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Wirtschaftsrecht
18.09.2014
Wirtschaftsrecht
EuGH: Auslegung von Art. 45O GAW – Gruslin

EuGH, Urteil vom 11.9.2014 – Rs. C88/13

Tenor

Die in Art. 45 der Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) in der durch die Richtlinie Nr. 95/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 1995 geänderten Fassung vorgesehene Verpflichtung, nach der ein Organismus für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren, der seine Anteile in einem anderen als dem Mitgliedstaat vertreibt, in dem er ansässig ist, die Zahlungen an die Anteilinhaber im Mitgliedstaat des Vertriebs sicherstellen muss, ist dahin auszulegen, dass sie nicht die Aushändigung an Anteilinhaber von Zertifikaten über Anteile einschließt, die auf ihren Namen in das vom Emittenten geführte Verzeichnis der Anteilinhaber eingetragen sind.

Sachverhalt

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 der Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 375, S. 3) in der durch die Richtlinie 95/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 1995 (ABl. L 168, S. 7) geänderten Fassung (im Folgenden: OGAW-Richtlinie).

2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Gruslin und der Beobank SA, vormals Citibank Belgium SA (im Folgenden: Beobank), über die Aushändigung von auf den Namen lautenden Anteilsscheinen des Investmentfonds Citiportfolios (im Folgenden: Citiportfolios-Fonds).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Die OGAW-Richtlinie wurde mehrfach geändert, bevor sie durch die Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 302, S. 32), die eine Neufassung dieser Richtlinie vornahm, aufgehoben wurde. Es ist jedoch die OGAW-Richtlinie, die zu dem im Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt anwendbar war.

4 Die Erwägungsgründe 2 bis 5 der OGAW-Richtlinie in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung lauteten:

„Eine Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften betreffend die Organismen für gemeinsame Anlagen dürfte sich im Hinblick auf eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen zwischen diesen Organismen auf Gemeinschaftsebene als zweckmäßig erweisen, um so einen wirksameren und einheitlicheren Schutz der Anteilinhaber sicherzustellen. Eine derartige Koordinierung erscheint zweckmäßig, um den in einem Mitgliedstaat ansässigen Organismen für gemeinsame Anlagen den Vertrieb ihrer Anteile im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten zu erleichtern.

Die Verwirklichung dieser Ziele erleichtert die Beseitigung der Beschränkungen des freien Verkehrs für Anteile von Organismen für gemeinsame Anlagen auf Gemeinschaftsebene; die vorgesehene Koordinierung fördert die Schaffung eines europäischen Kapitalmarkts.

Im Hinblick auf die vorstehend genannten Ziele ist es wünschenswert, gemeinsame Mindestregelungen bezüglich der Zulassung, der Aufsicht, der Struktur, der Geschäftstätigkeit sowie der Informationspflichten für die Organismen für gemeinsame Anlagen in den Mitgliedstaaten einzuführen.

Vorbehaltlich der Regelungen für den Kapitalverkehr bietet die Anwendung dieser gemeinsamen Vorschriften eine ausreichende Garantie für die in einem Mitgliedstaat ansässigen Organismen für gemeinsame Anlagen, ihre Anteile in den anderen Mitgliedstaaten zu vertreiben, ohne dass diese anderen Mitgliedstaaten diese Organismen oder ihre Anteile Vorschriften gleich welcher Art mit Ausnahme solcher Bestimmungen unterwerfen dürfen, die in diesen Staaten nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. Vertreibt ein Organismus für gemeinsame Anlagen jedoch seine Anteilscheine in einem anderen als dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, so muss er dort alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, damit die Anteilinhaber in diesem anderen Mitgliedstaat ihre finanziellen Rechte geltend machen und die erforderlichen Informationen erhalten können“.

