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Wirtschaftsrecht
25.01.2024
Wirtschaftsrecht
EuGH: Hewlett Packard – Beweislast für Erschöpfung des Rechts aus Unionsmarke

EuGH, Urteil vom 18.1.2024 – C-367/21, Hewlett Packard Development Company LP gegen Senetic S.A.

ECLI:EU:C:2024:61

Volltext: BB-Online BBL2024-193-1

Tenor

Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die [Unionsmarke] und Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke in Verbindung mit den Art. 34 und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Beweislast für die Erschöpfung des Rechts aus einer Unionsmarke ausschließlich den Beklagten eines Verletzungsverfahrens trifft, wenn die mit dieser Marke versehenen Waren, die keine Kennzeichen aufweisen, die es Dritten ermöglichen würden, den Markt zu bestimmen, auf dem sie vertrieben werden sollen und die über ein selektives Vertriebsnetz verteilt werden, dessen Mitglieder die Waren nur an andere Mitglieder dieses Netzes oder an Endverbraucher weiterverkaufen dürfen, von diesem Beklagten in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum erworben wurden, nachdem er von den Verkäufern die Zusicherung erhalten hatte, dass die Waren im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften dort vertrieben werden dürfen, und der Inhaber der Marke sich weigert, selbst eine solche Überprüfung auf Verlangen des Käufers vorzunehmen.

 

Aus den Gründen

1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 36 Satz 2 AEUV in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie den Art. 34, 35 und 36 AEUV.

 

2          Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hewlett Packard Development Company LP mit Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika (im Folgenden: Hewlett Packard) und der Senetic S.A. mit Sitz in Polen, weil diese Computerhardware, die mit Unionsmarken versehen war, deren Inhaberin Hewlett Packard ist, vermarktet haben soll.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 207/2009

3          Der neunte Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die [Unionsmarke] (ABl. 2009, L 78, S. 1) bestimmte:

„Aus dem Grundsatz des freien Warenverkehrs folgt, dass der Inhaber der [Unionsmarke] einem Dritten die Benutzung der Marke für Waren, die in der [Union] unter der Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in den Verkehr gebracht worden sind, nicht untersagen kann, außer wenn berechtigte Gründe es rechtfertigen, dass der Inhaber sich dem weiteren Vertrieb der Waren widersetzt.“

 

4          Art. 9 dieser Verordnung („Recht aus der [Unionsmarke]“) sah vor:

„(1) Die [Unionsmarke] gewährt ihrem Inhaber ein ausschließliches Recht. Dieses Recht gestattet es dem Inhaber, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr

a) ein mit der [Unionsmarke] identisches Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, die mit denjenigen identisch sind, für die sie eingetragen ist;

(2) Sind die Voraussetzungen des Absatzes 1 erfüllt, so kann insbesondere verboten werden,

b) unter dem Zeichen Waren anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen oder unter dem Zeichen Dienstleistungen anzubieten oder zu erbringen;

c) Waren unter dem Zeichen einzuführen oder auszuführen;

…“

 

5          Art. 13 dieser Verordnung („Erschöpfung des Rechts aus der [Unionsmarke]“) lautete:

„(1) Die [Unionsmarke] gewährt ihrem Inhaber nicht das Recht, einem Dritten zu verbieten, die Marke für Waren zu benutzen, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in der [Union] in den Verkehr gebracht worden sind.

(2) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn berechtigte Gründe es rechtfertigen, dass der Inhaber sich dem weiteren Vertrieb der Waren widersetzt, insbesondere wenn der Zustand der Waren nach ihrem Inverkehrbringen verändert oder verschlechtert ist.“

 

6          Die Verordnung Nr. 207/2009 wurde mit Wirkung vom 1. Oktober 2017 durch die Verordnung 2017/1001 aufgehoben und ersetzt.

 

Verordnung 2017/1001

7          Der 17. Erwägungsgrund der Verordnung 2017/1001 lautet:

„Einerseits muss eine wirksame Durchsetzung der Markenrechte gewährleistet werden, und andererseits muss vermieden werden, dass der freie Handel mit rechtmäßigen Waren behindert wird; damit dies miteinander in Einklang gebracht werden kann, sollte der Anspruch des Inhabers einer Unionsmarke erlöschen, wenn im Zuge des Verfahrens, das vor dem für eine Sachentscheidung über eine Verletzung der Unionsmarke zuständigen Unionsmarkengericht eingeleitet wurde, der Anmelder oder der Besitzer der Waren in der Lage ist nachzuweisen, dass der Inhaber der Unionsmarke nicht berechtigt ist, das Inverkehrbringen der Waren im Endbestimmungsland zu untersagen.“

 

8          Der 22. Erwägungsgrund dieser Verordnung lautet:

„Aus dem Grundsatz des freien Warenverkehrs folgt, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, dass der Inhaber der Unionsmarke einem Dritten die Benutzung der Marke für Waren, die im Europäischen Wirtschaftsraum unter der Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung in den Verkehr gebracht worden sind, nicht untersagen kann, außer wenn berechtigte Gründe es rechtfertigen, dass der Inhaber sich dem weiteren Vertrieb der Waren widersetzt.“

 

9          Art. 9 dieser Verordnung („Rechte aus der Unionsmarke“) sieht vor:

„(1) Mit der Eintragung einer Unionsmarke erwirbt ihr Inhaber ein ausschließliches Recht an ihr.

