R&W Abo Buch Datenbank Veranstaltungen Betriebs-Berater
 
Steuerrecht
02.02.2012
Steuerrecht
EuGH: USt-Bemessungsgrundlage bei Preisnachlass nach Bewirkung des Umsatzes

EuGH, Urteil vom 26.1.2012 - C-588/10, Minister Finansów/Kraft Foods Polska SA

Tenor

Ein Erfordernis, wonach die Minderung der sich aus der ursprünglichen Rechnung ergebenden Bemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, fällt unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem.

Die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit stehen einem solchen Erfordernis grundsätzlich nicht entgegen. Erweist es sich jedoch für den Steuerpflichtigen, den Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen, als unmöglich oder übermäßig schwer, binnen angemessener Frist eine solche Empfangsbestätigung zu erhalten, kann ihm nicht verwehrt werden, vor den Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass er zum einen die unter den Umständen des konkreten Falles erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, um sich zu vergewissern, dass der Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen im Besitz der berichtigten Rechnung ist und von ihr Kenntnis genommen hat, und dass zum anderen der fragliche Umsatz tatsächlich entsprechend den in der berichtigten Rechnung angegebenen Bedingungen getätigt worden ist.

Aus den Gründen

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Steuerneutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Minister Finansów (polnischer Minister für Finanzen) und der Kraft Foods Polska SA (im Folgenden: KFP) wegen einer Einzelfallauslegung für KFP, in der unter Berücksichtigung der nationalen Regelung festgestellt wurde, dass die Minderung der Steuerbemessungsgrundlage und des Betrags der geschuldeten Mehrwertsteuer auf der Grundlage einer berichtigten Rechnung für den Vertragspartner rechtswidrig sei, wenn KFP bei Abgabe der Erklärung über die Mehrwertsteuer nicht im Besitz einer von diesem Vertragspartner übermittelten Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung sei.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In Art. 1 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist."

4

Art. 73 dieser Richtlinie lautet: „Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen."

5

Art. 79 der Richtlinie sieht vor:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente nicht einzubeziehen:

a) Preisnachlässe durch Skonto für Vorauszahlungen;

b) Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis, die dem Erwerber oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem der Umsatz bewirkt wird;

c) Beträge, die ein Steuerpflichtiger vom Erwerber oder vom Dienstleistungsempfänger als Erstattung der in ihrem Namen und für ihre Rechnung verauslagten Beträge erhält und die in seiner Buchführung als durchlaufende Posten behandelt sind.

Der Steuerpflichtige muss den tatsächlichen Betrag der in Absatz 1 Buchstabe c genannten Auslagen nachweisen und darf die Mehrwertsteuer, die auf diese Auslagen gegebenenfalls erhoben worden ist, nicht als Vorsteuer abziehen."

6

Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert."

7

Art. 273 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen."

8

Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.

Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden."

Nationales Recht

9

Art. 29 Abs. 4a bis 4c des Gesetzes über die Steuer auf Umsätze von Gegenständen oder Dienstleistungen vom 11. März 2004 (ustawa z dnia 11 marca 2004 r. o podatku od towarów i usług) (Dz. U. Nr. 54, Pos. 535 mit Änderungen, im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) sieht vor:

„(4a) Vermindert sich die Bemessungsgrundlage im Verhältnis zu der in der ausgestellten Rechnung festgelegten Grundlage, nimmt der Steuerpflichtige die Minderungen der Bemessungsgrundlage unter der Bedingung vor, dass er vor Ablauf der Frist zur Abgabe der Steuererklärung für den Steuerzeitraum, in dem der Erwerber der Ware oder Dienstleistung die berichtigte Rechnung erhalten hat, eine Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung durch den Erwerber der Ware oder Dienstleistung, für die die Rechnung ausgestellt wurde, besitzt. Erhält der Steuerpflichtige die Bestätigung, dass der Erwerber der Ware oder Dienstleistung die berichtigte Rechnung erhalten hat, nach Ablauf der Frist zur Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Steuerzeitraum, kann er die berichtigte Rechnung in dem Steuerzeitraum berücksichtigen, in dem er die Bestätigung erhalten hat.

(4b) Die Bedingung, dass der Steuerpflichtige eine Bestätigung des Erhalts der Rechnung durch den Erwerber der Ware oder Dienstleistung besitzt, gilt nicht

1. im Fall der Ausfuhr von Waren, der innergemeinschaftlichen Lieferung von Waren oder der Lieferung von Waren, deren Ort der Besteuerung sich im Ausland befindet;

2. in Bezug auf Erwerber, an die elektrische oder thermische Energie, Leitungsgas, Telekommunikations- oder Funkdienste oder die in den Pos. 138 und 153 des Anhangs Nr. 3 zu diesem Gesetz erwähnten Dienstleistungen verkauft werden.

