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Wirtschaftsrecht
15.09.2011
Wirtschaftsrecht
BGH: KapMuG - Bindungswirkung eines Vorlageschlusses bei der Durchführung eines Musterverfahrens

BGH, Beschluss vom 26.7.2011 - II ZB 11/10

leitsätze

a) Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann.

b) Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das Oberlandesgericht entfällt nicht, wenn der Vorlagebeschluss trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens ist.

c) Fehler und Auslassungen des Vorlagebeschlusses bei der Bezeichnung der Beweismit-tel sowie der Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel können während des Musterverfahrens behoben werden und berechtigen das Oberlandesgericht daher nicht, den Vorlagebe-schluss aufzuheben und an das Prozessgericht zurückzugeben.

KapMuG § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2; § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4

aus den gründen

1          I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen - neben weiteren Klägern in ge-sonderten Verfahren - vor dem Landgericht Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das Landgericht am 12. November 2009 nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG beschlossen, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts "herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklag-ten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden".

2          Die Gründe des Vorlagebeschlusses des Landgerichts geben von dem Klagevortrag Einzelheiten zum Einstieg der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1 in die Formel-1-Rennserie des Automobilsports und zu den den Anlegern hierzu in der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. März 2000 angeblich verschwiegenen Tatsachen wieder. Der im Vorlagebeschluss angegebene Zeitpunkt der Klage-erhebung sowie das in Bezug genommene Klagevorbringen, wann und zu wel-chem Kurs Aktien der Beklagten zu 1 nach der Ad-hoc-Mitteilung erworben worden seien, betreffen dagegen offenkundig nicht die hiesigen Kläger, sondern die Klage eines Klägers aus einem Parallelverfahren vor dem Landgericht.

3          Mit Beschluss vom 11. März 2010 hat das Oberlandesgericht (OLG München, ZIP 2011, 51) den Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickel-ten Grundsätze aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das Landgericht zurückgegeben. Dagegen richtet sich die - vom Oberlandesgericht zugelassene - Rechtsbeschwerde der Kläger.

4          II. Das Oberlandesgericht hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss leide an erheblichen Mängeln und sei daher keine taugliche Grundlage für das Muster-verfahren. Die Bindungswirkung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG bestehe nicht uneingeschränkt und entfalle, wenn der Vorlagebeschluss - wie hier - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln leide. Insoweit seien die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Einschränkung der Bindung an einen Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen. Es könne offen bleiben, ob der Beschluss bereits deshalb auf-zuheben sei, weil er unzureichende Feststellungen über das Vorliegen der Vo-raussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG (Aufführung der weiteren Mus-terfeststellungsanträge sowie deren Inhalt und Eintragung) enthalte. Denn es fehlten jedenfalls entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 KapMuG ausreichende Angaben zum Inhalt der geltend gemachten Ansprüche der Kläger, zu den vorge-brachten Streitpunkten und deren Entscheidungserheblichkeit sowie zu An-griffs- und Verteidigungsmitteln. Bereits der in den Gründen des Vorlagebe-schlusses vorangestellte Klägervortrag betreffe offensichtlich nicht die hiesigen Kläger (andere Daten und Zahlen und einen anderen Klagezeitpunkt). Zum Vorbringen der Beklagten und zu den von diesen benannten Beweismitteln fin-de sich nichts.

5          III. Die Rechtsbeschwerde der Kläger ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Das Oberlandesgericht ist gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG an den Vorlagebeschluss des Landgerichts München I vom 12. November 2009 gebunden.

6          1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das Oberlandesgericht im ers-ten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KapMuG unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des Oberlandesge-richts, mit der der Vorlagebeschluss aufgehoben wird.

7          2. Der - nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 KapMuG unanfechtbare - Vor-lagebeschluss des Prozessgerichts ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG für das Oberlandesgericht grundsätzlich bindend. Die Bindung ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Vorinstanz weder eingeschränkt noch ausnahmsweise entfallen.

8          a) Der angefochtenen Entscheidung ist allerdings darin zuzustimmen, dass bei Vorliegen bestimmter Umstände eine Bindungswirkung des Vorlage-beschlusses nicht besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann. § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG findet dann keine Anwendung (vgl. Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 4 Rn. 31; Parigger in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 9 Rn. 7; KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 90; ebenso im Ergebnis KG, Muster-entscheid vom 3. März 2009 - 4 Sch 2/06, juris Rn. 248, 258; vgl. zur Unan-fechtbarkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG BGH, Beschluss vom 16. Juni 2009 - XI ZB 33/08, ZIP 2009, 1393 Rn. 10; Beschluss vom 8. September 2009 - XI ZB 4/09, juris Rn. 5; Beschluss vom 30. November 2010 - XI ZB 23/10, ZIP 2011, 147 Rn. 10 f.). Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der geltend ge-machte Anspruch kann Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags sein, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG. Mit der Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22. März 2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1 und 3 Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden, sollen anspruchsbegründende Voraussetzun-gen zu Schadensersatzansprüchen wegen falscher Kapitalmarktinformation geklärt werden.