5 Art. 1 Abs. 6 der OGAW-Richtlinie bestimmte:

 „Unbeschadet der Vorschriften auf dem Gebiet des Kapitalverkehrs sowie der Art. 44 und 45 und des Art. 52 Abs. 2 darf ein Mitgliedstaat weder die [Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW)], die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, noch die von ihnen begebenen Anteile anderen Bestimmungen unterwerfen als den in der Richtlinie vorgesehenen, wenn diese OGAW ihre Anteile in seinem Gebiet vertreiben.“

6 In Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie hieß es:

„Ein OGAW bedarf zur Ausübung seiner Geschäftstätigkeit der Zulassung durch die Stellen des Mitgliedstaats, in dem der OGAW ansässig ist …

Diese Zulassung gilt für sämtliche Mitgliedstaaten.“

7 Art. 44 Abs. 1 in Abschnitt VIII („Sondervorschriften für OGAW, die ihre Anteile in anderen Mitgliedstaaten als dem Mitgliedstaat vertreiben, in dem sie ansässig sind“) der Richtlinie sah vor:

„Ein OGAW, der seine Anteile in einem anderen Mitgliedstaat vertreibt, hat die in diesem Staat geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu beachten, die den nicht von dieser Richtlinie geregelten Bereich betreffen.“

8 Art. 45 der Richtlinie lautete:

„In dem in Art. 44 bezeichneten Fall muss der OGAW unter Einhaltung der in dem Mitgliedstaat des Vertriebs geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften unter anderem die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die Anteilinhaber in diesem Staat in den Genuss der Zahlungen, des Rückkaufs und der Rücknahme der Anteile kommen und die vom OGAW zu liefernden Informationen erhalten.“

9 Nr. 1.10 („Informationen über den Investmentfonds“) in Spalte 1 des Schemas A im Anhang der Richtlinie sah vor:

„Angabe der Art und der Hauptmerkmale der Anteile, insbesondere:

– Art des Rechts (dingliches, Forderungs- oder anderes Recht), das der Anteil repräsentiert

– Original-Urkunden oder Zertifikate über diese Urkunden, Eintragung in einem Register oder auf einem Konto

– Merkmale der Anteile: Namens- oder Inhaberpapiere …

…“

Belgisches Recht

10 Art. 138 Abs. 2 der loi du 4 décembre 1990 relative aux opérations financières et aux marchés financiers (Gesetz vom 4. Dezember 1990 über Finanztransaktionen und Finanzmärkte, Moniteur belge vom 22. Dezember 1990, S. 23800, im Folgenden: Gesetz vom 4. Dezember 1990) bestimmte in seiner für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung:

„Der Anlageorganismus nach Abs. 1 hat einen Organismus nach Art. 3 Nr. 1 oder 2 zu benennen, um die Ausschüttungen an die Anteilinhaber, den Verkauf oder Rückkauf von Anteilen und die Verbreitung … der vom Anlageorganismus zu liefernden Informationen sicherzustellen.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11 Aus der Vorlageentscheidung und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht hervor, dass es sich bei dem Citiportfolios-Fonds um einen Investmentfonds luxemburgischen Rechts handelt, der von Citiportfolios, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts, verwaltet wird und dessen Depotbank Citibank Luxembourg, ebenfalls eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts, ist.

12 Der Prospekt des Citiportfolios-Fonds wurde in Belgien von Beobank in ihrer Eigenschaft als des von Citiportfolios gemäß Art. 138 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. Dezember 1990 benannten Organismus vertrieben.

13 Herr Gruslin, ein in Belgien wohnhafter belgischer Staatsangehöriger, investierte zwischen dem 12. und dem 24. Januar 1996 in den Citiportfolios-Fonds, wobei er direkt bei Citibank Luxembourg Anteile zeichnete. Beobank wurde weder als Zeichnungsstelle tätig, noch erhielt sie eine Kommission in dieser Eigenschaft.

14 Am 9. September 1996 beendete Citibank Luxembourg all ihre Konten- und Geschäftsbeziehungen mit Herrn Gruslin mit Wirkung vom 17. September 1996 und forderte ihn auf, bis dahin sämtliche noch auf seinen Konten befindlichen Gelder und Wertpapiere abzuziehen. Er wurde darauf hingewiesen, dass, falls er keine Weisungen hinsichtlich der für die Realisierung seiner Anteile am Citiportfolios-Fonds vorzunehmenden Transaktionen erteilen sollte, diese Anteile unter seinem Namen in das vom Emittenten geführte Verzeichnis der Anteilinhaber eingetragen würden. Am 14. Oktober 1996 nahm Citibank Luxembourg, die keine Weisungen von Herrn Gruslin erhalten hatte, diese Eintragung vor.