(2) Der Inhaber dieser Unionsmarke hat unbeschadet der von Inhabern vor dem Zeitpunkt der Anmeldung oder dem Prioritätstag der Unionsmarke erworbenen Rechte das Recht, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr ein Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, wenn

a) das Zeichen mit der Unionsmarke identisch ist und für Waren oder Dienstleistungen benutzt wird, die mit denjenigen identisch sind, für die die Unionsmarke eingetragen ist;

(3) Sind die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt, so kann insbesondere verboten werden,

b) unter dem Zeichen Waren anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen oder unter dem Zeichen Dienstleistungen anzubieten oder zu erbringen;

c) Waren unter dem Zeichen einzuführen oder auszuführen;

…“

 

10        Art. 15 dieser Verordnung („Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke“) bestimmt:

„(1) Eine Unionsmarke gewährt ihrem Inhaber nicht das Recht, die Benutzung der Marke für Waren zu untersagen, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung im Europäischen Wirtschaftsraum in den Verkehr gebracht worden sind.

(2) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn berechtigte Gründe es rechtfertigen, dass der Inhaber sich dem weiteren Vertrieb der Waren widersetzt, insbesondere wenn der Zustand der Waren nach ihrem Inverkehrbringen verändert oder verschlechtert ist.“

 

Richtlinie 2004/48/EG

11        Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt in ABl. 2004, L 195, S. 16) lautet:

„Diese Richtlinie betrifft die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen. Im Sinne dieser Richtlinie umfasst der Begriff ‚Rechte des geistigen Eigentums‘ auch die gewerblichen Schutzrechte.“

 

12        Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Unbeschadet etwaiger Instrumente in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten, die für die Rechtsinhaber günstiger sind, finden die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Artikel 3 auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im Gemeinschaftsrecht und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung.“

 

13        Kapitel II dieser Richtlinie („Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe“) enthält u. a. deren Art. 3 („Allgemeine Verpflichtung“), der in Abs. 2 bestimmt:

„Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen darüber hinaus wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist.“

 

14        Art. 6 („Beweise“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte auf Antrag einer Partei, die alle vernünftigerweise verfügbaren Beweismittel zur hinreichenden Begründung ihrer Ansprüche vorgelegt und die in der Verfügungsgewalt der gegnerischen Partei befindlichen Beweismittel zur Begründung ihrer Ansprüche bezeichnet hat, die Vorlage dieser Beweismittel durch die gegnerische Partei anordnen können, sofern der Schutz vertraulicher Informationen gewährleistet wird. Für die Zwecke dieses Absatzes können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine angemessen große Auswahl aus einer erheblichen Anzahl von Kopien eines Werks oder eines anderen geschützten Gegenstands von den zuständigen Gerichten als glaubhafter Nachweis angesehen wird.“

 

Polnisches Recht

15        Art. 325 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilprozessordnung) lautet:

„Der Tenor des Urteils enthält die Bezeichnung des Gerichts, die Namen der Richter, des Protokollführers und, wenn er sich an der Rechtssache beteiligt hat, des Staatsanwalts, den Termin und den Ort der mündlichen Verhandlung und der Verkündung des Urteils, den Namen der Parteien und den Gegenstand der Rechtssache sowie die Entscheidung des Gerichts über die Anträge der Parteien.“

 

16        Art. 758 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„Die [Sądy Rejonowe (Rayongerichte, Polen)] und die diesen Gerichten zugeordneten Gerichtsvollzieher sind für die Zwangsvollstreckung zuständig.“

 

17        Art. 767 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„§ 1.     Sofern im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, kann gegen die Handlungen des Gerichtsvollziehers beim Rayongericht Erinnerung eingelegt werden. Das gilt auch für die Unterlassung einer Handlung durch den Gerichtsvollzieher. Die Erinnerung wird von dem Gericht geprüft, in dessen Bezirk der Gerichtsvollzieher seinen Amtssitz hat.

§ 2.      Die Erinnerung kann von einer Partei oder einer anderen Person eingelegt werden, deren Rechte durch die Handlung oder Unterlassung des Gerichtsvollziehers verletzt oder gefährdet worden sind.