(4c) Abs. 4a gilt entsprechend, wenn ein Fehler hinsichtlich des Steuerbetrags in der Rechnung festgestellt und eine Rechnungsberichtigung vorgenommen wird, für die Rechnung, in der ein höherer als der geschuldete Steuerbetrag ausgewiesen worden ist."

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

KFP ist im Bereich der Erzeugung und des Vertriebs von Lebensmitteln tätig. Im Rahmen des Verkaufs ihrer Erzeugnisse an viele Vertragspartner stellt sie eine erhebliche Zahl von Rechnungen und berichtigten Rechnungen aus, wobei Letztere u. a. wegen der Einräumung von Rabatten, der Rückgabe von Waren und bei Fehlern erteilt werden.

11

Es passiert sehr häufig, dass KFP die Bestätigungen des Erhalts berichtigter Rechnungen von den Erwerbern mit erheblicher Verspätung oder überhaupt nicht erhält. Um solche Empfangsbestätigungen zu erhalten, ist häufig die Übersendung von Erinnerungen, Schriftverkehr und die Einführung einer Überwachung des Eingangs dieser Empfangsbestätigungen notwendig.

12

KFP meinte, dass sie zur Minderung der Bemessungsgrundlage und des Betrags der geschuldeten Steuer auf der Grundlage der berichtigten Rechnung berechtigt sei, die der Steuererklärung für den Zeitraum, in dem diese Rechnung ausgestellt worden sei, zugrunde liege, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Abgabe dieser Erklärung nicht im Besitz der Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung gewesen sei, und beantragte deswegen beim Minister Finansów eine Bestätigung ihrer Auslegung von Art. 29 des Umsatzsteuergesetzes.

13

In der Einzelfallauslegung vom 10. April 2009 vertrat der Minister Finansów die Auffassung, dass nach grammatikalischer Auslegung von Art. 29 Abs. 4a des Gesetzes die Minderung der vom Verkäufer geschuldeten Mehrwertsteuer zur Bedingung habe, dass dieser eine vom Erwerber übermittelte Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung besitze, und dass insoweit praktische Schwierigkeiten, die KFP haben könne, um diese Empfangsbestätigung zu erhalten, keine Rolle spielten.

14

Nach erfolgloser Verwaltungsbeschwerde befasste KFP den Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Verwaltungsgericht Warschau) mit der Sache und machte eine Verletzung erstens von Art. 29 Abs. 4a und 4c des Umsatzsteuergesetzes in Verbindung mit den Art. 73 und 79 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Form eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, zweitens des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, drittens des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und viertens der Verfahrensvorschriften im Hinblick u. a. auf die Nichtanwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs geltend.

15

Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie war einerseits der Auffassung, dass nach Art. 29 Abs. 4a des Umsatzsteuergesetzes der Steuerpflichtige, der die Bemessungsgrundlage mindern wolle, den Nachweis erhalten haben müsse, dass dem Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen die berichtigte Rechnung übermittelt worden sei.

16

Andererseits meinte er jedoch, dass Art. 29 Abs. 4a gegen Unionsrecht verstoße, weil die Art. 73 bis 92 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Verpflichtung zum Besitz einer Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung vorsähen und die Einführung einer solchen Verpflichtung durch den nationalen Gesetzgeber den Grundsätzen der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit zuwiderliefe. Diese Vorschrift habe nämlich zur Folge, dass die tatsächliche geminderte Bemessungsgrundlage nicht berücksichtigt werde, und stelle formale Anforderungen auf, die über das hinausgingen, was zur Kontrolle eventueller Missbräuche erforderlich sei.

17

Der Minister Finansów legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein. Seiner Ansicht nach hat der nationale Gesetzgeber mit dem von ihm aufgestellten Erfordernis einer Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung nur von der ihm durch die Mehrwertsteuerrichtlinie eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, Formen und Mittel zur Umsetzung des Rechts auf Minderung der Bemessungsgrundlage festzulegen. Dieses Erfordernis solle die Ordnungsmäßigkeit der Umsätze gewährleisten und verletze weder den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer noch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

18

Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist im Hinblick darauf, dass nach Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fall des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert wird, im Begriff dieser Bedingungen eine Bedingung enthalten, wie sie in Art. 29 Abs. 4a des Umsatzsteuergesetzes vorgesehen ist, die das Recht auf Minderung der Bemessungsgrundlage im Verhältnis zu der in der ausgestellten Rechnung festgelegten Grundlage davon abhängig macht, dass der Steuerpflichtige vor Ablauf der Frist zur Abgabe der Steuererklärung für den Steuerzeitraum, in dem der Erwerber der Ware oder Dienstleistung die berichtigte Rechnung erhalten hat, eine Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung durch den Erwerber der Ware oder Dienstleistung, für die die Rechnung ausgestellt wurde, besitzt, und verstößt eine solche Bedingung auch nicht gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit?

