R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Steuerrecht
03.11.2016
Steuerrecht
FG Düsseldorf: Vorliegen einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit i. S. d. § 129 AO im Zusammenhang mit der elektronischen Erfassung von Steuererklärungen

FG Düsseldorf, Urteil vom 11.10.2016 – 10 K 1715/16 E

Sachverhalt

Streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 129 AO vorliegen.

Die Kläger sind Ehegatten und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger bezog im Streitjahr 2013 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus zwei unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, nämlich zum einen von der in NRW ansässigen Firma „A GmbH“ einen Bruttoarbeitslohn i.H.v. 1.685,70 € für den Zeitraum 11.02.-05.03.2013 und zum anderen von der in Niedersachsen ansässigen Firma B GmbH einen Bruttoarbeitslohn von 17.717,74 € für den Zeitraum 11.03. - 31.12.2013.

In ihrer handschriftlich ausgefüllten ESt-Erklärung für das Jahr 2013 trugen die Kläger auf der Seite 1 der den Ehemann betreffenden Anlage N zutreffend einen Bruttoarbeitslohn von 19.403 € ein. Auf Seite 2 wurden u.a. Fahrten zu den beiden Arbeitgebern als Werbungskosten erklärt. Die Anlage N enthält keinerlei Anhaltspunkte für eine Bearbeitung durch den Beklagten (wie z.B. Häkchen oder Durchstreichungen).

Mit Bescheid vom 07.10.2014 wurde die Einkommensteuer 2013 auf 0,00 € festgesetzt. Dabei berücksichtigte der Beklagte für den Ehemann lediglich den bei der Firma „A GmbH“ erzielten Bruttoarbeitslohn von 1.685 € nebst der hierauf einbehaltenen Lohnsteuer und der hierauf entfallenden Sozialversicherungsbeiträge. Zudem wurde der Werbungskostenpauschbetrag von 1.000 € angesetzt.

Mit Bescheid vom 24.02.2016 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2013 unter Verweis auf § 129 AO auf 2.404 € fest. In Abweichung zu dem Ausgangsbescheid wurde für den Kläger nunmehr auch der bei der Fa. B GmbH erzielte Bruttoarbeitslohn nebst einbehaltener Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen erfasst. Die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit wurden mit 18.403 € angesetzt (Bruttoarbeitslohn 19.403 € abzüglich Werbungskostenpauschbetrag 1.000 €).

Die Kläger haben sodann Einspruch eingelegt.

Bei den Vorgängen des Einspruchsverfahrens befinden sich Ausdrucke beider elektronischer Lohnsteuerbescheinigungen aus dem Datensystem des Beklagten. Auf dem die Fa. B GmbH betreffenden Ausdruck befindet sich folgender handschriftlicher Vermerk:

„Die Mitteilung wurde nicht landesweit sondern nur bundesweit übermittelt. Aus dem Grund wurde sie bei der Veranlagung nicht zugeordnet.

Diese elektr. Mitteilung lag bei der Veranlagung nicht vor.

Bei der Bearbeitung der Erklärung für 2014 ist der Bearbeiterin aufgefallen, dass das Beschäftigungsverhältnis bereits 2013 bestanden haben musste.

Bei der bundesweiten Suche wurde sie fündig (Sitz des AG außerhalb NRW).“

Zudem befindet sich in der Akte ein Ausdruck aus der EDV des Beklagten, aus dem ersichtlich ist, dass für das Jahr 2013 keine Prüfberechnungen mit Risikohinweisen erfolgt sind.

Der Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 12.05.2016 als unbegründet zurückgewiesen. Es heißt dort u.a. wie folgt:

„Um eine Steuererklärung bearbeiten zu können, wird die Eingabemaske für die Festsetzungsdaten aufgerufen. Es erfolgt eine landesweite programmgesteuerte Suche nach vorliegenden elektronischen Mitteilungen im „eSpeicher“. Die Ergebnisse werden in der „Übersicht eDaten“ angezeigt.