9          b) Es kann dahinstehen, ob die Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG entfiele, wenn das Feststellungsziel auf die - nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 10. Juni 2008 - XI ZB 26/07, BGHZ 177, 88 Rn. 24) unzulässige - Feststellung des Anspruchs selbst gerichtet wäre. Das Feststellungsziel des Vorlagebeschlusses ist nicht auf die Feststellung eines Schadensersatzanspruches aus § 826 BGB dem Grunde nach gerichtet. Im Vordergrund steht vielmehr erkennbar die Frage nach der Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1 vom 22. März 2000 und damit nach dem Vorliegen einer einzelnen anspruchsbegründenden Voraussetzung. Jedenfalls darin liegt ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG zu-lässiges Feststellungsziel.

10        c) Ob die Bindungswirkung in entsprechender Anwendung der zu § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entwickelten Rechtsprechung in Ausnahmefällen bei Willkü-rentscheidungen entfallen kann, wie das Oberlandesgericht in Übereinstim-mung mit einem Teil der Literatur (vgl. KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 87; Hanisch, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzt [KapMuG]: Anwendungs-fragen und Rechtsdogmatik, 2011, S. 281) angenommen hat, kann ebenfalls dahinstehen. Denn der Vorlagebeschluss des Landgerichts vom 12. November 2009 ist nicht im Sinne dieser Rechtsprechung willkürlich; er weist vielmehr le-diglich einfache Rechtsfehler auf, die eine Durchbrechung der Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 KapMuG nicht rechtfertigen (vgl. Hanisch, aaO, S. 285 f.).

11        aa) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses kann nach der zu § 281 ZPO ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Einzel-fall dann entfallen, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs oder auf Will-kür beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn dem Beschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verweisungsbe-schluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Ge-danken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Es genügt aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist (BGH, Beschluss vom 15. März 1978 - IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69, 72 f.; Beschluss vom 10. Dezember 1987 - I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338, 341; Beschluss vom 22. Juni 1993 - X ARZ 340/93, NJW 1993, 2810, 2811; Beschluss vom 10. Juni 2003 - X ARZ 92/03, NJW 2003, 3201, 3202; Beschluss vom 13. Dezember 2005 - X ARZ 223/05, NJW 2006, 847 Rn. 12 f.; Beschluss vom 20. August 2007 - X ARZ 247/07, NJW-RR 2008, 370 Rn. 6).

12        bb) Der Vorlagebeschluss des Landgerichts München I vom 12. November 2009 ist zwar unvollständig und teilweise inhaltlich falsch. Willkürlich ist der Vorlagebeschluss aber nicht. Willkürlich ist ein Vorlagebeschlus-ses dann nicht, wenn er trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeigne-te Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens darstellt. Der Vorlage-beschluss vom 12. November 2009 ist eine geeignete Grundlage, weil er den Anforderungen des § 4 Abs. 2 KapMuG im Wesentlichen entspricht. Insbeson-dere gibt der Vorlagebeschluss ein Feststellungsziel (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG) sowie Streitpunkte (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG) an. Darüber hinaus bezeichnet er Beweismittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG) und enthält eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts des erhobenen Anspruchs und der dazu vorgebrach-ten Angriffsmittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG). Es ist ohne weiteres erkennbar, dass die Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. März 2000 sowie die da-rauf bezogene Kenntnis der Beklagten zu 2 und 3 im Rahmen der Anspruchs-prüfung nach § 826 BGB festgestellt werden sollen.

13        d) Das Oberlandesgericht war nicht berechtigt, aufgrund der zutreffend festgestellten Mängel den Vorlagebeschluss aufzuheben. Der Vorlagebeschluss ist mangelhaft, weil er sich entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG nicht mit dem Vortrag der Beklagten und den dazu angetretenen Beweisen auseinander-setzt. Außerdem betrifft der den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestell-te Klägervortrag offenkundig nicht die hiesigen Kläger und Rechtsbeschwerde-führer. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG hat der Vorlagebeschluss die be-zeichneten Beweismittel und eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidi-gungsmittel zu enthalten. Diese Punkte sollen es dem Oberlandesgericht er-möglichen, das Musterverfahren vorzubereiten. Der Vorlagebeschluss dient insoweit der ersten Strukturierung, Ordnung und Aufbereitung des Streitstoffes. Die im Vorlagebeschluss enthaltenen Tatsachenmitteilungen und Beweismittel bilden aber nicht bereits den abschließenden Verfahrensstoff des Musterverfah-rens. Dieser ergibt sich vielmehr aus dem Vortrag der Beteiligten des Musterverfahrens (KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rn. 62, Rn. 73 f. sowie § 9 Rn. 95 f.; vgl. auch § 10 KapMuG). Fehler des Vorlagebeschlusses in diesem Bereich können daher während des Musterverfahrens behoben werden.

14        IV. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, das auf der Grundlage des Vorlagebeschlusses das Musterverfahren durchzuführen hat.

Gemäß § 6 KapMuG ist das Oberlandesgericht zunächst verpflichtet, den Vorlagebeschluss nach dessen Eingang im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Eine Verzögerung dieser Eintragung aufgrund von Mängeln des Vor-lagebeschlusses sieht § 6 KapMuG nicht vor.

15        Das Oberlandesgericht kann allerdings in dem Umfang, in dem eine Bin-dung an den Vorlagebeschluss nach dem oben Gesagten nicht besteht, den Musterfeststellungsantrag im Musterentscheid gegebenenfalls (teilweise) als unzulässig zurückweisen. Bloße etwaige sprachliche Ungenauigkeiten kann es im Musterentscheid durch Auslegung korrigieren (vgl. Hanisch, aaO, S. 303 f.).

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