15 Im Dezember 1996 schrieb Herr Gruslin an Beobank, um die Aushändigung der Zertifikate über die Anteile zu erlangen, die unter seinem Namen in das Anteilsinhaberverzeichnis des Citiportfolios-Fonds eingetragen worden waren. Beobank antwortete, dass sich die Anteile nicht in der bei ihr auf den Namen von Herrn Gruslin angelegten Akte befänden, da sie unmittelbar bei Citibank Luxembourg gekauft worden seien. Beobank teilte ihm mit, dass sie die Akte zur Weiterbehandlung an Citibank Luxembourg übermitteln werde.

16 Am 14. Januar 2008 leitete Herr Gruslin ein Verfahren vor dem Tribunal de commerce de Bruxelles (Handelsgericht Brüssel) ein und beantragte, Beobank zu verurteilen, ihm die genannten Zertifikate auszuhändigen, damit er sein Eigentum an den gezeichneten Anteilen nachweisen könne. Nachdem er in diesem Verfahren erfolglos geblieben war, legte er gegen die Entscheidung dieses Gerichts Berufung ein, wobei er sich u. a. auf Art. 138 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. Dezember berief.

17 Mit Urteil vom 11. Januar 2011 wies die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) die Klage von Herrn Gruslin auf Aushändigung der in Rede stehenden Zertifikate als unbegründet ab. Dabei wies sie insbesondere darauf hin, dass sich der in Art. 138 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. Dezember 1990, der Art. 45 der OGAW-Richtlinie in belgisches Recht umsetze, verwendete Begriff „Ausschüttung“ nicht auf die Aushändigung von Zertifikaten über die Anteile beziehe, wie Herr Gruslin geltend mache, sondern auf die „Zahlung“ an die Anteilinhaber.

18 Herr Gruslin legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel ein, das er insbesondere darauf stützte, dass die Aushändigung von Zertifikaten nach Art. 138 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. Dezember 1990 zu den Aufgaben gehöre, die Beobank für den Citiportfolios-Fonds übertragen worden seien.

19 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 45 der OGAW-Richtlinie dahin auszulegen, dass der Begriff „Zahlungen an die Anteilinhaber“ auch die Aushändigung auf den Namen lautender Anteilscheine an die Anteilinhaber erfasst?

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

20 Mit Schreiben vom 6. März 2014, das am 10. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichtshof eingegangen ist, hat Herr Gruslin auf die am 13. Februar 2014 vorgetragenen Schlussanträge des Generalanwalts hin gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt und dafür im Wesentlichen vorgetragen, dass sich der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge auf einen neuen Rechtsgrundsatz bezogen habe, mit dem sich die Parteien in ihren Erklärungen nicht auseinandergesetzt hätten.

21 Erstens kann der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

22 Zweitens hat der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs seine Mitwirkung erforderlich ist. Hierbei kann er ein Vorabentscheidungsersuchen gegebenenfalls in einem weiteren Kontext prüfen als in den vom vorlegenden Gericht oder den Parteien des Ausgangsverfahrens genau vorgegebenen Grenzen. Da die Schlussanträge des Generalanwalts oder die ihnen zugrunde liegende Begründung den Gerichtshof nicht binden, ist eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht stets dann unerlässlich, wenn der Generalanwalt einen rechtlichen Gesichtspunkt aufwirft, der zwischen den Parteien nicht erörtert worden ist (Urteil Pohotovosť, C470/12, EU:C:2014:101, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23 In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über sämtliche Informationen verfügt, die er für die Beantwortung der vorgelegte Frage benötigt, und dass diese Informationen in den u. a. von Herrn Gruslin vor ihm abgegebenen Erklärungen erörtert worden sind.

24 Daher ist der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.

Zur Vorlagefrage

25 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 45 der OGAW-Richtlinie vorgesehene Verpflichtung, nach der ein OGAW, der seine Anteile in einem anderen als dem Mitgliedstaat vertreibt, in dem er ansässig ist, die Zahlungen an die Anteilinhaber im Mitgliedstaat des Vertriebs sicherstellen muss, dahin auszulegen ist, dass sie die Aushändigung an Anteilinhaber von Zertifikaten über Anteile einschließt, die auf ihren Namen in das vom Emittenten geführte Verzeichnis der Anteilinhaber eingetragen sind.

