BAG: Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel – Ablösungs- oder Verdrängungswirkung von Tarifverträgen – Günstigkeitsvergleich
BAG, Urteil vom 12.6.2024 – 4 AZR 202/23
ECLI:DE:BAG:2024:120624.U.4AZR202.23.0
Volltext: BB-Online BBL2024-2875-1
Orientierungssätze
1. Stellt eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf eine bestimmte Branche ab, handelt es sich hierbei in der Regel um eine Bezugnahme auf die entsprechenden Flächentarifverträge (Rn. 24).
2. Enthält ein Arbeitsvertrag eine Bezugnahme auf bestimmte Flächentarifverträge, führt allein der Umstand, dass ein unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag von denselben Tarifvertragsparteien vereinbart wurde, nicht dazu, dass auch dieser von der Verweisung erfasst ist. Soll das für den Arbeitgeber jeweils geltende Tarifrecht individualvertraglich zur Anwendung kommen, müssen die Arbeitsvertragsparteien dies in der Bezugnahmeklausel eindeutig zum Ausdruck bringen (Rn. 26, 32).
3. Eine vor dem 1. Januar 2002 mit einem tarifgebundenen Arbeitgeber vereinbarte zeitdynamische Bezugnahmeklausel ist aus Gründen des Vertrauensschutzes als sog. Gleichstellungsabrede auszulegen. Folge hiervon ist allerdings lediglich, dass über den Wortlaut hinaus eine auflösende Bedingung angenommen wird, die Dynamik solle entfallen, wenn die arbeitgeberseitige Tarifgebundenheit endet. Die Abrede führt jedoch nicht dazu, dass nicht tarifgebundene Arbeitnehmer individualvertraglich in jeder Hinsicht wie Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zu behandeln sind (Rn. 31).
4. Schließen die Parteien eines Verbandstarifvertrags einen unternehmensbezogenen Tarifvertrag, kann - vorbehaltlich einer abweichenden Regelung - nicht angenommen werden, hierdurch solle der Verbandstarifvertrag - ganz oder teilweise - abgelöst werden. Die Bestimmungen des unternehmensbezogenen Tarifvertrags kommen nach den Grundsätzen des Spezialitätsprinzips zur Anwendung (Rn. 38).
5. Die Kollision zwischen kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit für ein Arbeitsverhältnis normativ geltender und aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbarer Tarifvorschriften ist nach dem sich aus § 4 Abs. 3 TVG ergebenden Günstigkeitsprinzip zu lösen. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthält, ergibt sich aus einem Vergleich der durch Auslegung zu ermittelnden, in einem inneren Zusammenhang stehenden Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen (sog. Sachgruppenvergleich) (Rn. 41 f.).
6. Werden Ansprüche jeweils auf den gleichen Grundtatbestand gestützt, kann eine einmalige Geltendmachung eine einstufige tarifliche Ausschlussfrist auch dann für später entstehende Ansprüche wahren, wenn dies nicht ausdrücklich in der Norm vorgesehen ist. Entscheidend ist, dass bereits die erstmalige Forderung den Zweck der Ausschlussfrist erfüllt, dem Schuldner zeitnah Gewissheit darüber zu verschaffen, welche Ansprüche gegen ihn gerichtet werden (Rn. 56).
Sachverhalt
Die Parteien streiten über Zahlungsansprüche des Klägers und in diesem Zusammenhang über die Anwendbarkeit eines Standort- und Beschäftigungssicherungstarifvertrags auf Grundlage einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel.
Die Beklagte ist ein Unternehmen der Metallindustrie, das mehrere Standorte unterhält. Einer davon befindet sich in Nordrhein-Westfalen. Der Kläger ist dort seit August 2010 auf der Grundlage eines im Juni 2010 geschlossenen Arbeitsvertrags beschäftigt. Dieser enthält auszugsweise folgende Bestimmungen:
„3. … Die Arbeitszeit richtet sich nach den für den Betrieb geltenden tariflichen und betrieblichen Regelungen. …
4. Entsprechend der Tätigkeit erfolgt die Einstufung in die Entgeltgruppe 10 des Entgeltrahmenabkommens in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens.
Das Entgelt beträgt monatlich 2.676,00 € zzgl. Leistungszulage zzgl. Prämie.
…
11. Auf das Arbeitsverhältnis finden im Übrigen die Tarifverträge für die Metall-, Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens, die Arbeitsordnung, deren Inhalt als rechtsverbindlich anerkannt wird, sowie die jeweils gültigen Betriebsvereinbarungen Anwendung.“
Der Kläger ist Mitglied der Industriegewerkschaft Metall – IG Metall. Die Beklagte ist Mitglied im METALL NRW Verband der Metall- und Elektro-Industrie Nordrhein-Westfalen e.V. (Metall NRW) sowie im Verband der Metallindustriellen Niedersachsens e.V. und im Verband der Metall- und Elektroindustrie Sachsen-Anhalt e.V. Diese drei Arbeitgeberverbände schlossen mit der IG Metall am 12. November 2020 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 einen „Unternehmensbezogenen Standort- und Beschäftigungssicherungstarifvertrag“ (SiTV) für mehrere Standorte der Beklagten, der auszugsweise wie folgt lautet:
„§ 2 Standort- und Beschäftigungsgarantien
…
2. Während der Laufzeit dieses Tarifvertrages sind betriebsbedingte Kündigungen bei der KSM ausgeschlossen. Der Abschluss von Aufhebungsverträgen oder der Ausspruch von Kündigungen aus anderen Gründen bleiben unberührt.