Bei der Bearbeitung der Steuererklärung übernahm der Bearbeiter mit einem Mausklick, ohne die Werte der Steuererklärung zuvor zu erfassen, den elektronisch übermittelten Arbeitslohn des Ehemanns aus der “Übersicht eDaten“, der bei der Veranlagung dem Steuerfall zugeordnet war. Dieser wurde i.H.v. 1.685,70 € übermittelt. Weitere elektronisch übermittelte Lohnsteuerbescheinigungen des Ehemanns waren in der „Übersicht eDaten“ nicht vorhanden.

Da ein vergleichbarer Wert mangels Übernahme der Angaben aus der Steuererklärung nicht vorlag, konnte der Rechner keine Differenz erkennen, folglich wurde kein Risikohinweis bei der Prüfberechnung des Falls angezeigt.

Das Finanzamt erließ am 07.10.2014 einen Einkommensteuerbescheid mit diesem elektronisch übermittelten Arbeitslohn.

Bei Durchführung der Veranlagung für das Jahr 2014 stellte die Bearbeiterin fest, dass aus einem in 2014 bestehenden Arbeitsverhältnis auch 2013 Arbeitslohn zugeflossen sein musste. Da in der “Übersicht eDaten“ nur der bereits erfasste Wert ersichtlich war, suchte sie im bundesweiten Speicher und stellte fest, dass hierin Arbeitslohn aus einem weiteren Arbeitsverhältnis (Sitz des Arbeitgebers außerhalb von Nordrhein-Westfalen) i.H.v. 17.717,74 € elektronisch übermittelt worden war.

...

Der Bearbeiter hat den elektronisch übermittelten Arbeitslohn mit einem Mausklick aus der “Übersicht eDaten“ übernommen. Da der von ihm übernommene Betrag aus keiner anderen Unterlage ersichtlich war, sondern sich nur aus der elektronisch übermittelten Bescheinigung ergibt, kann eine rechtliche Überlegung des Bearbeiters ausgeschlossen werden. Hätte der Bearbeiter eine rechtliche Überprüfung vorgenommen, so wäre die Unrichtigkeit aufgefallen.“

Die Kläger haben sodann Klage erhoben. Sie sind der Ansicht, dass die Voraussetzungen des § 129 AO nicht vorliegen würden.

Nach dem geschilderten Sachverhalt scheine es, als habe der Sachbearbeiter bei der (elektronischen) Bearbeitung der Steuerfestsetzung das Fehlen von weiteren eDaten bezüglich des zweiten Arbeitsverhältnisses überhaupt nicht bemerkt. Dies scheinbar deshalb, weil ein Datensatz aus dem anderen Arbeitsverhältnis gefunden worden sei. Überdies habe das Programm mangels per Elster übertragener Daten aus der Steuererklärung auch keine Differenz feststellen und keinen Prüfhinweis erteilen können. Eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, vom Sachbearbeiter jedoch – ggfs. unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht - unterlassene Sachverhaltsermittlung sei jedoch kein mechanisches Versehen (Verweis auf Beschluss des FG Niedersachsen vom 28.07.2014 - 3 V 226/14, EFG 2014, 1743). Im Streitfall handele es sich bei dem Nichtauffinden übertragener Lohnsteuerdaten bzw. der unterlassenen Übernahme dieser Daten aus der handschriftlichen Steuererklärung in die Steuerfestsetzung weder um fehlerhaft übertragene Lohnsteuerdaten noch sonst um Schreibfehler, Rechenfehler oder um ähnlich offenbare Fehler im Sinne des § 129 AO.

Sie - die Kläger - hätten den Arbeitslohn vollständig und richtig im Rahmen ihrer Steuererklärung erklärt. Auch hätten die Arbeitgeber alle erforderlichen Lohnsteuerdaten übermittelt. Der Sachbearbeiter habe die Sachverhaltsermittlung schlicht unterlassen, indem er die ihm vorliegende handschriftliche Steuererklärung nicht ausgewertet oder die in den eSpeicher übermittelten Lohnsteuerdaten nicht übernommen habe.