…“

 

18        In Art. 840 § 1 der Zivilprozessordnung heißt es:

„Der Schuldner kann im Wege der Klage die vollständige oder teilweise Aufhebung oder die Beschränkung der Vollstreckbarkeit des Vollstreckungstitels beantragen, wenn

1) er die Umstände bestreitet, auf die die Erteilung der Vollstreckungsklausel gestützt wurde, insbesondere wenn er das Bestehen einer Verbindlichkeit in Abrede stellt, die mit einem einfachen Vollstreckungstitel festgestellt wurde, bei dem es sich nicht um eine gerichtliche Entscheidung handelt, oder wenn er die Übertragung einer Verbindlichkeit bestreitet, obwohl die Übertragung durch eine förmliche Urkunde bestätigt wird;

2) nach dem Erlass eines Vollstreckungstitels ein Umstand eingetreten ist, der zum Erlöschen der Verbindlichkeit oder dazu geführt hat, dass sie nicht vollstreckt werden kann; handelt es sich bei dem Titel um eine gerichtliche Entscheidung, kann der Schuldner seine Klage auch auf Umstände, die nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingetreten sind, auf die Einwendung der Erbringung der Leistung, wenn die Geltendmachung dieser Einwendung in der betreffenden Rechtssache von Gesetzes wegen unzulässig war, sowie auf die Einwendung der Aufrechnung stützen.

…“

 

19        Art. 843 § 3 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„In der Klageschrift hat der Kläger alle Einwendungen darzulegen, die in diesem Stadium vorgebracht werden können; andernfalls verliert er das Recht, sich im weiteren Verfahren auf sie zu berufen.“

 

20        Art. 1050 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„§ 1.     Hat der Schuldner eine Handlung vorzunehmen, die nicht von einer anderen Person an seiner Stelle vorgenommen werden kann und deren Vornahme ausschließlich von seinem Willen abhängt, so setzt das Gericht, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist, auf Antrag des Gläubigers und nach Anhörung der Parteien dem Schuldner eine Frist zur Vornahme der Handlung, unter Androhung eines Zwangsgelds für den Fall, dass er sie nicht innerhalb der gesetzten Frist vornimmt.

§ 3.      Ist die dem Schuldner gesetzte Frist für die Vornahme einer Handlung abgelaufen, ohne dass der Schuldner sie vorgenommen hat, verhängt das Gericht auf Antrag des Gläubigers ein Zwangsgeld gegen den Schuldner und setzt gleichzeitig eine neue Frist für die Vornahme der Handlung unter Androhung eines erhöhten Zwangsgelds fest.“

 

21        Art. 1051 § 1 der Zivilprozessordnung lautet:

„Ist der Schuldner verpflichtet, eine bestimmte Handlung zu unterlassen oder Handlungen des Gläubigers nicht zu behindern, so hat das Gericht, in dessen Bezirk der Schuldner seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, den Schuldner auf Antrag des Gläubigers zur Zahlung eines Zwangsgelds zu verurteilen, nachdem es die Parteien angehört und festgestellt hat, dass der Schuldner seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist. Das Gericht geht in gleicher Weise vor, wenn der Gläubiger einen neuen Antrag stellt.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

22        Hewlett Packard ist Inhaberin ausschließlicher Rechte an der Unionswortmarke und an der Unionsbildmarke HP, die unter den Nummern 000052449 und 008579021 eingetragen sind.

 

23        Sie vertreibt Computerhardware, die mit diesen Marken versehen ist, über autorisierte Vertreter, die sich verpflichten, die Hardware nicht an Personen – ausgenommen Endverbraucher – zu verkaufen, die nicht zum Vertriebsnetz der Klägerin gehören. Diese autorisierten Vertreter sind zudem gehalten, diese Waren nur von anderen autorisierten Vertretern oder von Hewlett Packard selbst zu erwerben.

 

24        Jeder Artikel ist mit einer Seriennummer versehen, die es erlaubt, ihn zu identifizieren. Hewlett Packard verfügt über ein IT‑Tool, das u. a. eine Datenbank umfasst, die eine Auflistung aller Artikel sowie den Markt, für den sie bestimmt sind, enthält. Diese Artikel sind hingegen mit keinem Kennzeichnungssystem versehen, das selbst die Feststellung ermöglichen würde, ob ein Artikel für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bestimmt ist.

 

25        Senetic ist im Vertrieb von Computerhardware tätig. Sie führte Waren in Polen ein, die mit Unionsmarken versehen waren, deren Inhaberin Hewlett Packard ist. Diese Waren erwarb sie von im EWR ansässigen Verkäufern, die keine offiziellen Vertragshändler der Waren von Hewlett Packard waren, nachdem sie von diesen Verkäufern die Zusicherung erhalten hatte, dass der Vertrieb der Waren im EWR die ausschließlichen Rechte von Hewlett Packard nicht verletze. Senetic forderte hingegen vergeblich von autorisierten Vertretern von Hewlett Packard eine Bestätigung ein, dass diese Waren im EWR ohne Beeinträchtigung der ausschließlichen Rechte von Hewlett Packard in Verkehr gebracht werden können.

