BAG: Benachteiligung nach dem AGG - Funktionen der Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG - Anknüpfungspunkt für die Bemessung der Entschädigung bei Nichteinstellung (§ 15 Abs. 2 AGG iVm. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG)
Das BAG hat mit Urteil vom 28.5.2020 – 8 AZR 170/19 – wie folgt entschieden:
1. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, wonach der oder die Beschäftigte wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen kann, hat eine Doppelfunktion. Sie dient sowohl der vollen Schadenskompensation als auch der Prävention, wobei jeweils der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist (Rn. 18 f.).
2. Die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG ist verschuldensunabhängig und setzt deshalb keine Benachteiligungsabsicht voraus. Weder kommt es auf Verschulden als Voraussetzung an, noch ist ein fehlendes Verschulden oder ein geringer Grad des Verschuldens des Arbeitgebers bei der Bemessung der Entschädigung zulasten der benachteiligten Person bzw. zugunsten des benachteiligenden Arbeitgebers berücksichtigungsfähig. Sind jedoch Umstände erkennbar, die einen höheren Grad von Verschulden des Arbeitgebers belegen, kann Veranlassung bestehen, die Entschädigung höher festzusetzen (Rn. 20 f., 39).
3. Der Umstand der zeitlichen Befristung einer ausgeschriebenen Stelle hat für die Bemessung der Entschädigung keine Bedeutung und darf deshalb bei deren Bemessung nicht berücksichtigt werden (Rn. 36 f.).
4. Den Tatsachengerichten steht nach § 287 Abs. 1 ZPO bei der Bestimmung der angemessenen Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG für den erlittenen immateriellen Schaden ein weiter Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen die Besonderheiten jedes Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Demzufolge unterliegt diese Festsetzung nur einer eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht: Zu überprüfen ist ausschließlich, ob die Rechtsnorm zutreffend ausgelegt, ein Ermessen ausgeübt, die Ermessensgrenze nicht überschritten wurde und ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen einen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat, indem es sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und nicht von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen (Rn. 27 f.).
5. § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre, gibt keinen Rahmen für die Bemessung der Entschädigung vor, sondern eine Kappungs- bzw. Höchstgrenze (Rn. 22).
6. Bei der Bemessung der Entschädigung iSv. § 15 Abs. 2 AGG ist im Fall einer Nichteinstellung an das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der/die erfolglose Bewerber/in erzielt bzw. ungefähr erzielt hätte, wenn er/sie die ausgeschriebene Stelle erhalten hätte. Auch dies folgt aus § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG. Abgesehen davon, dass das wegen der Nichteinstellung entgangene Arbeitsentgelt ein möglicher Schadensposten im Rahmen eines auf den Ausgleich materieller Schäden nach § 15 Abs. 1 AGG gerichteten Schadensersatzanspruchs sein kann, hat das Arbeitsentgelt im Fall einer Nichteinstellung auch für den Ausgleich des immateriellen Schadens Bedeutung. Soweit es um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG nämlich nicht nur eine Sanktion für die nicht erhaltene Chance zur Entfaltung der individuellen Persönlichkeit durch eine bestimmte Beschäftigung, sondern ebenso eine Sanktion für die nicht erhaltene Chance, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, wodurch der/die erfolglose Bewerber/in in seinem/ihrem Geltungs- zw. Achtungsanspruch betroffen ist. In beiden Fällen ist nicht der materielle, sondern der immaterielle Teil des Persönlichkeitsrechts betroffen. Die Anknüpfung an das auf der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) zu erwartende Bruttomonatsentgelt steht auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang (Rn. 24 ff.).