Die Kläger beantragen,

1. den Einkommensteuerbescheid 2013 vom 24.02.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.05.2016 aufzuheben,

2. hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er weist darauf hin, dass bei der Bearbeitung einer handschriftlich gefertigten, nicht elektronisch übermittelten Steuererklärung zunächst die dem Finanzamt elektronisch übermittelten Daten (z.B. Arbeitslohn, Vorsorgeaufwendungen) per Mausklick übernommen würden, um eine zeitaufwändige manuelle Eingabe der Zahlen zu vermeiden. Der Sachbearbeiter habe davon ausgehen müssen, dass bei der Übernahme des Arbeitslohns aus dem eDaten-Speicher der zutreffende Arbeitslohn versteuert werde. Für eine weitere Überprüfung bestand kein Anlass, da ein entsprechender Hinweis zur Überprüfung nicht ausgegeben worden sei. Somit liege, entgegen der Auffassung der Kläger, keine Verletzung der Amtsermittlungspflicht vor.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die vorgelegte Steuerakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Aus den Gründen

Der Einkommensteuerbescheid 2013 vom 24.02.2016 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Der Beklagte war berechtigt, den Bescheid vom 07.10.2014 zu ändern. Denn bei der Nichtberücksichtigung der von der B GmbH mitgeteilten Besteuerungsgrundlagen handelte es sich um eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 AO.

1. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.

a) "Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten" sind einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliche mechanische Versehen, die etwa bei Eingabe- oder Übertragungsfehlern vorliegen. So können Fehler bei Eintragungen in Eingabewertbögen für die automatische Datenverarbeitung als rein mechanische Versehen ähnliche offenbare Unrichtigkeiten sein, etwa bei einem unbeabsichtigten unrichtigen Ausfüllen des Eingabebogens oder bei Irrtümern über den tatsächlichen Ablauf des maschinellen Verfahrens bzw. bei der Nichtbeachtung der für das maschinelle Veranlagungsverfahren geltenden Dienstanweisung, bei Verwendung falscher Schlüsselzahlen oder beim Übersehen notwendiger Eintragungen.

b) In den Bereich der Willensbildung fallende Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen, schließen die Anwendung des § 129 Satz 1 AO aus. Besteht eine mehr als nur theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums, so liegt kein bloßes mechanisches Versehen und damit auch keine offenbare Unrichtigkeit mehr vor, ebenso nicht bei einer unrichtigen Tatsachenwürdigung, bei der unzutreffenden Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder bei Fehlern, die auf mangelnder Sachaufklärung beruhen. An einer offenbaren Unrichtigkeit i.S.d. § 129 AO fehlt es auch dann, wenn Gesetzesnormen nicht oder falsch angewendet worden sind.

c) Da der Wortlaut des § 129 Satz 1 AO auf "offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind" abstellt, kommt es entscheidend auf die Umstände bei der Entscheidungsfindung und demzufolge vornehmlich auf den Akteninhalt an. Maßgebend ist deshalb, ob der Fehler bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen (objektiven) Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist. Ob ein mechanisches Versehen, ein Irrtum über den Programmablauf oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls und dabei insbesondere nach der Aktenlage beurteilt werden (vgl. zu 1a bis 1c BFH, Urteil vom 07.11.2013 – IV R 13/11, BFH/NV 2014, 657 m.w.N.).

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze beruht die vollständige Nichterfassung sämtlicher in der von der B GmbH ausgestellten elektronischen Lohnsteuerbescheinigung ausgewiesenen Besteuerungsgrundlagen (Bruttoarbeitslohn, einbehaltene Lohnsteuer, Sozialversicherungsbeiträge) auf einer „ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit“ im Sinne des § 129 AO.

Für einen verständigen Dritten ist bei Einsichtnahme in die vorliegende Einkommensteuerakte ohne Weiteres ersichtlich, dass u.a. der in dem Steuerbescheid vom 07.10.2014 erfasste Arbeitslohn ohne erkennbaren Grund von den erklärten Angaben abweicht. Dass der Sachbearbeiter anhand von - wie auch immer gearteten - rechtlichen Überlegungen zu dem Schluss gekommen sein könnte, dass das Arbeitsverhältnis bei der B GmbH steuerlich unbeachtlich ist und der Arbeitslohn nebst Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen deshalb von ihm bewusst und gewollt außer Ansatz gelassen wurde, erscheint ausgeschlossen. Ein derartiger Schluss ist völlig lebensfremd und wird auch durch keinerlei entsprechende Bearbeitungsvermerke (wie z.B. Durchstreichungen auf der Anlage N) getragen.