 

26        Hewlett Packard erhob bei den polnischen Gerichten Klage auf Unterlassung der Verletzung ihrer Rechte aus den Unionsmarken, deren Inhaberin sie ist, indem es Senetic generell verboten werden sollte, Computerhardware, auf der diese Marken angebracht sind und die nicht bereits durch sie oder mit ihrer Zustimmung im EWR in Verkehr gebracht wurden, weiter einzuführen, auszuführen, zu bewerben oder zu lagern. Ferner beantragte Hewlett Packard, Senetic zu verpflichten, diese Waren vom Markt zu nehmen.

 

27        Zu ihrer Verteidigung beruft sich Senetic auf die Erschöpfung der Rechte aus den betreffenden Unionsmarken, indem sie geltend macht, dass die betreffenden Waren zuvor von Hewlett Packard oder mit ihrer Zustimmung im EWR in Verkehr gebracht worden seien.

 

28        Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), das vorlegende Gericht, weist darauf hin, dass es aufgrund des fehlenden Kennzeichnungssystems für die Waren von Hewlett Packard einem unabhängigen Händler faktisch erheblich erschwert werde, für jede einzelne mit den betreffenden Unionsmarken versehene Ware den Markt zu ermitteln, für den sie bestimmt sei, geschweige denn, den Nachweis zu erbringen, dass diese Waren durch die Inhaberin dieser Marken oder mit ihrer Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden seien.

 

29        Nach Ansicht dieses Gerichts könnte sich Senetic theoretisch an ihre Lieferanten wenden, um Informationen über die Identität der in der Vertriebskette vorgelagerten Wirtschaftsteilnehmer zu erhalten. Wie jedoch der Gerichtshof in seinem Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q (C‑244/00, EU:C:2003:204), anerkannt habe, sei es unwahrscheinlich, dass Senetic diese Art von Informationen erhalte, da die Lieferanten im Allgemeinen nicht bereit seien, ihre Bezugsquellen offenzulegen.

 

30        Das vorlegende Gericht führt als Erstes aus, dass die polnischen Gerichte die Praxis verfolgten, sich im Tenor ihrer Entscheidungen, mit denen einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben werde, auf „Waren, die nicht zuvor vom Kläger (Inhaber der [Unionsmarke]) oder mit seiner Zustimmung im [EWR] in den Verkehr gebracht wurden“, zu beziehen. Diese Formulierung erlaube es im Stadium des Zwangsvollstreckungsverfahrens nicht, die Waren, auf die sich dieses Verfahren beziehe, zu bestimmen und diese von den Waren abzugrenzen, die unter die Ausnahme der Erschöpfung des Rechts aus der fraglichen Marke fielen. Somit lege der Tenor dieser Entscheidungen den Parteien, an die sie gerichtet seien, in Wirklichkeit keine andere Verpflichtung auf als die, die sich bereits aus den Bestimmungen des Gesetzes ergebe.

 

31        Aufgrund dieser gerichtlichen Praxis sei der Beklagte eines Verletzungsverfahrens nicht in der Lage, einer die Verletzung feststellenden Entscheidung freiwillig nachzukommen und setze sich dem Risiko aus, eine Sanktion nach den Art. 1050 und 1051 der Zivilprozessordnung auferlegt zu bekommen. Außerdem führe diese Praxis meistens zur Beschlagnahme aller Waren einschließlich derjenigen, die ohne jede Verletzung eines Rechts aus einer Unionsmarke vertrieben würden.

 

32        Ferner stoße der Beklagte eines Verletzungsverfahrens, wie sich u. a. aus den Art. 767, 840 und 843 der Zivilprozessordnung ergebe, im Rahmen von Sicherungs- und Zwangsvollstreckungsverfahren auf mehrere rechtliche Hindernisse, wenn es darum gehe, sich den in diesem Rahmen angeordneten Maßnahmen mit Erfolg widersetzen zu können, und verfüge nur über begrenzte Verfahrensgarantien.

 

33        Erstens sei nach Art. 767 der Zivilprozessordnung in seiner Auslegung durch die polnischen Gerichte eine Erinnerung gegen eine Handlung eines Gerichtsvollziehers nur möglich, wenn der Gerichtsvollzieher die für das Zwangsvollstreckungsverfahren geltenden Verfahrensvorschriften nicht eingehalten habe. Mit einer solchen Erinnerung lasse sich daher nicht feststellen, ob eine mit einer Unionsmarke versehene Ware vom Inhaber der betreffenden Marke oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden sei.