…
B.
Beiträge der Arbeitnehmer
…
§ 10 Beiträge der Arbeitnehmer des Betriebs Bergisches Land (Wuppertal und Radevormwald)
1. Für die Kalenderjahre 2021 bis 2025 entfällt die Zahlung des Tariflichen Zusatzgeldes gemäß § 2 Abs. 2 b. – T-ZUG (B) – des Tarifvertrages zum tariflichen Zusatzgeld (TV T – Z U G).
3. Für die Kalenderjahre 2021 bis 2025 verringern sich die zusätzliche Urlaubsvergütung gemäß § 38 des Manteltarifvertrages (MTV) für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens sowie die Sonderzahlung gemäß § 2 des Einheitlichen Tarifvertrages über die tarifliche Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens (ETV 13. ME) in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens jeweils wie folgt:
2021: um 30%
2022: um 30%
2023: um 25%
2024: um 20%
2025: um 20%
4. Für die Laufzeit dieses Tarifvertrages werden Mehrarbeitszuschläge gemäß § 33 des Manteltarifvertrages (MTV) für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens ab der 41. Stunde wöchentlicher Arbeitszeit gewährt; …“
Der Kläger stimmte als Mitglied der gewerkschaftlichen Tarifkommission für diesen Abschluss.
Die Beklagte zahlte in der Folgezeit an den Kläger die in den Tarifverträgen für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vorgesehenen Leistungen nur nach Maßgabe von § 10 SiTV. Mit Schreiben vom 29. Juli 2021 machte der Kläger die Unanwendbarkeit des SiTV auf sein Arbeitsverhältnis und darauf beruhende Ansprüche wie folgt geltend:
„… hiermit mache ich folgende bereits fällig gewordene bzw. zukünftig fällig werdenden Entgeltansprüche geltend:
1. Mit der Entgeltabrechnung April 2021 bereits fällig geworden: Zahlung des zusätzlichen Urlaubsgelds gemäß § 38 Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens in Höhe von 3083,70€, abzüglich mit der Entgeltabrechnung April 2021 ausgezahlter 2158,59€. Geltend gemachter Differenzbetrag: 925,11€.
Zukünftige ungekürzte Zahlung des zusätzlichen Urlaubsgelds gemäß vorgenanntem Manteltarifvertrag M+E NRW.
2. Mit der Entgeltabrechnung Juli 2021 bereits fällig geworden: Zahlung des tariflichen Zusatzgelds gemäß § 2 Abs. 2b und Abs. 3 Tarifvertrag Tarifliches Zusatzgeld TV T-ZUG für die Metall- und Elektroindustrie NRW in Höhe von 354,67€.
Zukünftige ungekürzte Zahlung des tariflichen Zusatzgelds gemäß vorgenanntem Tarifvertrag T-ZUG
3. Ab sofort Mehrarbeitszuschläge gemäß § 33.2 Manteltarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie NRW aufgrund geleisteter Mehrarbeit.
4. Sonderzahlung gemäß § 2 des Einheitlichen Tarifvertrages über die tarifliche Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens (ETV 13. ME).
5. Zahlung aller zukünftigen tariflichen Leistungen gemäß den Regelungen der Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens.“
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, sein Arbeitsvertrag enthalte keine Bezugnahme auf den SiTV, sondern verweise ausschließlich auf die Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens. Deren Bestimmungen seien auch unter Berücksichtigung der beiderseitigen Tarifgebundenheit an den SiTV in Anwendung des Günstigkeitsprinzips für sein Zahlungsbegehren allein maßgebend.
Der Kläger hat – soweit für die Revision von Bedeutung – zuletzt in der Sache beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn
1. 2.242,83 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 925,11 Euro brutto seit dem 1. Mai 2021, aus 354,67 Euro brutto seit dem 1. August 2021, aus 129,79 Euro brutto seit dem 1. September 2021, aus 20,51 Euro brutto seit dem 1. Oktober 2021, aus 61,45 Euro brutto seit dem 1. November 2021, aus 751,30 Euro brutto seit dem 1. Dezember 2021;
2. 912,60 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Mai 2022;
3. 354,67 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. August 2022;
4. 689,61 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. Januar 2023
zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und hierzu den Standpunkt eingenommen, der SiTV habe in seinem Geltungsbereich die Flächentarifverträge Nordrhein-Westfalens abgelöst. Das schließe einen Günstigkeitsvergleich bereits dem Grunde nach aus. Ein solcher sei ferner nicht durchzuführen, da die vertragliche Bezugnahmeregelung auch den SiTV erfasse. Die Klage wäre überdies selbst dann unbegründet, wenn ein Günstigkeitsvergleich vorzunehmen wäre. Der Kläger sei insoweit seiner Darlegungslast nicht nachgekommen. Ein Anspruch auf ein tarifliches Zusatzgeld (B) sei zudem aufgrund der Ausschlussfrist des Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom 8. November 2018 (MTV) verfallen. Schließlich verstoße das Verhalten des Klägers in Anbetracht seiner Zustimmung zum Abschluss des SiTV gegen Treu und Glauben.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger – nachdem er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen auf die Unanwendbarkeit des SiTV gerichteten Feststellungsantrag mit Zustimmung der Beklagten zurückgenommen hat – sein Zahlungsbegehren weiter.
Aus den Gründen
10 Die Revision ist begründet. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Zahlungsansprüche zu. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen wird der SiTV von der vertraglichen Bezugnahmeregelung nicht erfasst.
