R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Arbeitsrecht
16.12.2016
Arbeitsrecht
BAG: Allgemeinverbindlicherklärung - Wirksamkeit - Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV)

Der BAG hat mit Beschluss vom 21.9.2016 – 10 ABR 33/15 – wie folgt entschieden:

1. Bei dem Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG handelt es sich der Sache nach um ein abstraktes Normenkontrollverfahren. In ihm können auch vor Inkrafttreten der Neuregelung erlassene Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE) oder Rechtsverordnungen (VO) einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden (Rn. 42, 38). Auch außer Kraft getretene AVE oder VO können Gegenstand dieses Verfahrens sein. Voraussetzung dafür ist aber, dass sie noch geschützte Rechtspositionen des Antragstellers beeinträchtigen können; dies hat er darzulegen (Rn. 49).

2. Eine Antragsbefugnis nach § 98 Abs. 1 ArbGG liegt vor, wenn der Antragsteller Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die angegriffene AVE oder VO oder deren Anwendung in einer eigenen Rechtsposition verletzt wird oder dies in absehbarer Zeit droht. Dabei ist nicht erforderlich, dass eine solche Rechtsverletzung schon eingetreten ist (Rn. 45 ff.).

3. Im Fall der Aussetzung eines Rechtsstreits nach § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG bedarf es - auch bei einer außer Kraft getretenen AVE oder VO - für die dortigen Parteien/Beteiligten keiner weiteren Darlegungen hinsichtlich ihrer Antragsbefugnis oder des Feststellungsinteresses. Unschädlich ist, wenn sich der Antragsteller mit anderen rechtlichen Argumenten (hier: Leugnen des Unterfallens unter den Geltungsbereich des VTV) im Ausgangsprozess gegen eine Inanspruchnahme aus der erstreckten Tarifregelung wehrt (Rn. 51, 55).

4. Ein berechtigtes rechtliches Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit einer AVE oder VO ist nicht mehr gegeben, wenn alle den maßgeblichen Zeitraum der Tariferstreckung betreffenden Rechtsstreite des Antragstellers rechtskräftig abgeschlossen sind. Die beabsichtigte Erhebung einer Restitutionsklage nach § 580 ZPO, die alleine auf die später in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG möglicherweise erfolgende Feststellung der Unwirksamkeit einer AVE oder VO gestützt werden soll, kann ein solches Feststellungsinteresse nicht begründen. Vielmehr scheidet eine solche Restitutionsklage mangels Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen aus. Auch eine entsprechende Anwendung der Norm kommt nicht in Betracht (Rn. 58 ff.).

5. Gleiches gilt, wenn eine Koalition sich erst nach Ablauf des erstreckten Tarifvertrags gegen die Wirksamkeit einer AVE oder VO wendet, ohne darzulegen, inwieweit daraus noch eine aktuelle oder zukünftige Rechtsverletzung resultieren kann (Rn. 73 f.).

6. Am Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG ist nach § 98 Abs. 3 Satz 3 ArbGG stets die erlassende Behörde zu beteiligen. Die weiteren Beteiligungen bestimmen sich entsprechend § 83 Abs. 3 ArbGG nach der materiellen Betroffenheit der Personen und Stellen. Stets zu beteiligen sind neben den Antragstellern danach nur die Tarifvertragsparteien, die den erstreckten Tarifvertrag abgeschlossen haben. Hingegen sind weder alle unter die Tarifregelung fallenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu beteiligen noch konkurrierende Tarifvertragsparteien, soweit sie keinen eigenen Antrag gestellt haben (Rn. 78 ff.).

7. Nach dem im Beschlussverfahren geltenden eingeschränkten Untersuchungsgrundsatz haben die Gerichte für Arbeitssachen die Wirksamkeit einer AVE oder VO im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG von sich aus auf deren formelle oder materielle Wirksamkeit zu überprüfen. Der Umfang der Prüfpflicht hängt sowohl vom Vortrag der Antragsteller als auch von anderen, dem Gericht bekannten Umständen ab. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der des Erlasses der AVE oder VO (Rn. 89 ff.).

8. Die AVE von Tarifverträgen verstößt weder gegen nationales Verfassungsrecht noch gegen Bestimmungen der EMRK (Rn. 95 f.). Eine Vorlage an den EuGH scheidet - ungeachtet der Entscheidungserheblichkeit - hinsichtlich der angegriffenen AVE mangels hinreichendem Anknüpfungspunkt an das Unionsrecht aus (Rn. 97 ff.).

9. Die AVE eines Tarifvertrags setzt dessen Wirksamkeit voraus, was unter anderem die Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit der jeweiligen Tarifvertragsparteien verlangt. Werden in einem Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 5, § 98 ArbGG vernünftige Zweifel hieran geäußert, ist das Verfahren bei Entscheidungserheblichkeit dieser Frage nach § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG auszusetzen (Rn. 118 ff.).

10. Die Entscheidung des zuständigen Ministeriums, ein öffentliches Interesse für die AVE anzunehmen, ist nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbar, da ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Dieser weite Beurteilungsspielraum ist eine Ausprägung des mit Rechtsetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens. Der (politische) Bewertungsprozess des Ministeriums kann nur darauf überprüft werden, ob die äußersten rechtlichen Grenzen der Rechtsetzungsbefugnis überschritten sind und die getroffene Entscheidung schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist (Rn. 126 f.).

11. Für den Normerlass ist das Verwaltungsverfahrensgesetz, insbesondere der in § 24 VwVfG geregelte Untersuchungsgrundsatz, weder unmittelbar noch analog anwendbar. Entscheidend ist allein, ob das Ergebnis des Normsetzungsverfahrens den anzulegenden rechtlichen Maßstäben entspricht (Rn. 134 f.).

12. Bei der AVE handelt es sich stets um einen Normsetzungsakt, der politisch und parlamentarisch verantwortet werden muss und bei dem wichtige arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen jedenfalls zur Frage des „öffentlichen Interesses“ anzustellen sind. Deshalb bedarf die AVE eines Tarifvertrags als Ausübung von Staatsgewalt der demokratischen Legitimation in Form der zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers oder seines Staatssekretärs mit der Angelegenheit. Dieses Erfordernis besteht unabhängig von konkreten Inhalten des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags (Rn. 155 ff.).

13. Aus rechtsstaatlichen Gründen muss die materielle Zurechenbarkeit der AVE in Bezug auf den Minister aktenkundig dokumentiert sein, da nur so eine verlässliche, effektive gerichtliche Kontrolle exekutiven Handelns möglich ist (Rn. 165).

14. Eine vor Normerlass fehlende Befassung oder Billigung durch den Minister kann nicht nach Normerlass nachgeholt werden. Vielmehr kommt es für die Prüfung der Wirksamkeit der AVE maßgeblich auf deren Erlass an; zu diesem Zeitpunkt müssen alle Wirksamkeitsvoraussetzungen objektiv vorgelegen haben (Rn. 169).

15. Für die Ermittlung der sog. Großen Zahl kam es nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF auf die Anzahl der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer an. Unerheblich war hingegen, ob die AVE mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist (Rn. 187 ff.). Die Berücksichtigung der sog. Großen Einschränkungsklausel bei der Ermittlung der Großen Zahl macht die vom zuständigen Ministerium verwendete Schätzgrundlage unbrauchbar (Rn. 203).

16. Maßstab für die gerichtliche Kontrolle sind allein die zum Zeitpunkt der behördlichen Prüfung tatsächlich vorhandenen und verwertbaren Informationen (Rn. 205 f.).

 

 

stats