Zur Vorlagefrage

19

Mit der Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Erfordernis, wonach die Minderung der sich aus der ursprünglichen Rechnung ergebenden Bemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt und ob die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit einem solchen Erfordernis entgegenstehen.

20

Zu der Frage, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 2 und Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf dem Grundsatz beruht, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen eine allgemeine zu ihrem Preis genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist, und dass die Steuerbemessungsgrundlage alles umfasst, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für die betreffenden Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll.

21

Für Fälle eines Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes bestimmt Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass „die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert [wird]".

22

Ferner können nach Art. 273 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten die Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern die Gleichbehandlung der vom Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und der innergemeinschaftlichen Umsätze gewahrt ist, diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen und diese Möglichkeit nicht dazu genutzt wird, zusätzlich zu den in Kapitel 3 der Richtlinie genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.

23

Da Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie außer den von ihnen festgelegten Grenzen weder die Bedingungen noch die Pflichten angeben, die die Mitgliedstaaten vorsehen können, räumen sie den Mitgliedstaaten ein Ermessen insbesondere in Bezug auf die vom Steuerpflichtigen gegenüber den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu erfüllenden Formalitäten ein, wenn im Fall eines Preisnachlasses nach Bewirkung des Umsatzes die Steuerbemessungsgrundlage entsprechend vermindert werden soll.

24

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die im Ausgangsverfahren fraglichen polnischen Vorschriften bei einem Preisnachlass nach Bewirkung des Umsatzes die entsprechende Minderung der Steuerbemessungsgrundlage davon abhängig machen, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Waren oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, und dass dieses Erfordernis, wie insbesondere die polnische Regierung geltend macht, die genaue Erhebung der Steuer sicherstellen und Steuerhinterziehungen verhindern soll.

25

Ein solches Erfordernis fällt sowohl unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch unter den Begriff der Pflicht im Sinne von Art. 273 dieser Richtlinie.

26

Zu der Frage, ob die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit diesem Erfordernis entgegenstehen, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Steuerbemessungsgrundlage und mithin den Betrag der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer immer dann zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach der Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält (vgl. Urteil vom 3. Juli 1997, Goldsmiths, C‑330/95, Slg. 1997, I‑3801, Randnr. 16).

27

Diese Bestimmung ist Ausdruck eines fundamentalen Grundsatzes der Mehrwertsteuerrichtlinie, nach dem Bemessungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist und aus dem folgt, dass die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen Betrag erheben darf, der den dem Steuerpflichtigen gezahlten übersteigt (vgl. in diesem Sinne Urteil Goldsmiths, Randnr. 15).

28

Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass die Maßnahmen, die geeignet sind, Steuerhinterziehungen zu verhindern, grundsätzlich von der Wahrung der Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nur insoweit abweichen dürfen, als dies für die Erreichung dieses spezifischen Ziels erforderlich ist. Denn sie dürfen die Ziele und Grundsätze der Mehrwertsteuerrichtlinie nur so wenig wie möglich beeinträchtigen und daher nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen, die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Goldsmiths, Randnr. 21, vom 18. Juni 2009, Stadeco, C‑566/07, Slg. 2009, I‑5295, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 27. Januar 2011, Vandoorne, C‑489/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 27).

29

Wird die Erstattung der Mehrwertsteuer in Anbetracht der Bedingungen, unter denen Anträge auf Steuererstattungen gestellt werden können, unmöglich oder übermäßig erschwert, können die genannten Grundsätze folglich gebieten, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Steuerpflichtigen ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (Urteil Stadeco, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Ferner hat der Gerichtshof in Bezug auf die nach Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestehende Möglichkeit, vorzusehen, dass der Mehrwertsteuerüberschuss entweder auf den folgenden Steuerzeitraum übertragen oder erstattet wird, klargestellt, dass die von den Mitgliedstaaten insoweit festgelegten Einzelheiten den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. (Urteil vom 28. Juli 2011, Kommission/Ungarn, C‑274/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 45).

31

Der Gerichtshof hat hervorgehoben, dass diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben müssen, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt (Urteil Kommission/Ungarn, Randnr. 45).

32

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass der Umstand, dass der Lieferer von Gegenständen oder Dienstleistungen im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, geeignet ist, nachzuweisen, dass Letzterer darüber unterrichtet ist, dass er seinen eventuellen Anspruch auf Vorsteuerabzug auf der Grundlage dieser berichtigten Rechnung berechnen muss.