11 I. Die Revision ist nicht deshalb unbegründet, weil die Berufung des Klägers unzulässig gewesen wäre. Die Berufungsbegründung des Klägers ist in der gesetzlich vorgeschriebenen Form erfolgt. Das hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend entschieden.
12 1. Die Zulässigkeit der Berufung ist Prozessvoraussetzung für das gesamte weitere Verfahren nach der Berufungseinlegung und deshalb vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Das gilt auch, wenn das Berufungsgericht das Rechtsmittel für zulässig gehalten hat (BAG 28. Juni 2023 – 5 AZR 9/23 – Rn. 13 mwN).
13 2. Der Schriftsatz des Klägers vom 23. Januar 2023 ist innerhalb der Berufungsbegründungsfrist in der nach § 46c Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 2 ArbGG vorgeschriebenen Form beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Danach muss ein elektronisches Dokument entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person (einfach) signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg von dieser eingereicht werden. Letzteres kann nur durch den sog. vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis (VHN) festgestellt werden (ausf. zu § 130a ZPO BAG 5. Juni 2020 – 10 AZN 53/20 – Rn. 10 ff., 25, 27, BAGE 171, 28). Anhand des aus der Berufungsakte ersichtlichen VHN ergibt sich, dass der einfach signierte Schriftsatz des Klägervertreters vom 23. Januar 2023 von diesem auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wurde.
14 II. Die zulässige Klage ist begründet.
15 1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Antrag zu 1. hinreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
16 a) Nach dem Vorbringen des Klägers ist der Antrag auf Zahlung aller Entgeltdifferenzbeträge für den Zeitraum von April 2021 bis Dezember 2021 gerichtet, die ihm aufgrund der – aus seiner Sicht zu Unrecht – erfolgten Anwendung des SiTV durch die Beklagte zustehen, und dementsprechend als abschließende Gesamtklage zu verstehen (dazu BAG 14. Juli 2021 – 10 AZR 190/20 – Rn. 47, BAGE 175, 240; 24. Juni 2020 – 5 AZR 93/19 – Rn. 20 mwN, BAGE 171, 161).
17 b) Den Darlegungen des Klägers ist weiterhin zu entnehmen, welche konkreten Forderungen in die Gesamtklage eingeflossen sind (sh. hierzu BAG 10. November 2021 – 10 AZR 256/20 – Rn. 12; 19. März 2014 – 7 AZR 480/12 – Rn. 11). Im Einzelnen setzt sich der Betrag iHv. 2.242,83 Euro brutto erkennbar aus der begehrten zusätzlichen Urlaubsvergütung nach § 38.2 MTV für das Jahr 2021 iHv. 925,11 Euro brutto, dem geltend gemachten tariflichen Zusatzgeld (B) iHv. 354,67 Euro brutto nach § 2 Nr. 2 Buchst. b des Tarifvertrags Tarifliches Zusatzgeld für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom 14. Februar 2018 idF vom 30. März 2021 (TV T-ZUG), aus der geforderten betrieblichen Sonderzahlung für das Jahr 2021 iHv. 692,88 Euro brutto nach § 2 des Einheitlichen Tarifvertrags über die tarifliche Absicherung eines Teiles eines 13. Monatseinkommens in der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens vom 18. Dezember 2003 (ETV 13. ME) und aus den geltend gemachten Mehrarbeitszuschlägen für diesen Zeitraum iHv. insgesamt 270,17 Euro brutto nach § 33 MTV zusammen.
18 2. Die Klage ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, den Kläger aufgrund der vertraglichen Bezugnahmeregelung nach den Bestimmungen der Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens zu vergüten. Deren Regelungen sind hinsichtlich der streitgegenständlichen Begehren günstiger als diejenigen der kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) geltenden Tarifverträge, zu denen auch der SiTV gehört.
19 a) Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft vertraglicher Bezugnahme nur die Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens Anwendung.
20 aa) Bei dem Arbeitsvertrag der Parteien handelt es sich bereits nach seinem äußeren Erscheinungsbild um einen Formularvertrag, der nach den Regelungen über Allgemeine Geschäftsbedingungen auszulegen und dessen Auslegung durch das Landesarbeitsgericht in der Revisionsinstanz voll überprüfbar ist (vgl. BAG 2. Juni 2021 – 4 AZR 387/20 – Rn. 13 f. mwN).
21 bb) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind nach ihrem objektiven Inhalt und typischen Sinn einheitlich so auszulegen, wie sie von verständigen und redlichen Vertragspartnern unter Abwägung der Interessen der normalerweise beteiligten Verkehrskreise verstanden werden. Dabei sind die Verständnismöglichkeiten des durchschnittlichen Vertragspartners des Verwenders zugrunde zu legen. Ansatzpunkt für die Auslegung Allgemeiner Geschäftsbedingungen ist in erster Linie der Vertragswortlaut. Von Bedeutung für das Auslegungsergebnis sind ferner der von den Vertragsparteien verfolgte Regelungszweck sowie die der jeweils anderen Seite erkennbare Interessenlage der Beteiligten (BAG 2. Juni 2021 – 4 AZR 387/20 – Rn. 14).
22 cc) Maßgebend ist nach diesen Grundsätzen vorliegend der Inhalt der Bezugnahmeregelung in Nr. 11 des Arbeitsvertrags, die regelt, welche Bestimmungen auf das Arbeitsverhältnis „im Übrigen“ Anwendung finden. Die streitgegenständlichen Ansprüche betreffen weder die von Nr. 3 erfasste Arbeitszeit noch die in Nr. 4 geregelte Vergütung. Ferner sind diese im Arbeitsvertrag auch an anderer Stelle nicht gesondert geregelt.