 

34        Zweitens verfüge der Beklagte eines Verletzungsverfahrens nicht über die Möglichkeit, auf der Grundlage von Art. 840 der Zivilprozessordnung eine Vollstreckungsabwehrklage zu erheben, soweit eine derartige Klage nicht dazu dienen könne, den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung zu klären, die den Vollstreckungstitel darstelle.

 

35        Drittens könne nach einer in der polnischen Lehre vorherrschenden Auffassung das für die Zwangsvollstreckung zuständige Gericht zwar die Parteien anhören, aber auf der Grundlage von Art. 1051 der Zivilprozessordnung nur anhand der sich aus der Anhörung der Parteien ergebenden Erkenntnisse feststellen, ob der Beklagte des Verletzungsverfahrens im Einklang mit dem Inhalt des Vollstreckungstitels gehandelt habe, ohne eine Beweiserhebung vornehmen zu können.

 

36        Viertens müsse der Schuldner nach Art. 843 § 3 der Zivilprozessordnung, wenn er im Vollstreckungsverfahren eine Klage erhebe, alle Einwendungen darlegen, die er vorbringen könne; andernfalls verliere er das Recht, sich im weiteren Verfahren auf sie zu berufen.

 

37        Daher bestehe, so das vorlegende Gericht, die Gefahr, dass der effektive gerichtliche Schutz im Bereich des freien Warenverkehrs durch die polnische Gerichtspraxis hinsichtlich der Formulierung des Tenors der Entscheidungen, mit denen die Verletzung festgestellt werde, beschränkt werde.

 

38        Als Zweites stellt das vorlegende Gericht fest, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Schutz von ausschließlichen Rechten im Bereich des geistigen Eigentums nicht absolut sei. Zum einen beschränke er sich nämlich auf eine Situation, in der die Benutzung einer Marke durch eine andere Person als den Markeninhaber die Funktionen dieser Marke verletze. Zum anderen setze die Ausübung ausschließlicher Rechte voraus, dass ein Gleichgewicht zwischen diesen Rechten und dem Schutz der Freiheiten des Binnenmarkts, zu denen u. a. der freie Warenverkehr zähle, gefunden werde.

 

39        Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage nach der Möglichkeit, unter den tatsächlichen Umständen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die vom Gerichtshof im Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q (C‑244/00, EU:C:2003:204), vorgenommene Beweislastumkehr anzuwenden oder sogar das Recht der Markeninhaberin auszuschließen, sich auf den durch Art. 9 und Art. 102 der Verordnung Nr. 207/2009, jetzt Art. 9 und Art. 130 der Verordnung 2017/1001, gewährten Schutz zu berufen.

 

40        Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.         Ist Art. 36 Satz 2 AEUV in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 und mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass er einer Praxis der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten entgegensteht, nach der die Gerichte:

–            bei der Prüfung von Ansprüchen eines Unionsmarkeninhabers auf Untersagung der Einfuhr, der Ausfuhr und der Bewerbung von Waren unter einer Unionsmarke bzw. auf Anordnung der Rücknahme solcher Waren vom Markt,

–            bei der Entscheidung im Sicherungsverfahren über die Pfändung von Waren unter Unionsmarken,

in ihren Entscheidungen auf „Gegenstände, die nicht vom Inhaber einer Unionsmarke bzw. mit dessen Zustimmung im EWR in Verkehr gebracht worden sind“, abstellen und hierdurch die Bestimmung der Gegenstände unter einer Unionsmarke, die von diesen urteilsgegenständlichen Ge- und Verboten betroffen sind (d. h. die Bestimmung, welche Gegenstände nicht vom Markeninhaber bzw. mit seiner Zustimmung im EWR in Verkehr gebracht wurden), angesichts der allgemeinen Formulierung der Entscheidung dem Vollstreckungsorgan überlassen wird, das sich bei der Vollstreckung der Entscheidung auf die Erklärungen des Markeninhabers bzw. auf die von ihm zur Verfügung gestellten Instrumente (darunter IT‑Tools und Datenbanken) stützt, während die Zulässigkeit der Anfechtung von solchen Entscheidungen der Vollstreckungsbehörde vor dem erkennenden Gericht aufgrund der Natur der dem Beklagten im Sicherungs- bzw. Vollstreckungsverfahren zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausgeschlossen bzw. beschränkt ist?