Aus den Gründen

26 Die Europäische Kommission bezweifelt die Zulässigkeit der Vorlagefrage im Wesentlichen deshalb, weil sich Herr Gruslin selbst nach Luxemburg begeben habe, um die Anteile unmittelbar bei Citibank Luxembourg zu zeichnen, wohingegen das mit der OGAW-Richtlinie verfolgte Ziel eher im Schutz der Anteilinhaber bestehe, die Anlagen unter Einschaltung eines Vermittlers aus einem anderen Mitgliedstaat tätigten als dem, in dem der OGAW ansässig ist. Diese Richtlinie finde daher nicht notwendigerweise auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung.

27 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Verfahren nach Art. 267 AEUV ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen (vgl. insbesondere Urteil Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28 Es spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. insbesondere Urteil Fish Legal und Shirley, EU:C:2013:853, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Zum einen steht fest, dass der Citiportfolios-Fonds in Luxemburg ansässig ist und seine Anteile in Belgien vertrieben wurden. Zum anderen diente Art. 138 Abs. 2 des Gesetzes vom 4. Dezember 1990 dazu, Art. 45 der OGAW-Richtlinie in belgisches Recht umzusetzen, und Herr Gruslin stützt sich auf diese Vorschriften, um die Aushändigung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zertifikate zu erlangen. Daher ist, wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht ersichtlich, dass die Vorlagefrage, die sich ausschließlich auf die Auslegung dieses Artikels bezieht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde.

30 Daraus folgt, dass die Vorlagefrage zulässig ist.

Beantwortung der Frage

31 Die OGAW-Richtlinie enthält keine Definition des in Art. 45 enthaltenen Begriffs „Zahlungen an die Anteilinhaber“.

32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Bestimmung und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil Fish Legal und Shirley, EU:C:2013:853, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33 Aus den Erwägungsgründen 2 bis 4 der OGAW-Richtlinie geht hervor, dass diese Richtlinie zur Sicherstellung des freien Vertriebs von Anteilen der OGAW in der Union die nationalen Rechtsvorschriften über die OGAW koordinieren soll, um zum einen die Bedingungen für den Wettbewerb zwischen diesen Organismen innerhalb der Union anzugleichen und zum anderen einen wirksameren und einheitlicheren Schutz der Anteilinhaber sicherzustellen. Zu diesem Zweck stellt die Richtlinie gemeinsame Mindestregelungen bezüglich der Zulassung, der Aufsicht, der Struktur, der Geschäftstätigkeit sowie der Informationspflichten für die OGAW auf.

34 Aus Art. 1 Abs. 6 der OGAW-Richtlinie in Verbindung mit ihrem fünften Erwägungsgrund ergibt sich, dass der freie Vertrieb von Anteilen der OGAW in der Union voraussetzt, dass die in einem Mitgliedstaat ansässigen OGAW ihre Anteile in einem anderen Mitgliedstaat vertreiben können, ohne dass dieser sie anderen Bestimmungen unterwerfen dürfte als den in der Richtlinie vorgesehenen.

35 So bedarf ein OGAW nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie zur Ausübung seiner Geschäftstätigkeit der Zulassung durch die Stellen des Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, wobei diese Zulassung für sämtliche anderen Mitgliedstaaten gilt.

36 In diesem Sinne bestimmt Art. 44 Abs. 1 der Richtlinie, dass ein OGAW, der seine Anteile in einem anderen als dem Mitgliedstaat vertreibt, in dem er ansässig ist, die in ersterem Mitgliedstaat geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu beachten hat, die den nicht von der OGAW-Richtlinie geregelten Bereich betreffen.

37 Allerdings sieht Art. 45 der Richtlinie für diesen Fall vor, dass der OGAW u. a. die Maßnahmen treffen muss, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die Anteilinhaber in diesem Staat in den Genuss der Zahlungen, des Rückkaufs und der Rücknahme der Anteile kommen und die von ihm zu liefernden Informationen erhalten. Dort heißt es ferner, dass diese Maßnahmen unter Einhaltung der im Mitgliedstaat des Vertriebs geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften getroffen werden müssen.

38 Aus dem fünften Erwägungsgrund der OGAW-Richtlinie ergibt sich, dass Art. 45 sicherstellen soll, dass Mechanismen vorgesehen werden, die es den Anteilinhabern ermöglichen, ihre finanziellen Rechte im Mitgliedstaat des Vertriebs geltend zu machen, und dass dort die Informationen verbreitet werden, die den Anteilinhabern vom OGAW zur Verfügung gestellt werden müssen.