23 dd) Bei Nr. 11 des Arbeitsvertrags handelt es sich um eine zeitdynamische Bezugnahme auf die für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens geschlossenen Flächentarifverträge (vgl. dazu BAG 27. April 2022 – 4 AZR 290/21 – Rn. 22 mwN), zu denen der MTV, der TV T-ZUG und der ETV 13. ME zählen. Demgegenüber ist der SiTV nicht in Bezug genommen.
24 (1) Die Klausel stellt auf die Branche der Metall- und Elektroindustrie und auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen ab. Eine Branche umfasst typischerweise eine Vielzahl von Unternehmen, weshalb bereits im Allgemeinen unter einem Branchentarifvertrag ein Flächentarifvertrag zu verstehen ist (ausf. BAG 11. Juli 2018 – 4 AZR 533/17 – Rn. 23, BAGE 163, 175). Bestätigt wird dies vorliegend, indem durch die Erwähnung des Landes Nordrhein-Westfalen die maßgebende Fläche konkret benannt wird.
25 (2) Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Landesarbeitsgerichts wird von der streitgegenständlichen Bezugnahmeklausel ein unternehmensbezogener Verbandstarifvertrag – vorliegend der SiTV – nicht erfasst.
26 (a) Der Wortlaut von Nr. 11 des Arbeitsvertrags bietet aus Sicht eines verständigen Vertragspartners des Klauselverwenders keinen Anhaltspunkt dafür, dass neben den „für die“ Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen im Allgemeinen geltenden Tarifverträgen diejenigen Anwendung finden sollen, die für ein einzelnes Unternehmen geschlossen wurden. Ein anderes Ergebnis folgt nicht aus dem Umstand, dass der unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag von denselben Tarifvertragsparteien vereinbart wurde wie die in Bezug genommenen Flächentarifverträge (ausdrücklich offengelassen in BAG 11. Juli 2018 – 4 AZR 533/17 – Rn. 23, BAGE 163, 175). Die Bezugnahmeklausel stellt nicht auf Tarifverträge bestimmter Tarifvertragsparteien, sondern auf Tarifregelungen für eine bestimmte Branche in einem ausdrücklich benannten Bundesland ab. Beim SiTV handelt es sich nicht um einen Tarifvertrag „für die Metall-, Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens“.
27 (b) Einen Bezug zu den bei der Beklagten geltenden Bedingungen enthält Nr. 11 des Arbeitsvertrags lediglich insoweit, als dort die Arbeitsordnung sowie die jeweils gültigen Betriebsvereinbarungen für anwendbar erklärt werden. Hierbei handelt es sich jedoch um von Tarifverträgen verschiedene Normenwerke mit grundlegend anderen Wirkungen. Ein Rückschluss auf den Willen der Parteien betreffend die in Bezug genommenen Tarifverträge kann hieraus nicht gezogen werden (BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 271/18 – Rn. 18; ausf. BAG 11. Juli 2018 – 4 AZR 533/17 – Rn. 27 mwN, BAGE 163, 175, unter Abgrenzung zu den Entscheidungen des Senats vom 23. Januar 2008 – 4 AZR 602/06 – Rn. 24 und vom 23. März 2005 – 4 AZR 203/04 – zu I 1 b bb (2) (a) der Gründe, BAGE 114, 186).
28 (c) Soweit der Senat in dem von der Beklagten und dem Landesarbeitsgericht angeführten Urteil vom 12. Dezember 2018 (- 4 AZR 123/18 – Rn. 28, BAGE 164, 345) eine Inbezugnahme eines von der Arbeitgeberin geschlossenen Haustarifvertrags im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung schon deshalb abgelehnt hat, weil dann Tarifverträge einbezogen würden, die – anders als verbandsbezogene Firmentarifverträge – von anderen Tarifvertragsparteien geschlossen worden sind, liegt dem kein abweichendes Verständnis zugrunde. Eine Aussage, wann von einer Inbezugnahme eines verbandsbezogenen Firmentarifvertrags auszugehen ist, kann dem nicht entnommen werden. Dies ist – wie stets – anhand des konkreten Inhalts der vertraglichen Abrede zu beurteilen.
29 (d) Die Beklagte kann sich zur Begründung einer Inbezugnahme des SiTV weiterhin nicht darauf stützen, dass der Senat in seiner Entscheidung vom 11. Oktober 2006 (- 4 AZR 486/05 – Rn. 16 ff., BAGE 119, 374) für eine ähnliche Bezugnahmeregelung eines tarifgebundenen Arbeitgebers aus dem Jahr 1998 angenommen hat, es entspreche „dem erkennbaren Sinn und Zweck der arbeitsvertraglichen Bezugnahme“ den unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrag einzubeziehen, weil die Arbeitgeberin „erkennbar die Anwendbarkeit der einschlägigen für sie geltenden Tarifverträge der Metallindustrie NRW auf die Arbeitsverhältnisse aller ihrer Beschäftigten“ erreichen wolle.