2.         Sind die Bestimmungen der Art. 34, 35 und 36 AEUV dahin auszulegen, dass sie für den Inhaber einer Gemeinschaftsmarke (jetzt Unionsmarke) die Möglichkeit ausschließen, sich auf den Schutz der Art. 9 und 102 der Verordnung Nr. 207/2009 (jetzt Art. 9 und 130 der Verordnung 2017/1001) zu berufen, wenn:

–            der Inhaber der Gemeinschaftsmarke (Unionsmarke) Waren, die mit der Marke gekennzeichnet sind, innerhalb und außerhalb des EWR über autorisierte Händler vertreibt, die die mit der Marke gekennzeichneten Waren an andere als Endverbraucher dieser Waren ausschließlich innerhalb des offiziellen Vertriebsnetzes weiterverkaufen dürfen und gleichzeitig verpflichtet sind, die Waren ausschließlich von anderen autorisierten Händlern oder vom Markeninhaber zu beziehen,

–            die mit der Unionsmarke versehenen Waren keine Kennzeichen oder anderen Unterscheidungsmerkmale aufweisen, die es ermöglichen würden, den Ort ihres Inverkehrbringens durch den Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung erkennen zu lassen,

–            der Beklagte Waren unter der Unionsmarke im EWR erworben hat,

–            Verkäufer der mit der Marke gekennzeichneten Waren dem Beklagten gegenüber eine Erklärung abgegeben haben, dass diese Waren im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften im EWR vertrieben werden dürfen,

–            der Inhaber der Unionsmarke kein IT‑Tool (oder ein anderes Hilfsmittel) oder Kennzeichnungssystem zur Verfügung stellt, das es einem potenziellen Käufer von mit der Marke gekennzeichneten Waren ermöglicht, sich vor dem Kauf selbständig davon zu überzeugen, dass die Waren rechtmäßig im EWR in Verkehr gebracht werden, und sich weigert, eine solche Überprüfung auf Verlangen des Käufers vorzunehmen?

 

Verfahren vor dem Gerichtshof

41        Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 29. November 2021 ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache bis zur Verkündung des Urteils vom 17. November 2022, Harman International Industries (C‑175/21, EU:C:2022:895), ausgesetzt worden.

 

42        Nach einer Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. November 2022 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht dieses Urteil zugestellt und es gefragt, ob es in Anbetracht dieses Urteils das Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle, insbesondere was die erste Vorlagefrage anbelange. In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 36 Satz 2 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsprechungspraxis nicht entgegensteht, nach der der Tenor der Entscheidung, mit der einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, so allgemein formuliert wird, dass es der für die Vollstreckung dieser Entscheidung zuständigen Behörde überlassen bleibt, zu bestimmen, auf welche Waren diese Entscheidung Anwendung findet, sofern der Beklagte im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens die Bestimmung der von diesem Verfahren erfassten Waren anfechten kann und ein Gericht unter Beachtung der Bestimmungen der Richtlinie 2004/48 prüfen und entscheiden kann, welche Waren vom Inhaber der Marke oder mit seiner Zustimmung tatsächlich im EWR in den Verkehr gebracht wurden.

 

43        Mit Schreiben vom 3. Februar 2023, das der Kanzlei des Gerichtshofs am gleichen Tag zugegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es seine erste Frage zurückziehe, die zweite Frage aber aufrechterhalte.

 

Zur Vorlagefrage

44        Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Der Gerichtshof kann auch veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Impexeco und PI Pharma, C‑253/20 und C‑254/20, EU:C:2022:894, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

45        Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage um die Auslegung der Art. 34, 35 und 36 AEUV, um in Erfahrung zu bringen, ob diese Bestimmungen dem entgegenstehen, dass sich der Inhaber einer Unionsmarke unter bestimmten, von ihm aufgezeigten Umständen auf den durch Art. 9 der Verordnung Nr. 207/2009 oder Art. 9 der Verordnung 2017/1001 gewährten Schutz berufen kann.

 

46        Hierzu ist jedoch festzustellen, dass Art. 13 der Verordnung Nr. 207/2009 und Art. 15 der Verordnung 2017/1001 die Frage der Erschöpfung des Rechts aus der Marke hinsichtlich der Waren, die in der Union oder im EWR in den Verkehr gebracht worden sind, abschließend regeln.

 

47        Wie aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils hervorgeht, fragt sich das vorlegende Gericht zudem insbesondere, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Beweislast für die Erschöpfung der Rechte aus den betreffenden Unionsmarken ausschließlich den Beklagten des Verletzungsverfahrens treffen kann.

 

48        Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit den Art. 34 und 36 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Beweislast für die Erschöpfung des Rechts aus einer Unionsmarke ausschließlich den Beklagten eines Verletzungsverfahrens trifft, wenn die mit dieser Marke versehenen Waren, die keine Kennzeichen aufweisen, die es Dritten ermöglichen würden, den Markt zu bestimmen, auf dem sie vertrieben werden sollen und die über ein selektives Vertriebsnetz verteilt werden, dessen Mitglieder die Waren nur an andere Mitglieder dieses Netzes oder an Endverbraucher weiterverkaufen dürfen, von diesem Beklagten in der Union oder im EWR erworben wurden, nachdem er von den Verkäufern die Zusicherung erhalten hatte, dass die Waren im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften dort vertrieben werden dürfen, und der Inhaber der Marke sich weigert, selbst eine solche Überprüfung auf Verlangen des Käufers vorzunehmen.

