BAG: Allgemeinverbindlicherklärung - Wirksamkeit - Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV)
Das BAG hat mit Beschluss vom 21.9.2016 – 10 ABR 48/15 – wie folgt entschieden:
1. Nach dem im Beschlussverfahren geltenden eingeschränkten Untersuchungsgrundsatz haben die Gerichte für Arbeitssachen die Wirksamkeit einer AVE oder VO im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG von sich aus auf deren formelle oder materielle Wirksamkeit zu überprüfen. Der Umfang der Prüfpflicht hängt sowohl vom Vortrag der Antragsteller als auch von anderen, dem Gericht bekannten Umständen ab. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der des Erlasses der AVE oder VO (Rn. 70).
2. Die AVE von Tarifverträgen verstößt weder gegen nationales Verfassungsrecht noch gegen Bestimmungen der EMRK (Rn. 78 f.). Eine Vorlage an den EuGH scheidet - ungeachtet der Entscheidungserheblichkeit - hinsichtlich der angegriffenen AVE mangels hinreichendem Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht aus (Rn. 80 ff.).
3. Die AVE eines Tarifvertrags setzt dessen Wirksamkeit voraus, was unter anderem die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit der jeweiligen Tarifvertragsparteien verlangt. Werden in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG vernünftige Zweifel hieran geäußert, ist das Verfahren bei Entscheidungserheblichkeit dieser Frage nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG auszusetzen (Rn. 100 ff.).
4. Die Entscheidung des zuständigen Ministeriums, ein öffentliches Interesse für die AVE anzunehmen, ist nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbar, da ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Dieser weite Beurteilungsspielraum ist eine Ausprägung des mit Rechtsetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens. Der (politische) Bewertungsprozess des Ministeriums kann nur darauf überprüft werden, ob die äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis überschritten sind und die getroffene Entscheidung schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist (Rn. 109 f.).
5. Für den Normerlass ist das Verwaltungsverfahrensgesetz, insbesondere der in § 24 VwVfG geregelte Untersuchungsgrundsatz, weder unmittelbar noch analog anwendbar. Entscheidend ist allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (Rn. 117 f.).
6. Bei der AVE handelt es sich stets um einen Normsetzungsakt, der politisch und parlamentarisch verantwortet werden muss und bei dem wichtige arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen jedenfalls zur Frage des „öffentlichen Interesses“ anzustellen sind. Deshalb bedarf die AVE eines Tarifvertrags als Ausübung von Staatsgewalt der demokratischen Legitimation in Form der zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers oder seines Staatssekretärs mit der Angelegenheit. Dieses Erfordernis besteht unabhängig von konkreten Inhalten des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags (Rn. 138 ff.).
7. Aus rechtsstaatlichen Gründen muss die materielle Zurechenbarkeit der AVE in Bezug auf den Minister aktenkundig dokumentiert sein, da nur so eine verlässliche, effektive gerichtliche Kontrolle exekutiven Handelns möglich ist (Rn. 148 ff.).
8. Das Erfordernis einer aktenkundigen zustimmenden Befassung des Ministers mit der AVE ist erfüllt, wenn er sich mit einer Kabinettvorlage an die Bundesregierung wendet, um eine nach § 5 Abs. 3 TVG erforderliche Zustimmung zur AVE einzuholen (Rn. 167 f.).
9. Für die Ermittlung der sog. Großen Zahl kam es nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF auf die Anzahl der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer an (Rn. 170 ff.). Dabei reicht eine sorgfältige Schätzung aus (Rn. 184). Unerheblich war, ob die AVE mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist (Rn. 171 ff.). Die Berücksichtigung der sog. Großen Einschränkungsklausel bei der Ermittlung der Großen Zahl macht die vom zuständigen Ministerium verwendete Schätzgrundlage unbrauchbar (Rn. 187).
10. Maßstab für die gerichtliche Kontrolle sind allein die zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen (Rn. 190 f.).
11. Für die Ermittlung der sog. Kleinen Zahl nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF war vorrangig die tatsächliche Anzahl der bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer zu ermitteln. Auch hier kann eine sorgfältige Schätzung ausreichen (Rn. 208).
12. Das zuständige Ministerium durfte sich bei der Feststellung der Kleinen Zahl nicht auf eine rechnerische Kontrolle ihm von Verbänden mitgeteilter Zahlen beschränken. Es hatte zumindest das Erfordernis einer Schätzung und deren Grundlagen zu bewerten sowie zu prüfen, ob der Geltungsbereich des Tarifvertrags zutreffend beurteilt wurde.