30 (aa) Bei der Bezugnahmeregelung in der angeführten Entscheidung handelte es sich nach der früheren Rechtsprechung des Senats – anders als vorliegend – um eine sog. Gleichstellungsabrede. Die Auslegung einer solchen Klausel, die der Senat aus Gründen des Vertrauensschutzes bei vor dem 1. Januar 2002 vereinbarten Bezugnahmeklauseln (sog. Altverträge) weiterhin vornimmt (grdl. BAG 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 26 ff., BAGE 122, 74), führt dazu, dass in den Inhalt der übereinstimmenden Willenserklärungen über den Wortlaut hinaus eine auflösende Bedingung hineinzulesen ist, nach der die Dynamik dann entfallen soll, wenn die entsprechende Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin endet. Die in Bezug genommenen Tarifverträge finden in diesem Fall nur noch statisch mit demjenigen Stand Anwendung, den sie zum Zeitpunkt des Endes der Tarifgebundenheit der Arbeitgeberin hatten (BAG 28. April 2021 – 4 AZR 229/20 – Rn. 33 mwN, BAGE 174, 382; ausf. BAG 14. Dezember 2005 – 4 AZR 536/04 – Rn. 24 ff., BAGE 116, 326; 18. April 2007 – 4 AZR 652/05 – Rn. 29 ff., aaO; vgl. auch BAG 3. Juli 2019 – 4 AZR 312/18 – Rn. 18).
31 (bb) Diese Rechtsprechung des Senats zu einer sog. Gleichstellungsabrede betrifft jedoch lediglich die Voraussetzungen, nach denen sich einer Bezugnahmeklausel eine entsprechende auflösende Bedingung entnehmen lässt, und die Frage, ob der Arbeitgeberin für Altverträge Vertrauensschutz in die frühere Rechtsprechung gewährt werden kann. Eine weitergehende Bedeutung, insbesondere als generelle Auslegungsregel für Bezugnahmeklauseln, wonach diese das Ziel der Gleichstellung von tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern verfolgten, sodass letztere individualvertraglich in jeder Hinsicht wie Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zu behandeln seien, kommt ihr nicht zu (so bereits BAG 17. November 2010 – 4 AZR 408/09 – Rn. 30; 6. Juli 2011 – 4 AZR 706/09 – Rn. 51, BAGE 138, 269; 28. April 2021 – 4 AZR 229/20 – Rn. 34, BAGE 174, 382).
32 (cc) Eine „Gleichstellung“, die eine für Gewerkschaftsmitglieder normativ eintretende Tarifänderung vertraglich nachvollzieht, kann zwar vereinbart werden. Sie muss aber im Vertragswortlaut zum Ausdruck kommen oder sich aus den Begleitumständen bei Vertragsschluss ergeben. Das ist vorliegend nicht der Fall. Schlicht unterstellt werden kann ein solcher Wille nicht (BAG 17. November 2010 – 4 AZR 391/09 – Rn. 25, BAGE 136, 184). Wollen die Arbeitsvertragsparteien vereinbaren, dass das für den Arbeitgeber jeweils geltende Tarifrecht zur Anwendung kommt, können und müssen sie dies in der Bezugnahmeklausel eindeutig zum Ausdruck zu bringen (sh. etwa BAG 24. Januar 2024 – 4 AZR 120/23 – Rn. 19 mwN).
33 (e) Die Auslegung der Bezugnahmeregelung in Nr. 11 des Arbeitsvertrags weicht nicht von derjenigen des Neunten Senats in dessen Urteil vom 20. Januar
2009 (- 9 AZR 146/08 -) ab. Der Neunte Senat hat es für die Einbeziehung des dort streitgegenständlichen unternehmensbezogenen Verbandstarifvertrags durch die vereinbarte Bezugnahmeklausel als maßgebend angesehen, dass sich der Tarifvertrag auf eine Öffnungsklausel im Flächentarifvertrag derselben Tarifvertragsparteien stützte (BAG 20. Januar 2009 – 9 AZR 146/08 – Rn. 19). Sie betraf daher einen anderen Sachverhalt.
34 (f) Schließlich unterscheidet sich Nr. 11 des Arbeitsvertrags von der Bezugnahmeklausel, die der Entscheidung des Zehnten Senats vom 16. Juni 2021 (- 10 AZR 31/20 – Rn. 31) zugrunde lag. Nach dieser waren die „für den Arbeitgeber geltenden Tarifverträge“ maßgebend. Hierzu gehörte auch der dort streitgegenständliche unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag (sh. auch BAG 28. April 2021 – 4 AZR 229/20 – Rn. 23, BAGE 174, 382).
35 b) Die Regelungen der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens, auf die der Kläger seine Ansprüche stützt, sind hinsichtlich der von ihm beanspruchten Zahlungen gegenüber den kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit geltenden Tarifbestimmungen günstiger.
36 aa) Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten nach § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG sowohl die Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens als auch der SiTV. Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Landesarbeitsgerichts hat der SiTV die Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens nicht im Umfang seines Geltungsbereichs abgelöst. Vielmehr kommt es zu einer Tarifkonkurrenz zwischen dem SiTV und den Flächentarifverträgen, die nach dem Spezialitätsgrundsatz aufzulösen ist.
37 (1) Im Ausgangspunkt ist das Landesarbeitsgericht noch zutreffend davon ausgegangen, dass ein Tarifvertrag, der einen bestimmten Komplex von Arbeitsbedingungen insgesamt neu regelt, nach dem Ablösungsprinzip den vorangehenden Tarifvertrag derselben Tarifvertragsparteien ersetzt, sofern diese nichts Abweichendes vereinbart haben (BAG 24. Januar 2024 – 4 AZR 122/23 – Rn. 29; 18. September 2019 – 5 AZR 335/18 – Rn. 29; 24. Februar 2010 – 4 AZR 708/08 – Rn. 20 f.).