 

49        Art. 9 der Verordnung Nr. 207/2009, jetzt Art. 9 der Verordnung 2017/1001, gewährt dem Inhaber einer Unionsmarke ein ausschließliches Recht, das es ihm u. a. gestattet, Dritten zu verbieten, mit seiner Marke versehene Waren ohne seine Zustimmung einzuführen, anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen (Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

50        Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009, jetzt Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001, sieht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, indem er bestimmt, dass Erschöpfung des Rechts des Markeninhabers eintritt, wenn die Waren von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in der Union oder im EWR in den Verkehr gebracht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Bestimmung soll die grundlegenden Belange des Schutzes der Rechte aus dieser Marke mit denen des freien Warenverkehrs in der Union oder im EWR in Einklang bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

51        Um einen angemessenen Ausgleich zwischen diesen grundlegenden Belangen zu gewährleisten, ist die Möglichkeit, die Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke als Ausnahme von diesem Recht geltend zu machen, in mehrfacher Hinsicht begrenzt (Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 41).

 

52        Insbesondere ist in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 der Grundsatz der Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke nur für vom Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung auf dem Unionsmarkt oder dem EWR-Markt in den Verkehr gebrachte Waren verankert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

53        Daraus folgt, dass das Inverkehrbringen von mit dieser Marke versehenen Waren außerhalb der Union oder außerhalb des EWR nicht das Recht des Inhabers erschöpft, sich u. a. der Einfuhr und des Inverkehrbringens dieser Waren auf dem Unionsmarkt oder dem EWR-Markt, die ohne seine Zustimmung erfolgen, zu widersetzen, so dass es dem Markeninhaber gestattet ist, das erste Inverkehrbringen der mit der Marke versehenen Waren in der Union oder im EWR zu kontrollieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

54        Damit wird das Recht aus dieser Marke nur für diejenigen Exemplare eines bestimmten Produkts erschöpft, die mit Zustimmung des Markeninhabers auf dem Gebiet der Union oder des EWR in den Verkehr gebracht wurden. Insoweit genügt es nicht, dass der Markeninhaber in der Union oder im EWR bereits andere Exemplare der gleichen Ware oder Waren vertrieben hat, die den eingeführten Waren, für die die Erschöpfung geltend gemacht wird, ähneln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

55        Hinsichtlich der Frage, welche Partei die Beweislast für die Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke trifft, ist zum einen festzustellen, dass diese Frage weder in Art. 13 der Verordnung Nr. 207/2009 noch in Art. 15 der Verordnung 2017/1001 noch in einer anderen Bestimmung dieser beiden Verordnungen geregelt ist.

 

56        Zum anderen werden die verfahrensrechtlichen Aspekte der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums einschließlich des in Art. 9 der Verordnung Nr. 207/2009, jetzt Art. 9 der Verordnung 2017/1001, vorgesehenen ausschließlichen Rechts zwar grundsätzlich durch das nationale Recht geregelt, wie es durch die Richtlinie 2004/48 harmonisiert wurde, die, wie insbesondere aus ihren Art. 1 bis 3 hervorgeht, die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe betrifft, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 56), doch ist festzustellen, dass diese Richtlinie, insbesondere ihre Art. 6 und 7 in Kapitel II Abschnitt 2 („Beweise“), die Frage der Beweislast für die Erschöpfung des Rechts aus der Marke nicht regelt.

 

57        Der Gerichtshof hat jedoch wiederholt entschieden, dass einem Wirtschaftsteilnehmer, der Waren besitzt, die vom Inhaber einer Unionsmarke oder mit dessen Zustimmung unter dieser Marke im EWR in den Verkehr gebracht wurden, Rechte aus dem mit den Art. 34 und 36 AEUV gewährleisteten freien Warenverkehr und aus Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 zustehen, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

58        Auch wenn der Gerichtshof in dieser Hinsicht entschieden hat, dass eine Regel des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats, nach der die Erschöpfung des Rechts aus einer Marke eine Einwendung darstellt, so dass die Beweislast den Beklagten trifft, der diese Einwendung geltend macht, grundsätzlich mit dem Unionsrecht vereinbar ist, hat er gleichwohl klargestellt, dass die Erfordernisse des Schutzes des freien Warenverkehrs eine Modifizierung dieser Beweisregel gebieten können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q, C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 35 bis 37).