33

Das fragliche Erfordernis kann grundsätzlich dazu beitragen, sowohl die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen als auch die Steuerhinterziehung und die Gefährdung des Steueraufkommens zu vermeiden. Somit kann die Republik Polen zu Recht geltend machen, dass dieses Erfordernis die in Art. 90 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten legitimen Ziele verfolge.

34

Vor dem Gerichtshof hat die Republik Polen ausgeführt, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis zum einen nur auf Inlandsumsätze angewandt werde und zum anderen keinem Formerfordernis unterliege und daher durch jedes geeignete Mittel erfüllt werden könne. Es könne davon ausgegangen werden, dass dieses Erfordernis eine grundsätzlich nicht übermäßige Belastung für den Steuerpflichtigen, den Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen, darstelle.

35

KFP hat jedoch in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass die Verwaltung in der Praxis nur eine besondere Form der Empfangsbestätigung, nämlich eine Kopie der berichtigten Rechnung, auf der ein Stempel des Erwerbers der Gegenstände oder Dienstleistungen angebracht sei, akzeptiere.

36

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, welche Formen von Empfangsbestätigungen die Verwaltung als Nachweis akzeptiert, dass das im Ausgangsverfahren fragliche Erfordernis eingehalten ist.

37

Da der Besitz der fraglichen Empfangsbestätigung es dem Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen ermöglicht, die geschuldete Mehrwertsteuer auf der Grundlage der in der berichtigten Rechnung ausgewiesenen Beträge zu berechnen oder den gesamten an die Steuerverwaltung abgeführten Mehrwertsteuerüberschuss zurückzuerlangen, stellt dieses Erfordernis den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage.

38

Da jedoch der Besitz einer Empfangsbestätigung nach dem innerstaatlichen Recht eine unerlässliche Bedingung für die Berechnung der geschuldeten Mehrwertsteuer auf der Grundlage der in der berichtigten Rechnung ausgewiesenen Beträge oder die Rückerlangung des abgeführten Mehrwertsteuerüberschusses ist, wird die Neutralität der Mehrwertsteuer unter Berücksichtigung der in den Randnrn. 29 bis 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beeinträchtigt, wenn es dem Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, eine solche Empfangsbestätigung innerhalb einer angemessenen Frist zu erhalten.

39

Hierzu hat KFP vorgetragen, ohne dass ihr insoweit widersprochen worden ist, dass das polnische Recht für den Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen keine rechtlich bindende Verpflichtung vorsehe, den Erhalt einer berichtigten Rechnung zu bestätigen, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist.

40

Wird für den Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen die Rückerlangung des Mehrwertsteuerüberschusses, der auf der Grundlage der ursprünglichen Rechnung an die Steuerverwaltung abgeführt worden ist, binnen angemessener Frist aufgrund der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bedingung unmöglich oder übermäßig erschwert, gebieten die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit, dass der betreffende Mitgliedstaat dem Steuerpflichtigen erlaubt, vor den nationalen Steuerbehörden mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass er zum einen die unter den Umständen des konkreten Falles erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, um sich zu vergewissern, dass der Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen im Besitz der berichtigten Rechnung ist und von ihr Kenntnis genommen hat, und dass zum anderen der fragliche Umsatz tatsächlich entsprechend den in der berichtigten Rechnung angegebenen Bedingungen getätigt worden ist.

41

Hierzu können Kopien der berichtigten Rechnung oder der Erinnerung an den Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen, eine Empfangsbestätigung zu übersenden, und, wie KFP in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, ohne dass ihr insoweit widersprochen worden ist, Zahlungsnachweise oder der Nachweis entsprechender Buchungen dienen, mit denen der vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen an den Steuerpflichtigen aufgrund des fraglichen Umsatzes tatsächlich gezahlte Betrag identifiziert werden kann.

42

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten:

-  Ein Erfordernis, wonach die Minderung der sich aus der ursprünglichen Rechnung ergebenden Bemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, fällt unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie;

-  die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit stehen einem solchen Erfordernis grundsätzlich nicht entgegen. Erweist es sich jedoch für den Steuerpflichtigen, den Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen, als unmöglich oder übermäßig schwer, binnen angemessener Frist eine solche Empfangsbestätigung zu erhalten, kann ihm nicht verwehrt werden, vor den nationalen Steuerbehörden mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass er zum einen die unter den Umständen des konkreten Falles erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, um sich zu vergewissern, dass der Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen im Besitz der berichtigten Rechnung ist und von ihr Kenntnis genommen hat, und dass zum anderen der fragliche Umsatz tatsächlich entsprechend den in der berichtigten Rechnung angegebenen Bedingungen getätigt worden ist.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

stats