38 (2) Nach diesen Maßstäben ist bei einem unternehmensbezogenen Verbandssanierungstarifvertrag – wie dem vorliegenden SiTV – nicht davon auszugehen, dieser solle die entsprechenden Regelungen in den Flächentarifverträgen ablösen. Bei einem solchen Tarifvertrag geht es typischerweise um eine vorübergehende, für die Arbeitgeberin vorteilhafte Abweichung vom Niveau des Flächentarifvertrags. Vorbehaltlich anderweitiger Festlegungen ist deshalb vom Willen der Normgeber eines entsprechenden Tarifvertrags auszugehen, zu den vorübergehend außer Kraft gesetzten Wirkungen der verdrängten flächentarifvertraglichen Regelungen zurückzukehren, wenn der Sanierungstarifvertrag seine Wirkung verliert (vgl. BAG 18. September 2019 – 5 AZR 335/18 – Rn. 29 mwN; ebenso Däubler/Deinert/Wenckebach TVG 5. Aufl. § 4 Rn. 107; anders offenbar Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 1 Rn. 1573 ff.).
39 (3) Diese Annahme wird durch den Inhalt des SiTV bestätigt. Nach dessen Präambel sollen ua. durch „Beiträge“ der Arbeitnehmer die Beschäftigung gesichert und zugleich das Unternehmen „stufenweise wieder auf das Flächenniveau zurückgeführt werden“. Dementsprechend wurden die Leistungskürzungen in § 10 SiTV auf die Laufzeit des Tarifvertrags bis zum Ende des Jahres 2025 begrenzt und in § 11 Abs. 1 SiTV die Nachwirkung ausgeschlossen. Ginge man von einer Ablösung der entsprechenden Regelungen aus, wäre zumindest fraglich, wie die ursprünglichen Regelungen der Flächentarifverträge wieder in Kraft treten sollen. Hinzu kommt, dass der SiTV auf Arbeitgeberseite nicht von einem einzelnen Verband geschlossen wurde, weshalb die Parteien dieses Tarifvertrags und die der jeweiligen Flächentarifverträge nur teilidentisch sind (zu diesem Aspekt vgl. auch BAG 18. September 2019 – 5 AZR 335/18 – Rn. 30).
40 (4) Dem SiTV kommt nach den im Tarifvertragsrecht geltenden Konkurrenzregelungen in seinem Regelungsbereich als speziellerer Regelung der Vorrang gegenüber den entsprechenden Bestimmungen der jeweiligen Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens zu, ohne dass es einer Öffnungsklausel in diesen bedarf (vgl. BAG 16. November 2011 – 4 AZR 856/09 – Rn. 42 mwN).
41 bb) Die Kollision zwischen den aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme geltenden Bestimmungen der Flächentarifverträge, welche die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche regeln, mit den normativ wirkenden Bestimmungen der Flächentarifverträge iVm. den vorrangigen Bestimmungen des SiTV, die eine Verringerung oder Abbedingung dieser Ansprüche vorsehen, ist nach dem Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) zu lösen (st. Rspr., sh. nur BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 123/18 – Rn. 34 mwN, BAGE 164, 345).
42 (1) Hiernach treten unmittelbar und zwingend geltende Tarifbestimmungen hinter einzelvertraglichen Vereinbarungen mit für den Arbeitnehmer günstigeren Bedingungen zurück. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem Tarifvertrag enthält, ergibt sich aus einem Vergleich zwischen den tarif- und den individualvertraglichen Bestimmungen. Bei diesem sog. Günstigkeitsvergleich sind die durch Auslegung zu ermittelnden Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen gegenüberzustellen, die in einem inneren Zusammenhang stehen – sog. Sachgruppenvergleich (BAG 25. Januar 2023 – 4 AZR 180/22 – Rn. 21 mwN).
43 (2) Der Vergleich der nach diesen Maßstäben im Hinblick auf die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche zu bildenden Sachgruppen ergibt, dass die Bestimmungen der kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbaren Flächentarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens günstiger sind als diejenigen der normativ geltenden Tarifbestimmungen einschließlich des SiTV. Dies hat der Kläger ausreichend dargelegt.
44 (a) Nach den allgemeinen zivilprozessualen Grundsätzen trägt die Partei, die geltend macht, die vertragliche Regelung sei günstiger als die tarifvertragliche, die entsprechende Darlegungslast. Handelt es sich bei der arbeitsvertraglichen Regelung um eine Bezugnahmeklausel, ist nicht nur der Inhalt der Klausel selbst darzulegen, vielmehr sind auch die in Bezug genommenen Tarifverträge konkret zu bezeichnen sowie deren Inhalt vorzutragen, damit das Gericht in die Lage versetzt wird, den erforderlichen Günstigkeitsvergleich vorzunehmen. Den Inhalt von Tarifverträgen, die „nur“ vertraglich in Bezug genommen worden sind, ermitteln die Gerichte für Arbeitssachen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht selbst. Hingegen sind die unmittelbar und zwingend geltenden Tarifverträge „Normen“, deren Inhalt nach § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln ist (BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 271/18 – Rn. 30 mwN). Vorliegend gelten sowohl der SiTV als auch die Flächentarifverträge kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Parteien. Auf deren Inhalt kann der Senat daher zurückgreifen, soweit der Kläger diesen nicht im Detail vorgetragen hat (vgl. BAG 12. Dezember 2018 – 4 AZR 123/18 – Rn. 38, BAGE 164, 345).