 

59        Die nationalen Modalitäten der Beweiserhebung und Beweiswürdigung hinsichtlich der Erschöpfung des Rechts aus einer Marke müssen somit den Erfordernissen des Grundsatzes des freien Warenverkehrs gerecht werden und sind daher zu modifizieren, wenn sie es dem Inhaber dieser Marke ermöglichen könnten, die nationalen Märkte abzuschotten und damit den Fortbestand von bestehenden Preisunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Harman International Industries, C‑175/21, EU:C:2022:895, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

60        Folglich ist es Sache des angerufenen nationalen Gerichts, eine Modifizierung der Beweislastverteilung für die Erschöpfung des Rechts aus einer Marke vorzunehmen, wenn der Beklagte eines Verletzungsverfahrens in Fällen, in denen er selbst die Beweislast für das Inverkehrbringen der Waren in der Union oder im EWR durch den Markeninhaber oder mit dessen Zustimmung tragen müsste, nachweisen kann, dass eine tatsächliche Gefahr der Abschottung der nationalen Märkte besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q, C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 39).

 

61        Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass die Inhaberin der betreffenden Unionsmarken ein selektives Vertriebsnetz betreibt, in dessen Rahmen die mit diesen Marken versehenen Waren keine Kennzeichen aufweisen, die es Dritten ermöglichen würden, den Markt zu bestimmen, auf dem sie vertrieben werden sollen, dass die Markeninhaberin die Preisgabe dieser Information an Dritte ablehnt und dass die Lieferanten der Beklagten nicht dazu geneigt sind, ihre eigenen Bezugsquellen offenzulegen.

 

62        In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich in einem solchen Vertriebssystem der Lieferant üblicherweise verpflichtet, die vertraglichen Waren oder Dienstleistungen mittelbar oder unmittelbar nur an Händler zu verkaufen, die auf der Grundlage von festgelegten Kriterien ausgewählt worden sind, und diese Händler sich verpflichten, die Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die in dem Gebiet, auf das der Lieferant die Durchführung dieses Vertriebssystems begrenzt hat, nicht autorisiert sind.

 

63        Unter solchen Umständen dem Beklagten des Verletzungsverfahrens die Beweislast für den Ort aufzuerlegen, an dem die mit der Marke versehenen Waren, die er vertreibt, vom Inhaber dieser Marke oder mit seiner Zustimmung zum ersten Mal in den Verkehr gebracht wurden, könnte es dem Markeninhaber ermöglichen, Parallelimporten von mit dieser Marke versehenen Waren entgegenzuwirken, obwohl die Beschränkung des freien Warenverkehrs, die daraus folgen würde, nicht durch den Schutz des Rechts aus dieser Marke gerechtfertigt wäre.

 

64        Der Beklagte des Verletzungsverfahrens hätte nämlich aufgrund der nachvollziehbaren Vorbehalte seiner Lieferanten, ihre Bezugsquellen innerhalb des Vertriebsnetzes des Inhabers der betreffenden Unionsmarken offenzulegen, erhebliche Schwierigkeiten, einen solchen Beweis zu erbringen.

 

65        Selbst wenn dem Beklagten des Verletzungsverfahrens der Nachweis gelänge, dass die mit den betreffenden Unionsmarken versehenen Waren aus dem selektiven Vertriebsnetz des Inhabers dieser Marken in der Union oder im EWR stammen, könnte dieser Markeninhaber darüber hinaus für die Zukunft jede weitere Bezugsmöglichkeit bei dem Mitglied seines Vertriebsnetzes, das gegen seine vertraglichen Pflichten verstoßen hat, unterbinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q, C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 40).

 

66        Folglich wird es unter Umständen, wie sie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils aufgezeigt werden, Sache des angerufenen nationalen Gerichts sein, eine Modifizierung der Beweislastverteilung für die Erschöpfung des Rechts aus den betreffenden Unionsmarken vorzunehmen, indem es dem Markeninhaber die Beweislast dafür auferlegt, dass er das erste Inverkehrbringen von Exemplaren der betreffenden Waren außerhalb des Gebiets der Union oder des EWR vorgenommen oder genehmigt hat. Gelingt dieser Nachweis, wird es dem Beklagten des Verletzungsverfahrens obliegen, nachzuweisen, dass dieselben Exemplare anschließend vom Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung in den EWR eingeführt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q, C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 

67        Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit den Art. 34 und 36 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Beweislast für die Erschöpfung des Rechts aus einer Unionsmarke ausschließlich den Beklagten eines Verletzungsverfahrens trifft, wenn die mit dieser Marke versehenen Waren, die keine Kennzeichen aufweisen, die es Dritten ermöglichen würden, den Markt zu bestimmen, auf dem sie vertrieben werden sollen und die über ein selektives Vertriebsnetz verteilt werden, dessen Mitglieder die Waren nur an andere Mitglieder dieses Netzes oder an Endverbraucher weiterverkaufen dürfen, von diesem Beklagten in der Union oder im EWR erworben wurden, nachdem er von den Verkäufern die Zusicherung erhalten hatte, dass die Waren im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften dort vertrieben werden dürfen, und der Inhaber der Marke sich weigert, selbst eine solche Überprüfung auf Verlangen des Käufers vorzunehmen.

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