39 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, auch wenn mit der Zeichnung und dem Besitz von Anteilen eines OGAW eine Vielzahl von Leistungen, die Beobank in ihren Erklärungen anführt, verbunden sein kann, dem Wortlaut des Art. 45 der OGAW-Richtlinie dennoch zu entnehmen ist, dass der OGAW im Mitgliedstaat des Vertriebs nur zur Sicherstellung der Zahlungen an die Anteilinhaber, des Rückkaufs und der Rücknahme der Anteile sowie der Verbreitung von Informationen verpflichtet ist.

40 Daher ist festzustellen, dass es der Unionsgesetzgeber für erforderlich und zugleich ausreichend befunden hat, zur Erreichung eines wirksameren und einheitlicheren Schutzes der Anteilinhaber dem OGAW die Pflicht aufzuerlegen, sicherzustellen, dass die Anteilinhaber im Mitgliedstaat des Vertriebs in den Genuss der in der vorstehenden Randnummer angeführten Leistungen gelangen.

41 Insbesondere enthalten die Bestimmungen der OGAW-Richtlinie, in denen die finanziellen Rechte der Anteilinhaber und die dem OGAW ihnen gegenüber obliegenden Informationspflichten geregelt sind, weder Vorgaben zu den Einzelheiten der Verbriefung, des Besitzes und des Verkehrs von Anteilen eines OGAW noch zum Nachweis des Eigentums an den Anteilen im Hinblick auf die Ausübung der damit verbundenen Rechte durch ihren Inhaber.

42 Wie sowohl der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge als auch die Kommission ausgeführt haben, ist die Form, in der ein Anteil ausgegeben wird, untrennbar mit der Art und Weise verknüpft, in der das Eigentum an Anteilen nachgewiesen werden kann und die damit verbundenen Rechte ausgeübt werden können.

43 In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzuweisen, dass Nr. 1.10 in Spalte 1 („Informationen über den Investmentfonds“) des Schemas A im Anhang der OGAW-Richtlinie die den Anteilinhabern zu erteilenden Auskünfte über die Art und die Hauptmerkmale der vom OGAW auszugebenden Anteile aufführt, wozu die Form ihrer Verbriefung, d. h. ob sie durch eine echte Urkunde, ein Zertifikat oder durch Eintragung in einem Register oder auf einem Konto verkörpert werden, und die Angabe gehört, ob sie als Namens- oder Inhaberpapiere ausgegeben werden.

44 Demnach ist, wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Schluss zu ziehen, dass die OGAW-Richtlinie die genannten Bereiche nicht regelt, sondern sich darauf beschränkt, insoweit eine Pflicht zur Information der Anteilinhaber vorzusehen.

45 Ein Anteilinhaber kann sich daher nicht auf Art. 45 dieser Richtlinie und insbesondere nicht auf die dem OGAW obliegende Verpflichtung, die Zahlungen an die Anteilinhaber im Mitgliedstaat des Vertriebs sicherzustellen, stützen, um von dem Finanzdienst des OGAW die Aushändigung eines Zertifikats über die von ihm gezeichneten Anteile zu erlangen.

46 Diese Auslegung wird durch Art. 19 Abs. 3 Buchst. m der Richtlinie Nr. 2009/65 in Verbindung mit ihrem 22. Erwägungsgrund bestätigt. Daraus geht ausdrücklich hervor, dass der Inhalt des Verzeichnisses der Anteilinhaber, die Organisation der Führung dieses Verzeichnisses und sein Verwahrort entweder den Bestimmungen des Herkunftsmitgliedstaats des OGAW oder den Organisationsbestimmungen der Verwaltungsgesellschaft dieses Organismus unterliegen.

47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die in Art. 45 der OGAW-Richtlinie vorgesehene Verpflichtung, nach der ein OGAW, der seine Anteile in einem anderen als dem Mitgliedstaat vertreibt, in dem er ansässig ist, die Zahlungen an die Anteilinhaber im Mitgliedstaat des Vertriebs sicherstellen muss, dahin auszulegen ist, dass sie nicht die Aushändigung an Anteilinhaber von Zertifikaten über Anteile einschließt, die auf ihren Namen in das vom Emittenten geführte Verzeichnis der Anteilinhaber eingetragen sind.

Kosten

48 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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