45 (b) Der Günstigkeitsvergleich ist im Streitfall zunächst bezogen auf die Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ durchzuführen. Die Dauer der vom Arbeitnehmer zu erbringenden Arbeitsleistung und das ihm dafür zustehende Arbeitsentgelt stehen als Teile der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten in einem engen, inneren sachlichen Zusammenhang. Dabei sind alle Entgeltbestandteile von Bedeutung, die sich als Gegenleistung zur Arbeitsleistung darstellen (BAG 12. Dezember 2012 – 4 AZR 328/11 – Rn. 46).
46 (aa) In den Vergleich innerhalb dieser Sachgruppe einzubeziehen ist die Mehrarbeitsvergütung nach § 33 MTV. Nach dieser Bestimmung erhält der Beschäftigte „Mehrarbeitsentgelt und Zuschläge für Mehr-, Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit“. Hierbei handelt es sich (jedenfalls auch) um eine Gegenleistung für die Arbeitsleistung.
47 (bb) Gleiches gilt für den Anspruch auf eine betriebliche Sonderzahlung nach § 2 Nr. 1 ETV 13. ME. Dies folgt aus der in § 2 Nr. 6 ETV 13. ME vorgesehenen anteiligen Leistungskürzung bei Ruhen des Arbeitsverhältnisses. Der Umstand, dass nach § 2 Nr. 1 ETV 13. ME das Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate am Auszahlungstag bestanden haben muss und damit auch Betriebstreue honoriert werden soll, steht dem nicht entgegen (vgl. BAG 8. September 2021 – 10 AZR 322/19 – Rn. 53 ff., BAGE 175, 367; 12. Dezember 2012 – 10 AZR 718/11 – Rn. 36).
48 (cc) In den Günstigkeitsvergleich nach dieser Sachgruppe ist ferner das tarifliche Zusatzgeld (B) nach § 2 Nr. 2 Buchst. b TV T-ZUG einzubeziehen. Hierbei handelt es sich um eine besondere Entgeltleistung jenseits der regelmäßigen Vergütung (vgl. BAG 27. April 2022 – 4 AZR 262/21 – Rn. 27). Diese weist Bezüge zur Arbeitsleistung des Arbeitnehmers und zur Höhe des regelmäßigen Tarifentgelts auf (vgl. BAG 21. Juli 2021 – 5 AZR 10/21 – Rn. 27). Zugleich wird nach der Stichtagsregelung in § 2 Nr. 1 Abs. 1 TV T-ZUG eine vom Arbeitnehmer gezeigte Betriebstreue honoriert. Danach handelt es sich zwar um keine rein gegenleistungsbezogene Leistung (vgl. BAG 21. Juli 2021 – 5 AZR 10/21 – Rn. 28), sie stellt aber jedenfalls auch eine Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung dar.
49 (c) Vorliegend kann dahinstehen, ob die zusätzliche Urlaubsvergütung nach § 38.2 MTV der Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ oder – gemeinsam mit anderen Urlaubsregelungen – einer weiteren Sachgruppe zuzuordnen ist. Unabhängig davon sind hier insoweit nur die Bestimmungen der Flächentarifverträge maßgebend.
50 (aa) Nach der tariflichen Regelung wird die zusätzliche Urlaubsvergütung mit der Urlaubsgewährung verknüpft. Dies geschieht insbesondere durch § 38.3 Abs. 3 MTV, wonach der Anspruch des Arbeitgebers auf Rückgewähr einer bereits gezahlten zusätzlichen Urlaubsvergütung von der Höhe des Urlaubsanspruchs im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abhängig gemacht wird. Diese Akzessorietät kann dafür sprechen, dass die zusätzliche Urlaubsvergütung nicht (auch) der Vergütung erbrachter Arbeitsleistung dient (vgl. dazu BAG 22. Juli 2014 – 9 AZR 981/12 – Rn. 20 ff.) und daher – anders als die Urlaubsgeldregelung, welche der Entscheidung des Senats vom 12. Dezember 2018 zugrunde lag (- 4 AZR 271/18 – Rn. 38) – nicht der Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“, sondern gemeinsam mit anderen Urlaubsregelungen der Sachgruppe „Urlaub“ zuzuordnen ist.
51 (bb) Der SiTV enthält hinsichtlich der Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ ausschließlich nachteilige Regelungen gegenüber den diesbezüglichen Bestimmungen in den Flächentarifverträgen. Selbiges gilt hinsichtlich der Sachgruppe „Urlaub“, wenn man davon ausgeht, die Regelung zur zusätzlichen Urlaubsvergütung sei dieser Sachgruppe zuzuordnen.
52 (d) Die Bestimmungen zu Standort- und Beschäftigungsgarantien nach § 2 SiTV sind in Ermangelung des erforderlichen inneren Zusammenhangs weder der Sachgruppe „Arbeitszeit und Arbeitsentgelt“ noch der Sachgruppe „Urlaub“ zuzuordnen (sh. nur BAG 15. April 2015 – 4 AZR 587/13 – Rn. 40 mwN, BAGE 151, 221; 20. April 1999 – 1 ABR 72/98 – zu B III 1 b aa der Gründe, BAGE 91, 210).
53 c) Die geltend gemachten Entgeltdifferenzen sind in der beantragten Höhe entstanden. Die Beklagte hat die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zu den in Anwendung des SiTV vorgenommenen Kürzungen nicht angegriffen.
54 d) Der Kläger hat die streitgegenständlichen Ansprüche – entgegen der Auffassung der Beklagten – innerhalb der zu beachtenden tariflichen Ausschlussfristen geltend gemacht.
