abs. 1 Buchst. a und Buchst. b, Art. 267; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2; Richtlinie 2003/88/EG Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a, Art. 7, 15; GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 9 Abs. 3; BUrlG §§ 1, 3, 13 Abs. 1; Manteltarifvertrag für die Zeitarbeit in der Fassung vom 17. September 2013 §§ 3.1.1., 3.1.2., 3.2.1., 3.2.2., §§ 4.1.1., 4.1.2., § 6a Buchst. b

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