Vielmehr drängt sich einem verständigen Dritten bei Durchsicht der Steuerakte geradezu auf, dass dem Sachbearbeiter offensichtlich gar nicht bewusst war, dass der Kläger aus zwei Arbeitsverhältnissen Arbeitslohn bezogen hat. Der Umstand, dass sämtliche von der „A GmbH“ übermittelten Daten erfasst wurden, zeigt, dass der Sachbearbeiter die zugehörige elektronische Lohnsteuerbescheinigung aus dem eSpeicher abgerufen hat. Denn anders hätte er die Einzelbesteuerungsgrundlagen, die in der Steuererklärung der Kläger lediglich kumuliert aufgeführten waren, nicht ermitteln können. Gerade der Umstand, dass nur die Daten aus einer einzigen elektronischen Lohnsteuerbescheinigung Eingang in den Steuerbescheid gefunden haben, zeigt, dass sich die Daten aus der weiteren elektronischen Lohnsteuerbescheinigung offensichtlich – wie auch vom Beklagten vorgetragen – nicht in dem abgerufenen eSpeicher befanden. Denn bei einem Datenabruf besteht typischerweise der Wille, sämtliche vorhandene Daten abzurufen, und es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Sachbearbeiter im hier vorliegenden Fall einen abweichenden Willen hatte. Vielmehr ging er offensichtlich davon aus, durch den Datenabruf sämtliche relevanten Lohndaten erfasst zu haben. Damit aber liegt letztlich bloß ein Eingabefehler vor, welcher nach § 129 AO berichtigt werden kann.

Dass dem Sachbearbeiter bei sorgfältigerer Bearbeitung der Steuererklärung - insbesondere bei einem Abgleich der von den Klägern erklärten Werte mit den aus dem eSpeicher abgerufenen Werten – hätte auffallen können und sollen, dass der Arbeitslohn u.a. nicht vollständig erfasst war, führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn § 129 AO ist nicht von Verschuldensfragen abhängig, weshalb die oberflächliche Behandlung eines Steuerfalls eine Berichtigung nach dieser Vorschrift grundsätzlich nicht hindert (vgl. BFH, Urteil vom 07.11.2013 – IV R 13/11, BFH/NV 2014, 657).

Lediglich dann, wenn sich die Unachtsamkeiten bei der Bearbeitung des Falls häufen und Zweifeln, die sich aufdrängen mussten, nicht nachgegangen wird, ist die Anwendung von § 129 AO ausgeschlossen (BFH, Urteil vom 04.11.1992 - XI R 40/91, BFH/NV 1993, 509). So verhält es sich im Streitfall jedoch nicht. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass der Sachbearbeiter überhaupt erkannt hat, dass die aus dem eSpeicher abgerufenen Daten von den erklärten Werten abwichen. Ein entsprechender Prüfhinweis wurde nicht erteilt, so dass es auch keine konkrete Veranlassung gab, irgendetwas näher zu prüfen. Wenn der Sachbearbeiter die Abweichung jedoch gar nicht erkannt hat, dann konnten sich ihm insoweit auch keine Zweifel aufdrängen.

Ob sich die offenbare Unrichtigkeit zu Gunsten oder zu Lasten des Steuerpflichtigen ausgewirkt hat, ist für die Anwendung von 129 AO ohne Bedeutung. § 129 AO wäre daher z.B. auch dann anwendbar, wenn das Finanzamt von der Krankenkasse übermittelte Krankenversicherungsbeiträge oder andere sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirkende Daten im eSpeicher übersieht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wurde im Hinblick auf die zunehmend elektronische Erfassung von Steuererklärungen zwecks Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.

stats