55 aa) Nach § 49.2 MTV haben Beschäftigte einen Anspruch auf Zuschläge – ua. für Mehrarbeit – innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Abrechnung und alle übrigen Ansprüche innerhalb von drei Monaten ab Fälligkeit geltend zu machen. Ansprüche, die nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden, sind nach § 49.4 MTV ausgeschlossen.
56 bb) Grundsätzlich setzt eine Geltendmachung voraus, dass der Anspruch bereits entstanden ist. Eine Besonderheit gilt aber, wenn bei unveränderter rechtlicher und tatsächlicher Lage ein Anspruch aus einem bestimmten Sachverhalt hergeleitet werden kann. Dies ist etwa der Fall, wenn ein bestimmter Anspruch jeweils aus einem ständig gleichen Grundtatbestand entsteht. Durch einmalige ordnungsgemäße Geltendmachung kann die Ausschlussfrist im Hinblick auf noch nicht entstandene Ansprüche gewahrt sein. Auch wenn die jeweilige Tarifbestimmung dies nicht ausdrücklich vorsieht, kommt eine entsprechende Auslegung in Betracht, wenn der mit der Ausschlussfrist verfolgte Zweck, dem Schuldner zeitnah Gewissheit zu verschaffen, mit welchen Ansprüchen er zu rechnen hat, durch die einmalige Geltendmachung erreicht wird. Eine solche einschränkende Auslegung ist insbesondere dann geboten, wenn lediglich über die stets gleiche Berechnungsgrundlage von im Übrigen unstreitigen Ansprüchen gestritten wird. Hier reicht im Zweifel die einmalige Geltendmachung der richtigen Berechnungsmethode auch für später entstehende Zahlungsansprüche aus. Steht allein ein bestimmtes Element einer bestimmten Art von Ansprüchen in Streit, erfüllt die Aufforderung, dieses zukünftig in konkreter Art und Weise zu beachten, die Funktion einer Inanspruchnahme. Für den Schuldner kann kein Zweifel bestehen, was von ihm verlangt wird, und der Gläubiger darf ohne Weiteres davon ausgehen, dass er seiner Obliegenheit zur Geltendmachung Genüge getan hat (BAG 22. März 2023 – 10 AZR 553/20 – Rn. 73 mwN).
57 cc) Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger durch sein Schreiben vom 29. Juli 2021 nicht nur die zu diesem Zeitpunkt bereits entstandenen und fällig gewordenen Ansprüche fristwahrend geltend gemacht, sondern auch diejenigen, die er mit der Klage zusätzlich begehrt. Dem steht nicht entgegen, dass diese auf unterschiedliche Anspruchsgrundlagen gestützt werden. Der Streit der Parteien betraf von Anfang an alleine die Rechtsfrage, ob dem Kläger eine zusätzliche Urlaubsvergütung, Mehrarbeitszuschläge, eine Sonderzahlung und ein tarifliches Zusatzgeld (B) nach den Bestimmungen des jeweiligen Flächentarifvertrags unbeschadet der im SiTV geregelten Kürzungen oder Anspruchsausschlüsse zustehen. Sämtliche Ansprüche beruhen auf dem gleichen Grundtatbestand, den der Kläger im Schreiben vom 29. Juli 2021 ebenso genannt hat wie die sich hieraus ergebenden Folgen hinsichtlich künftiger Ansprüche. Diese hat er konkretisiert und eingefordert. Über die Höhe der sich jeweils ergebenden Ansprüche bei Unanwendbarkeit der jeweiligen Bestimmungen des SiTV bestand und besteht zwischen den Parteien kein Streit.
58 e) Dem Kläger ist die Durchsetzung seiner Ansprüche entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nach dem aus § 242 BGB folgenden Grundsatz des Verbots widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“) verwehrt.
59 aa) Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung. Die Rechtsordnung verbietet allerdings nicht jedes widersprüchliche Verhalten. Ein solches ist nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen (st. Rspr., etwa BAG 8. März 2022 – 3 AZR 420/21 – Rn. 46).
60 bb) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Es stellt bereits keinen Widerspruch im Verhalten des Klägers dar, wenn sich dieser in seiner Stellung als Arbeitnehmer darauf beruft, bestimmte Regelungen eines Tarifvertrags, für dessen Abschluss er in seiner Funktion als Mitglied der Tarifkommission gestimmt hat, kämen für ihn in Anwendung einer individualvertraglichen Vereinbarung iVm. dem gesetzlich normierten Günstigkeitsprinzip (§ 4 Abs. 3 TVG) nicht zur Anwendung.
61 f) Schließlich war der Kläger auch in Anbetracht seines Abstimmungsverhaltens als Mitglied der Tarifkommission nicht gehalten, seine Ansprüche besonders frühzeitig – und wie die Beklagte offenbar meint – noch vor Ablauf der maßgebenden Ausschlussfristen geltend zu machen. Eine Verwirkung (zu deren Voraussetzungen vgl. etwa BAG 18. Oktober 2023 – 5 AZR 68/23 – Rn. 28 mwN) ist daher nicht eingetreten.
62 g) Der Anspruch auf die begehrten Zinsen ergibt sich aus § 286 Abs. 2 Nr. 1, § 288 Abs. 1 BGB.
63 III. Die Kostenentscheidung folgt – unter Berücksichtigung einer zweitinstanzlichen Klageerweiterung – aus § 92 Abs. 1, § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO.